Am 9. August 2020 fanden die Präsidentschaftswahlen in Belarus statt. Erwartungsgemäß erklärte die Zentralwahlkommission den autoritären Amtsinhaber Aljaksandr Lukaschenka mit 80,1 % zum Wahlsieger. Zehntausende Menschen in der Hauptstadt Minsk und in der belarusischen Provinz gingen auf die Straßen, um gegen die offenkundige, dreiste Wahlfälschung zu protestierten. Das Regime ließ die Protestkundgebungen mit rabiater Gewalt niederschlagen und friedliche Demonstranten und Demonstrantinnen brutal misshandeln. Mindestens sieben Menschen wurden dabei getötet. Lukaschenkas Plan, die Proteste im Keim zu ersticken, ging jedoch nicht auf: Die breite Protestbewegung, welche die europäische Öffentlichkeit auf eine lange Zeit vernachlässigte „Terra incognita“ Belarus aufmerksam machte, ließ sich nicht einschüchtern, wobei zahlreiche Belarus*innen – trotz brutaler Repressionen und grassierender Pandemie – ihren Kampf gegen den verhassten Diktator fortsetzen. Warum kam es zu diesem Protestausbruch, der immer öfter als Belarusische Revolution bezeichnet wird? Welche Haltungen lassen sich in der belarusischen Gesellschaft beobachten? Welche Denkmuster sind innerhalb der politischen Elite verbreitet?
Und: Wie haben sich Sozial- und Geschichtswissenschaften in Lukaschenkas Belarus entwickelt? Was erwartet Belarus im Jahre 2021?

Über diese und weitere Fragen diskutieren der Soziologe Henadz Korshunau, die Historikerin Iryna Ramanava und der Historiker Alexander Friedman. Das Gespräch fand am 28. Dezember 2020 statt.

 

Alexander Friedman: Die andauernden Proteste gegen das Lukaschenka-Regime zählen zu den wichtigsten Ereignissen des turbulenten Jahres 2020. Wie lässt sich das Phänomen Belarus 2020 erklären?

Henadz Korshunau: Bereits im Frühjahr 2020, mehrere Monate vor der Präsidentschaftswahl, war es für mich offensichtlich, dass Lukaschenka den Rückhalt in der belarusischen Gesellschaft dramatisch verliert. Sein sowjetischer Politikstil, sein sowjetischer Habitus und vor allem seine rückwärtsgewandte Rhetorik, kamen bei vielen, in der Endphase der UdSSR oder nach 1991 geborenen Belarus*innen, nicht mehr an. Dabei stellen die Menschen im Alter von 15 bis 44 Jahren fast 40 % der belarusischen Bevölkerung.[1] Sie interessieren sich nicht für die Vergangenheit, sie denken vielmehr an die Zukunft. Mit einer revolutionären Explosion, mit einem gigantischen Aufbruch der Zivilgesellschaft hatte jedoch niemand gerechnet.

Alexander Friedman: Aber hat das Lukaschenka-Regime überhaupt eigene Zukunftsvisionen?

Henadz Korshunau: Dieses Regime ist von gestern, ja von vorgestern. Verkrustet und mental in der Sowjetunion zurückgeblieben. Nein, Lukaschenka und seine Mitstreiter*innen haben keine attraktive Zukunftsvision.

Iryna Ramanava: Lukaschenka ist in der Tat eine Figur aus längst vergangenen Zeiten. Er ist altmodisch, er kann, ja er will nicht lernen. 

Henadz Korshunau: Mehr noch, er scheint die rasanten Veränderungen in der belarusischen Gesellschaft im 21. Jahrhundert nicht verstanden zu haben. Unter Lukaschenka ging die Bedeutung der Staatsindustrie weiter kontinuierlich zurück: 2018 haben weniger als 40 % der Beschäftigten in Staatsunternehmen gearbeitet.[2] Zahlreiche Menschen sind längst im privaten Sektor tätig: Sie bekommen kein Geld vom Staat, sie verdienen ihr Geld selbst und sind es gewöhnt, Verantwortung zu übernehmen. 

Alexander Friedman: Aktive Bürger*innen, die an die Stelle passiver Untertanen treten?

Henadz Korshunau: Genau. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Modernisierung der Gesellschaft als Folge der Digitalisierung.

Alexander Friedman: Die Digitalisierung, die Lukaschenka und sein Umfeld sehr kritisch sehen und deren Einfluss auf die Bevölkerung negativ beurteilen.

