Auf dem Schrottplatz der Geschichte arbeitet und philosophiert eine illustre Gesellschaft: Ein ehemaliger Staatsanwalt, ein abgesetzter Bibliotheksdirektor, ein Professor und der „Milchmann“ als Vertreter der von den seit 1948 allein regierenden Kommunisten entmachteten Unternehmerklasse. Die zentralen Figuren von Jiří Menzels Film „Lerchen am Faden“ (Skřivánci na niti, 1969) sind aber der junge Arbeiter Pavel und Jitka aus der Strafbrigade der Frauen, zwischen denen sich eine zarte Liebe entwickelt. Ihre naive Vorfreude auf das gemeinsame Leben wird auch dann nicht getrübt, als Pavel zu langen Jahren verschärfter Zwangsarbeit verurteilt wird. In der letzten Einstellung des Films sieht man ihn in den endlos scheinenden Schacht einer Grube einfahren, seine Augen in der wachsenden Dunkelheit strahlend.
„Lerchen am Faden“ kam 1969 nicht mehr in die tschechoslowakischen Kinos, sondern wanderte direkt in den Giftschrank. Erst zwanzig Jahre später erhielt der Film die verdiente Aufmerksamkeit. 1990 wurde er mit dem Goldenen Bären der Internationalen Filmfestspiele Berlin ausgezeichnet.
Jiří Menzel (1938), ein Vertreter der „Nouvelle Vague“ des tschechoslowakischen Kinos der 1960er Jahre, ist am 5. September 2020 gestorben. Er war nicht nur Filmemacher, er wirkte auch als Schauspieler und Theaterregisseur. International bekannt geworden ist er aber mit seinen Filmen, die das Bild von „den Tschechen“ und ihrem Umgang mit den (häufig genug ungünstigen) Zeitläufen geprägt haben. Ein großer Teil seiner Filme spielt in der nicht allzu fernen Vergangenheit, in der späten Habsburgermonarchie, den Jahren der deutschen Okkupation und, wie „Lerchen am Faden“, während der stalinistischen „Aufbauzeit“. Die „große Geschichte“ ist voller Zumutungen; so wie Menzels Figuren sie nehmen, lässt sie sich aber irgendwie aushalten und im Rückblick sogar komisch erzählen.[1]
Terror und Komik
„Lerchen am Faden“ ist vielleicht der am wenigsten komische unter Menzels Filmen, auch wenn der Ort der Handlung – die mit zahlreichen stalinistischen Spruchbändern dekorierten Schrottberge – als eine einizige groteske Übertreibung erscheint. Schreibmaschinen und Kreuze, die zu Stahl eingeschmolzen werden, verweisen aber ebenso deutlich auf den historischen Kontext der Repression und Verfolgung nach 1948 wie die Lebensgeschichten der Häftlinge. Sie kamen aufgrund ihrer Klassenzugehörigkeit, ihres Berufs oder eines ungünstigen Zufalls ins Lager und verschwinden nach kleinen Akten des Widerstands in einem Auto der Staatssicherheit. So auch Pavel nach seiner unschuldigen Frage: „Wo ist der Milchmann?“.
Die literarische Grundlage für „Lerchen am Faden“ hatte Menzel in Bohumil Hrabals Roman „Verkaufe Haus, in dem ich nicht mehr wohnen will“ gefunden.[2] Auch sein erster abendfüllender Spielfilm von 1966 basierte auf einer Hrabal-Novelle. „Scharf überwachte Züge“ (Ostře sledované vlaky) – der platte bundesdeutsche Kinotitel lautete „Liebe nach Fahrplan“ – erhielt 1968 den Oscar für den besten ausländischen Film. Er spielt während der deutschen Besatzung der Tschechoslowakei in einem Provinzbahnhof, in dem der junge Miloš seinen Dienst antritt, um dem Vorbild seiner Vorväter zu folgen und möglichst wenig zu tun. Diese Aufgabe in gutsitzender Uniform zu erfüllen, fällt Miloš weniger schwer, als die erotischen Herausforderungen zu bewältigen, die sich angesicht der Ereignislosigkeit der Tage in der Bahnstation in den Vordergrund schieben. Ist nach seinem Selbstmordversuch in einem Stundenhotel die Hürde des ersten Mals dann doch endlich genommen, kann Miloš über sich hinauswachsen. Durch einen Sabotageakt auf einen deutschen Munitionstransport wird er eher zufällig zum Helden des Widerstands.
