von Christina Templin

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16. Dezember 2021

Im Jahr 1948 an der Küste Kaliforniens. Die selbst ernannte Krankenschwester Mildred Ratched erschleicht sich einen Posten im Lucia State Hospital, einer psychiatrischen Anstalt, in die ihr Bruder Edmund Tolleson in Kürze eingeliefert werden soll. Ihre Mission: Aus Schuldgefühlen will sie Edmund, der mehrere Priester massakriert hat und über dessen Schuldfähigkeit der visionäre Leiter der Anstalt entscheiden soll, vor der Todesstrafe retten und geht dabei im wahrsten Sinne des Wortes über Leichen. Was auf den ersten Blick als bloße Familiengeschichte anmutet, entpuppt sich auf den zweiten Blick als komplex erzählte Gesellschaftsgeschichte. Die im September 2020 in Deutschland ausgestrahlte Serie „Ratched“, von Evan Romansky und Ryan Murphy konzipiert und von Netflix produziert, ist mehr als die Geschichte eines lang getrennten Geschwisterpaares, das von traumatischen Kindheitserfahrungen heimgesucht wird. Als „Horrordrama“[1] setzt sie sich am Beispiel ihrer monströsen Hauptfiguren und der Psychiatrie als zentralem Handlungsort in acht Folgen mit den Normen der US-amerikanischen Nachkriegsgesellschaft auseinander und interessiert sich für deren Konzeptionen von Krankheit, Gesundheit und Geschlecht. Auf diese Weise verdichten sich in dem von „Ratched“ aufgespannten gesellschaftsgeschichtlichen Panorama psychiatrie- und geschlechtergeschichtliche Perspektiven.

Als Prequel des Erfolgsromans „One Flew Over the Cuckoo´s Nest” (dt.: Einer flog über das Kuckucksnest) von Ken Kesey (1962) und dessen Verfilmung (1975) entworfen,[2] steht die Serie in einer psychiatriekritischen Tradition. Auch wenn der Anschluss an Keseys Roman, wie die Kritik zurecht hervorgehoben hat,[3] nicht funktioniert, eröffnet die Serie dennoch einen medialen Reflexionsraum, um Psychiatriegeschichte neu und vor der Folie des gesellschaftlichen Klimas des 21. Jahrhunderts zu erzählen. Denn „Ratched“ modelliert nicht die Geschichte von Wahnsinn und Gesellschaft (Foucault), sondern von Wahnsinn in der Gesellschaft. Zwar wird die Psychiatrie hier als grausamer Ort normierender Machteffekte vorgeführt, werden homosexuelle, nervöse und dissoziative Körper einer rationalen Kontrolle und Disziplinierung durch therapeutische Verfahren wie der Lobotomie oder Hydrotherapie unterworfen. Aber es zeigt sich schnell: Die Grenzen von Krankheit und Gesundheit werden in der filmischen Welt von „Ratched“ unter Anleihen beim modernen Horrorfilm nicht verfestigt, sondern aufgelöst, wobei die Serie zugleich unkonventionelle Frauenfiguren und alternative Sexualitätskonzepte etabliert. Damit kommentiert die Serie ihre Handlungs- wie auch Entstehungszeit kritisch.

 