Henazd Korshunau: Aus gutem Grund: Internet und digitale Medien sind Ende 2019, Anfang 2020, zur wichtigsten Informationsquelle für die meisten Belaruss*innen geworden. Und die überkommene Staatspropaganda hat bei diesen Menschen kaum eine Chance.[3] 

Alexander Friedman: Welche Rolle spielt die geographische Lage der Republik Belarus an der Grenze zur EU?

Iryna Ramanava: Sehr viele Belarus*innen verfügen über ein Schengen-Visum. Ausflüge nach Vilnius oder Shopping-Reisen nach Polen sind unser Alltag. Wenn man preiswert ins Ausland fliegt, dann eher mit einem Billigflieger von Vilnius aus. Europa ist sehr nah und wir nutzen dies.

Henadz Korshunau: Nicht wenige Belaruss*innen arbeiten im Ausland. Es gibt immer mehr Menschen, die Fremdsprachen können. Sie sind mit Europa, mit der europäischen Demokratie, mit liberalen europäischen Werten vertraut und sind von diesen beeinflusst.

Alexander Friedman: Es kommen auch viele Menschen aus Russland nach Europa. Manche von ihnen zeigen aber eher Abwehrreaktionen gegen den Westen und heben Russlands vermeintliche Überlegenheit hervor. Diese Tendenz scheint sich im Zuge der andauernden Ukraine-Krise verstärkt zu haben. Würden Sie sagen, dass die belarusische Gesellschaft weltoffener als die russische Gesellschaft?

Henadz Korshunau: Ja, ich denke ja. Das Weltbild vieler Russ*innen ist russlandzentriert. Man möchte nicht unbedingt über den Tellerrand schauen. In der kleinen, an die EU grenzenden, Belarus ist die Lage anders.[4]

Alexander Friedman: Trotz Lukaschenka, der die liberale Demokratie im Westen offen verachtet?  

Henadz Korshunau: Lukaschenkos Versuch, die Belarus*innen nach seinen Vorstellungen zu formen, schlug fehl. Die Belarus*innen haben seine 26-jährige Herrschaft satt.[5]

Alexander Friedman: Aber manche Belarus*innen nehmen sich doch als Teil der imaginären „russischen Welt“ wahr, die Vladimir Putin und seine Propagandist*innen hinaufbeschwören.

Henadz Korshunau: Ja, schon. Das ist aber eine Minderheit. Ende 2020 zeigten die Umfragen, dass lediglich knapp 8 % der Belarus*innen die Zukunft ihres Landes als Teil der Russischen Föderation sehen.[6] Sowohl Lukaschenkas Gegner*innen, als auch seine Anhänger*innen sind für eine souveräne unabhängige Republik Belarus. Unsere Proteste sind ohnehin nicht politischer, sondern vielmehr moralisch-ethischer Natur.

Alexander Friedman: Findet in Belarus eine Revolution statt?

Iryna Ramanava: Eine komplizierte Frage. Früher hat man sich überhaupt nicht für Politik und die Machthaber interessiert. An den Wahlen, die seit Jahren gefälscht werden, nahm man nicht teil. Es schien sinnlos zu sein. Nun haben wir aber gesehen, dass dieses Land von Dummköpfen und Sadisten regiert wird. Und wir haben sie – weitestgehend stillschweigend – regieren lassen. Seit August 2020 hat sich unsere Gesellschaft sehr verändert: Wenigstens eine gewisse Zeit werden wir nun genau auf unsere Machthaber achten, auf ihre intellektuellen Fähigkeiten, auf ihre moralische Integrität. Und allein dies ist schon ein Riesenfortschritt. Wir sind verärgert und es ist uns peinlich, dass wir diese Diktatur hingenommen haben: Seit 26 Jahren werden Menschen in diesem Land misshandelt und gefoltert, während wir unser Leben gelebt haben. Wir wussten nicht oder, vielmehr, wir wollten nicht wissen, was in diesem Lande täglich passiert. Jetzt haben wir aber begriffen, wie dieses Lukaschenka-System funktioniert und dass dieses Kapitel unserer Geschichte abgeschlossen werden soll. Ist es eine Revolution oder vielleicht bloß eine Emotion, ein gemeinsames Ziel, welche die Menschen für eine kurze Zeit vereinigt hat?