Der Bahnhof in „Scharf überwachte Züge“ ist von skurrilen Figuren bevölkert, die den Vergleich zum tschechischen Ur-Pazifisten Švejk förmlich aufdrängen. Aber hier ist der Krieg weniger wichtig als die Taubenzucht und die Liebe und er ist für die Deutschen wohl auch schon verloren. So erscheinen auch die Repräsentanten und Handlanger des NS-Regimes fast menschlich.[3] Die Wehrmachtssoldaten lassen Miloš laufen, als sie die frischen Narben an seinen Handgelenken sehen, und den Elogen des tschechischen Faschisten Zedniček auf die Größe von Führer und Reich fehlt der rechte Schwung.
Die Hauptfigur der letzten Hrabal-Verfilmung Menzels „Ich habe den englischen König bedient“ (Obsluhoval jsem anglického krále, 2006) wird weder aus eigener Entscheidung noch nebenbei zum Helden. Alles, was der kleine Kellner Jan Dítě erreichen möchte, ist Millionär zu werden. Das gelingt ihm nicht nur, er bringt es sogar noch viel weiter: Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges besitzt der überzeugte Opportunist Dítě ganze 15 Millionen Kronen, für die er nach der kommunistischen Machtübernahme 15 Jahre Haft erhält.
In „Ich habe den englischen König bedient“ treibt Menzel das komische Erzählen des Schrecklichen auf die Spitze. Zwar hat der Film durch die Perspektive des Rückblicks einen melancholischen Grundton, doch vor allem die Szenen, die in der NS-Zeit spielen, sind burlesk. Im Luxushotel, in dem sich während der Jahre der Ersten Tschechoslowakischen Republik schwerreiche Männer mit Prostituierten bei Fressgelagen amüsierten, werden nun germanische Blondinen und SS-Hengste aufeinander losgelassen. Die verstümmelten deutschen Soldaten, die ihnen als Bewohner des Hotels folgen, wirken eher grotesk als traumatisiert. Nur in einigen wenigen Szenen blitzt das Grauen des Kriegs und der Besatzungsherrschaft auf, etwa wenn Dítě, beim Produzieren arierwürdigen Spermas, die Gesichter der Studenten vor dem inneren Auge erscheinen, die im Zuge der nationalsozialistischen „Sonderaktion“ vom 17. November 1939 hingerichtet werden.
Sex, Völlerei und die tschechische Provinz
Eine der prächtigsten Szenen des Films ist das Festessen für den abessinischen König im feinsten Hotel Prags, bei dem die geladenen tschechischen Honoratioren angesichts der gereichten exotischen Köstlichkeiten zu tanzen beginnen. Gutes Essen in großen Mengen, noch mehr Bier und erotische Anziehungskraft nehmen in allen Menzel-Filmen einen wichtigen Platz ein. In den Werken aus den 1980er Jahren, die in der Gegenwart spielen, werden sie nachgerade zum Daseinszweck. So lässt Menzel den Doktor in „Heimat, süße Heimat“ (Vesničko má středisková, 1986) sinnieren: „Viel ist uns ja nicht geblieben. Aber wir haben noch ein paar schöne Wälder, das Bier ist gut hier und unsere Frauen sind die Schönsten.“[4] In „Das Wildschwein ist los“ (Slavnosti sněženek 1983), einer weiteren Hrabal-Verfilmung, versöhnen sich zwei Jagdverbände über dem mehrgängigen Menü, das aus einer erlegten Wildsau zubereitet wird. Sind die Männer in diesem Film durchweg Kindsköpfe, die viel reden und wenig zustande bringen, treten sie in „Heimat, süße Heimat“ in unterschiedlichen Varianten des nie richtig erwachsen gewordenen Mannes auf. Es gibt schlitzohrige Funktionäre, missgünstige Kollegen und schlagende Ehemänner. Und sicher auch sonst so manches zu kritisieren, das deutet die über Müllberge schweifende Kamera an. Aber letztlich ist es doch ein gutes Leben in Böhmen, mit seinen weiten Feldern, alten Dörfern und gut gefüllten Kneipen. Der Seufzer, „möge es doch so bleiben“, liegt unausgesprochen in der Luft.