Henadz Korshunau: Aber sicher ist es eine Revolution! Es entsteht eine politische Nation in Belarus. Aus dem tiefen Schlaf erwacht, haben die Belarus*innen ihre Passivität überwunden und nehmen ihr Schicksal in die Hand. Paradoxerweise ist es vielleicht sogar von Vorteil, dass Lukaschenka die erste heftige Protestwelle im August 2020 überstanden hat. Der Kampf gegen die brutale Diktatur begünstigt die Demokratisierung der belarusischen Gesellschaft.

Alexander Friedman: Möglicherweise entwickeln die Belarus*innen dadurch eine Immunität gegen eine neue Diktatur. Aber Lukaschenka bleibt seiner rückwärtsgewandten Rhetorik treu und will die „Oase der Stabilität“ zurück. Er will das Land also in die Zeit vor dem 9. August zurückwerfen. Schafft er das?

Henadz Korshunau: Ich glaube nicht. Durch Repressionen, Massenerschießungen, Verstaatlichung von Privatunternehmen und die Abschaltung des Internets könnte man die Situation „einfrieren“. Für eine gewisse Zeit. Mehr aber nicht.

Iryna Ramanava: So wie damals wird es nie wieder. 

Alexander Friedman: Ich habe die Corona-Krise in Belarus untersucht und kam zum Ergebnis, dass diese die Entstehung und Entwicklung der Protestbewegung maßgeblich begünstigt hat.[7] Wie sehen Sie das?

Henadz Korshunau: Noch im Frühling 2020 war mir klar, dass die Pandemie die belarusische Gesellschaft ändern wird.[8] Und ja, die Corona-Krise hat die Proteste in Belarus beeinflusst. Das Krisenmanagement des Regimes war und ist miserabel. Der Staat hat seine Bürger*innen im Stich gelassen. Im Frühling 2020 verstieg sich Lukaschenka zur Verachtung und Beleidigung von Corona-Opfern. Und die Beleidigung von Toten ist eine rote Linie in unserer traditionell geprägten Kultur.

Iryna Ramanava: Ja, das sehe ich genauso. Unter dem Einfluss der Corona-Krise hat sich zudem das Bild der Mediziner*innen in unserem Land geändert: Früher zu Unrecht nicht selten pauschal als korrupte Nichtskönner*innen verachtet, werden sie heute als wahre Held*innen gefeiert. 

Alexander Friedman: Immer mehr Forscher*innen gehen davon aus, dass die Corona-Statistik, vor allem die ungewöhnlich niedrigen Zahlen der Toten, in Belarus bewusst manipuliert werden.[9] Ähnlich wie die Wahlen. Lukaschenka und sein Umfeld scheinen von der „magischen“ Zahl „80“ besessen zu sein: fast 83 % bei der Präsidentschaftswahl 2006, beinah 80 % vier Jahre später, 83,5 % im Jahre 2015 und nun diese fantastische 80,1 % im August 2020.

Henadz Korshunau: Vermutlich wollte Lukaschenka dabei den „großen Bruder“ Putin übertreffen, der bei seinem Verfassungsreferendum Anfang Juli 2020 „lediglich“ rund 78 % erreichen konnte.

Iryna Ramanava: Ein Wettbewerb der Autokraten. Henadz, im Juni 2020 hat das von Ihnen damals geleitete Institut für Soziologie der belarusischen Akademie der Wissenschaften für viel Aufregung gesorgt, nachdem Ihre Umfrage bekannt geworden war, der zufolge 24 % der Befragten in Minsk Lukaschenka vertrauten und der Zentralwahlkommission bloß 11 %. 

Henadz Korshunau: Ja, wir haben diese Untersuchung im März und Anfang April durchgeführt. Das war eine interne Studie im Auftrag des Präsidialamtes. Ihre Ergebnisse sind auf mir unbekannte Weise an die Presse durchgesickert. Und ich habe die erwähnten Zahlen in einem Interview bestätigt. Damit haben meine Probleme begonnen: Ich wurde ins Präsidialamt zitiert und anschließend in einen langen Urlaub geschickt. Als ich nach den Wahlen im September aus dem Urlaub zurückgekommen bin, wurde ich denunziert, eine nationale, von der Protestbewegung verwendete weiß-rot-weiße Fahne als Avatar in meinem Facebook-Profil zu haben. Die Leitung der Akademie der Wissenschaften erklärte mir daraufhin, dass ich das Vertrauen des Staates nicht verdiene. So musste ich meinen Direktorposten räumen und das Institut verlassen.