Kritiker*innen haben Jiří Menzel vorgeworfen, Hrabal mit seinen filmischen Adaptionen das Rohe, Sperrige genommen und die Vergangenheit weichgezeichnet zu haben. Von den Vertreter*innen der „Neuen Tschechoslowakischen Welle“ war Menzel ohne Zweifel der am wenigsten experimentelle, weit entfernt von der Wildheit Věra Chytilovás oder der Polemik Miloš Formans und immer näher am Publikumsgeschmack. Menzels Filme sind nostalgisch – selbst wenn sie von der Gegenwart handeln – sein Blick auf den Menschen bleibt mild, auch wenn er sie in denkbar ungünstigen Situationen zeigt.
Mit Bohumil Hrabal verband Menzel nicht nur eine lebenslange Freundschaft, sondern auch die Bereitschaft, sich auf einen Kompromiss mit dem Regime einzulassen, der auf das gewaltsame Ende des „Prager Frühlings“ folgte. So konnte er nach einer Unterbrechung auch während der „Normalisierungszeit“ in der Tschechoslowakei arbeiten. Viele Tschech*innen erkannten sich in seinen Filmen aus diesen Jahren wieder: Im Rückzug ins Wochenendhäuschen, im Umgang mit den Zumutungen des Alltags und in der Sehnsucht nach alten, besseren Zeiten. Aber auch im Ausland feierte Menzel weiterhin Erfolge: „Heimat, süße Heimat“ erhielt 1986 eine Oscar-Nominierung, „Ich habe den englischen König bedient“ als Wettbewerbsbeitrag auf der Berlinale 2007 viele überschwängliche Kritiken. Dass die seinerzeit schon bekannte Julia Jentsch die Rolle der sudetendeutschen Ehefrau des Kellners Dítě spielte, war dafür weniger entscheidend als die wundervolle Respektlosigkeit Menzels im Umgang mit dem Thema Nationalsozialismus.
Der „englische König“ war nicht Menzels letzter, aber sein letzter erfolgreicher Film. Doch zu den beliebtesten Filmklassiker gehört er beim tschechischen Publikum nicht, so wie auch sein Schaffen aus den 1990er Jahren ohne großen Widerhall geblieben ist. Indessen sind die Filme aus den Jahren der Normalisierung unverändert Publikumslieblinge, auch wenn sie manchen Zeitgenoss*innen von damals wie peinliche Verwandte vorkommen mögen. Und mit seinen beiden Filmen aus den 1960er Jahren – den „Scharf überwachten Züge“ und „Lerchen am Faden“ – hat Jiří Menzel wirklich große Filmgeschichte geschrieben.
[1] Jan Hamerský, Génius české pohody a laskavého humoru Jiří Menzel [Der Genius der tschechischen Gemütlichkeit und des liebenswerten Humors Jiří Menzel]. In: A2LARM 10.09.2020.
[2] Bohumil Hrabal, Inzerát na dů, ve kterém už nechci bydlet. Mladá Fronta, Praha 1967.
[3] Eva Binder, Liebe nach Fahrplan/Ostře sledované vlaky (1966). In: Nicole Kandioler /Christer Petersen/ Anke Steinborn (Hg.), Klassiker des tschechischen und slowakischen Films. Marburg 2018, 91-99, hier 96.
[4] Drehbuch Zdeněk Svěrák. Kinotitel in der DDR: Dörfchen, mein Dörfchen.