Iryna Ramanava: In der gleichen Zeit verloren 15 Wissenschaftler*innen aus dem akademischen Institut für Geschichte aus politischen Gründen ihren Job. Unter Lukaschenka ist die politisch motivierte Verfolgung von Geistes- und Sozialwissenschaftler*innen zur Normalität geworden. Seit den frühen 2000er Jahren wurde rund 30 Mitarbeiter*innen des Instituts für Geschichte gekündigt. Mich traf dies 2013. Im nächsten Jahr kam es zu einer Säuberungswelle an der Janka-Kupala-Universität in Hrodna: Etwa 10 Historiker*innen wurden auf die Straße gesetzt. Die Geschichtswissenschaft wird vom Regime bestimmt. Das betrifft die Themenwahl und die Art und Weise, wie diese – meistens „heroischen“ und „patriotischen“ – Themen beleuchtet werden sollten. Und was bleibt einem Forscher oder einer Forscherin unter diesen Umständen? Auf eine Entlassung aufgrund einer „falschen Einstellung“, Publikation in „unerwünschten“ Fachzeitschriften oder Zusammenarbeit mit einer NGO warten? Freiwillig gehen, einen neuen Job finden und in der Freizeit – abseits der akademischen Community – forschen? Auf Glück zu setzen und sich in Forschungseinrichtungen im Ausland zu etablieren versuchen?

Alexander Friedman: Warum streben junge Forscher*innen eine Karriere in diesen akademischen Institutionen in Belarus an?

Iryna Ramanava: Manche sind regimetreu, andere sind Opportunisten. Nicht wenige aber haben die Illusion, dass die Situation doch nicht so dramatisch sei und man für seine Forschung kämpfen müsse.

Alexander Friedman: Nach dem August 2020 stehen Historiker*innen im Vordergrund des gesellschaftlichen Interesses.

Iryna Ramanava: Ja, historische Themen sind heute omnipräsent. Historiker*innen sind nun gefragt und gefordert.[10] Vom Gewaltausbruch nach dem 9. August erschüttert, suchen etliche Menschen nach historischen Beispielen. Sie wollen verstehen, was in ihrem Land gerade passiert. Als Opfer der Lukaschenka-Diktatur vergleichen sie sich mit Opfern stalinistischer und vor allem nationalsozialistischer Verbrechen.
Und da kommt die überzogene Kritik aus dem Ausland, in erster Linie aus Deutschland: Anhänger*innen der Protestbewegung würden den nationalsozialistischen Judenmord relativieren. Tun sie dies aber tatsächlich? Nein. Die eigenen Erfahrungen mit Willkür und Gewalt haben Menschen empathischer gemacht und sie für die Shoah sensibilisiert. Zum ersten Mal findet in Belarus eine intensive Auseinandersetzung mit dem Holocaust statt. In der Sowjetunion und in der postsowjetischen Belarus lange Zeit verpönt, wird die jüdische Tragödie auch zu einer belarusischen Tragödie.

Alexander Friedman: Wir haben jetzt viel über die Geschichtswissenschaft gesprochen. Wie hat sich Soziologie in Belarus unter Lukaschenka entwickelt?

Henadz Korshunau: Das akademische Institut für Soziologie entstand 1991. Mit einer kleinen Unterbrechung habe ich dort seit 2001 fast 20 Jahre gearbeitet. Und zwischen 2018 und 2020 stand ich an der Spitze des Instituts. Selbstverständlich bekamen wir diverse Aufträge vom Präsidialamt und weiteren staatlichen Organisationen und berichteten über die Situation und die Ein- und Vorstellungen von Menschen in Belarus, insbesondere in der belarusischen Provinz. Selbstverständlich musste man in der Forschungsarbeit kompromissbereit sein. Wie sonst in einer autoritären Diktatur? Aber ich habe nicht gelogen. Das war meine rote Linie. Und außerdem: Unsere Berichte wurden im Präsidialamt nicht einmal zur Kenntnis genommen. Die Machthaber haben sich dafür schlicht nicht interessiert. Etwa seit 2015 wurde für Lukaschenka ein angenehmes warmes „Informationsbad“ eingerichtet. Der Präsident und die ganze Machtelite haben sich abgekapselt und meinten wohl, dass im Lande alles in Ordnung sei und es keine ernsthaften Probleme gebe.

Alexander Friedman: Lukaschenkas KGB-Chef Iwan Tertel erklärte am 17. Dezember 2020 bei seinem Treffen mit der Belegschaft des staatlichen Düngemittelherstellers Grodno Azot, dass er grundsätzlich nicht an die Selbstorganisation der Menschen glaube. Die Proteste in Belarus seien von ausländischen Drahtziehern organisiert worden und die Demokratie sei nichts anderes als eine „politische Technologie“.[11] Eine Wahlfälschung wie jene im August 2020 scheint für Tertel also eine legitime und zudem effizierte Methode der Machtsicherung zu sein. Als Institutsdirektor haben Sie manche Staatsfunktionäre kennengelernt. Wie stark sind diese Denkmuster in den belarusischen Führungskreisen verbreitet?

Henadz Korshunau: Nicht alle Funktionäre, aber ein beträchtlicher Teil der Machtelite denkt so wie Tertel. Die Menschen sind für sie keine Subjekte, sondern bloß Objekte. Man erteilt Anweisungen und erwartet deren bedingungslose Ausführung. Seit Jahren setzt Lukaschenka auf die skrupellosen Silowiki – Funktionäre mit einem Geheimdienst- oder Polizeihintergrund. Fachkenntnisse und Professionalität spielen keine wesentliche Rolle. Gefragt ist vor allem Loyalität.

Alexander Friedman: Der bekannte französische Intellektuelle Bernard-Henri Lévy betonte im August 2020 euphorisch, Europas Schicksal würde nun auch in Minsk entschieden.[12] Wie beurteilen Sie diese Einschätzung von Belarus aus?

Henadz Korshunau: Lévy rekurriert auf die Krisenerscheinungen im Westen. Die Realpolitik lässt Menschenrechte, moralische Prinzipien und Anstand immer öfter im Hintergrund. Und was sieht man bei uns? Auf der einen Seite eine friedliche Bewegung für Menschenrechte und Demokratie, auf der anderen Seite offene Gewalt und Autoritarismus. Ein aus der Geschichte bestens bekannter Widerspruch. Ich denke, dass der Ausgang der Belarus-Krise im gewissen Sinne die gesellschaftliche Entwicklungsrichtung im Zeitalter der Digitalisierung bestimmen wird: entweder die Gewinnung von Rechten und Freiheiten oder die Dominanz von Gewalt und Unterdrückung.

Iryna Ramanava: Lévy nimmt Belarus als ein Teil Europas wahr. Das ist für uns in Belarus selbstverständlich, für die Menschen in der EU nicht unbedingt. Belarus scheint mir eine Zerreißprobe für die europäische Demokratie zu sein. Ihre Zukunft und Ausgestaltung werden heute in Belarus (mit)entschieden.

Alexander Friedman: Was erwarten Sie im Jahr 2021? Einen Sieg der Revolution? Einen Triumph des Regimes?

Henadz Korshunau: Ich bleibe optimistisch. Die Proteste werden sich fortsetzen und den Untergang des Regimes beschleunigen. 

Iryna Ramanava: Lukaschenkas Sieg wird ganz Belarus in ein Gefängnis verwandeln. Alle, die es irgendwie schaffen, werden das Land verlassen. Schon jetzt denken viele über Auswanderung nach. Die aber, die bleiben, werden hier noch eine gewisse Zeit niedergedrückt ums pure Überleben kämpfen. Jedenfalls wird diese Diktatur nicht mehr lange existieren. Das klingt pessimistisch, aber irgendwie habe ich das irrationale Gefühl, dass wir schon (fast) gewonnen haben.

 

Ausblick 

Drei Tage nach diesem Gespräch griff die vom Präsidialamt herausgegebene Zeitung Belarus segodnja (SB.) Henadz Korshunau an. Der Lukaschenka nahe stehende, als Antisemit und Verschwörungstheoretiker bekannte Kolumnist Andrej Mukawostschyk, der bereits Anfang Oktober die wissenschaftlichen Leistungen des Soziologen offen in Frage stellte[13], veröffentlichte einen Artikel, in dem er Korschunaus Analysen der aktuellen Situation in Belarus verurteilte, den Forscher zu einem „Pseudowissenschaftler“ degradierte, zum „Verräter“ erklärte und mit dem Europaparlament und der LGBTQ-Community in Verbindung brachte.[14] Die Zeiten scheinen sich in Belarus tatsächlich geändert zu haben: Noch vor wenigen Monaten wurden Korshunaus Berichte im Präsidialamt nicht einmal gelesen. Nun befasst sich Lukaschenkas Vorzeigepropagandist damit ausgerechnet am Silvestertag.

In seinen Publikationen verbreitet der Hetzer Mukowostschik beharrlich die These, mehr als 80 % der Belarussen würden Lukaschenka unterstützten.[15] Diese fantastischen Zustimmungswerte konnte allerdings nicht einmal die in Fachkreisen sehr skeptisch wahrgenommene und in der Staatspropaganda pompös gefeierte soziologische Studie bestätigen, deren Ergebnisse der Lukaschenka-nahe Politikwissenschaftler Sjarhej Musienka am 10. Februar 2021 vorstellte. Musienkas Studie zufolge würden mindestens 66,5 % – 2/3 der Gesamtbevölkerung – oder sogar mehr als 74 % dem Staatchef vertrauen. Ist „Lukaschenka 80 %“ nun ad acta gelegt? Wohl nicht. Beinah entschuldigend und offensichtlich in der Hoffnung, Lukaschenka würde Verständnis für das „magere Ergebnis“ zeigen, erklärte Musienka auf das offizielle Ergebnis der Präsidentschaftswahl anspielend, ein Wahlsieger verliere nach seinem Triumph immer an Zustimmung.[16] 

 

 


[1] Nazionalnyj Statistitscheskij komitet Respubliki Belarus: Polowowozrastnaja struktura naselenija Respubliki Belarus na 1 janvarja 2019 g. i srednegodowaja tschislennost naselenija za 2018 god, Minsk 2019, S. 5–7.

[2] Nazionalnyj Statistitscheskij komitet Respubliki Belarus: Tscheslennost zanjatogo naselenija po formam sobstwennosti.

[3] Gennadij Korschunow (= Henadz Korshunau): Elektorat Lukaschenko. Nasche mnenie, 12. Oktober 2020.

[4] Gennadij Korschunow (=Henadz Korshunau): U nas ne „Majdan“. U nas drugoe. Evropejskij dialog, 25. August 2020.

[5] Gennadij Korschunow (=Henadz Korshunau): „Sowetskoe“ kak sakralnoe. Nasche mnenie, 21. Dezember 2020.

[6] Institut für Soziologie der Akademie der Wissenschaften der Republik Belarus, 4.12.2019. 9

[7] Alexander Friedman: „Eine Krankheit im Kopf“. Lukaschenka als „belarussische Coronavirus“. Zeitgeschichte online, 15. Dezember 2020.

[8] Genadij P. Korschunow (=Henadz Korshunau): Pandemija i zifrowisazija: opyt sozyologitscheskogo anamneza.  Schurnal Belorusskogo Gosudarstwennogo Universiteta. Soziologija, 2 (2020), S. 88–91.

[9] Sergey Mastitsky: Estimating COVID-19 excess deaths in the Republic of Belarus, 20. September 2020; Andrei Yeliseyeu, 15. Januar 2021; Ariel Karlinsky & Dmitry Kobak: he World Mortality Dataset: Tracking excess mortality across countries during the COVID-19 pandemic, 27. Januar 2021, S. 5ff.

[10] Irina Romanova (=Iryna Ramanava), Wojna mirow: znaki, simwoly, mesta pamjati (Belarus 2020). Ab Imperio 3 (2020),  S. 280–308. 

[11] Iwan Tertel, 17.12.2020.

[12] EXCLUSIF. BHL raconte sa rencontre avec l'opposante biélorusse Svetlana Tikhanovskaïa, Journal du Dimanche, 22. August 2020.

[13] Andrej Mukowostschik (= Andrej Mukawostschyk): Fraeram inogda polezno posluschat blatnogo: on schizn, v otlitschie ot nicht, znaet. SB. Belarus segodnja, 9.10.2020.

[14] Andrej Mukowostschik (= Andrej Mukawostschyk): Ostepenennogo predatelja moschno ved i posluschat? Tolko wywody sdelat. SB. Belarus segodnja, 31.12.2020.

[15] Andrej Mukowostschik (= Andrej Mukawostschyk): I eschtsche nemnogo o bolschom interwju prezidenta. Prosto ugolownaja naglost. SB. Belarus segodnja, 13.1.2020.

[16] Sjarhej Musienka, 10.2.2020