Plot

Die von Horrorelementen durchzogene Handlung wird durch das Motiv der Jagd als zentralem narrativem Muster strukturiert. Dieses ist Ausgangspunkt und Katalysator der Geschehnisse, denn gleich mehrere Figuren werden durch ihre Vergangenheit zu Gejagten, wie Rückblenden deutlich machen. So rührt Mildreds Schuld, die sie gegenüber Edmund empfindet und die ihr Handeln motiviert, aus Kindertagen her: Nachdem Mildred und Edmund, die zwar nicht biologisch verwandt sind, aber wie Geschwister aufwachsen, jahrelang von verschiedenen Pflegefamilien misshandelt und missbraucht worden sind, sticht Edmund den letzten Pflegeeltern die Augen aus und Mildred ergreift die Flucht – in dem quälenden Wissen, Edmund im Stich gelassen zu haben. Ihre lebenslange Suche nach Edmund führt sie ins Lucia State Hospital, wo sie als ungelernte Krankenschwester ihre Mission der Rettung Edmunds aus den Händen der Justiz skrupellos vorantreibt. Hier trifft sie auf den Klinikleiter Dr. Richard Hanover, der ebenfalls von seiner Vergangenheit getrieben wird. Die extravagante Milliardärin Leonore Osgood hat einen Auftragsmörder auf ihn angesetzt, da er vor Jahren an dem Versuch gescheitert war, Osgoods Sohn zu heilen. Die beiden Handlungsstränge um Mildred und Hanover verweben sich in den zwei zentralen Handlungsorten der Serie: der psychiatrischen Anstalt einerseits und dem etwas entfernt gelegenen Sealight Inn-Motel andererseits, wo der Auftragsmörder wie auch Mildred und ihre spätere Geliebte Gwendolyn Briggs Zimmer beziehen. Als thematische Klammer der Handlung fungiert einmal mehr das Motiv der Jagd. Die Geschehnisse setzen mit Edmunds Aufspüren der Priester ein, die er an einem verregneten Abend in ihrem gemeinsamen Domizil brutal ermordet. Sie enden mit seiner Jagd auf Mildred, die er nach seiner zweiten, erfolgreichen Flucht aus der Psychiatrie bis nach Mexiko verfolgt, da er sich erneut von ihr verraten wähnt.

 

Disziplinierung des Wahnsinns: Das Lucia State Hospital

Mit der Modellierung der Psychiatrie als Handlungsort knüpft „Ratched“ an die Tradition der Gothic Literatur an, der auch der Horrorfilm verpflichtet ist. Sowohl im englischen Schauerroman des 18. Jahrhunderts als auch im später entstehenden filmischen Horror ist die Psychiatrie ein etablierter Ort des Schreckens.[4] Das teils staatlich, teils privat finanzierte Lucia State Hospital ist als klassische Heterotopie im Foucault‘schen Sinne konzipiert: Als Gegenort, an dem diejenigen untergebracht sind, die nicht der gesellschaftlichen Norm entsprechen, liegt es am Rand der kleinen Stadt, gesichert durch ein gusseisernes und von Mauern umgebenes Tor. Hinter diesem führt eine lange Allee zum Klinikgebäude, das einst ein Spa Hotel beherbergte. Das Innere der Anstalt ist geprägt von einer großzügigen Lobby und langen, hellen Korridoren, von denen die einzelnen Zimmer abgehen. Diese sind nach Blumenarten benannt und mit Blümchentapete und neuwertigem Mobiliar liebevoll ausgestattet. Die hier Eingewiesenen werden von einem überwiegend weiblichen Pflegepersonal in türkisen Uniformen gut versorgt und weitgehend umsichtig betreut.

Mit einem solchen, fast schon märchenhaft anmutenden Psychiatriesetting zeichnet die Serie ein geschöntes Bild historischer Realitäten. Denn in staatlichen Anstalten der USA nach 1945 waren finanzielle und personelle Mittel knapp. Zudem waren viele dieser Anstalten überfüllt und unterversorgt, es fehlte an Kleidung und Nahrungsmitteln, auch ein gewaltvoller Umgang des Personals mit Patient*innen, der Zwangsmaßnahmen einschloss, war keine Seltenheit.[5] Auch wenn „Ratched“ diese prekären Aspekte weitgehend ausspart, greift die Serie dennoch die Schrecken des Psychiatriealltags auf. Diese werden an damals gängigen Therapieverfahren vorgeführt. Der Fokus liegt hierbei auf dem psychochirurgischen Verfahren der Lobotomie, das ab den 1930er Jahren unter Psychiatern zunehmend Anwendung fand. Von dem portugiesischen Neurologen António Egas Moniz entwickelt, setzte sich der Eingriff am gesunden Hirn, bei dem Nervenbahnen zwischen Stirnlappen und Zwischenhirn durchtrennt werden, in zahlreichen Ländern durch und wurde bis in die 1960er Jahre zur Behandlung von psychischen Erscheinungen wie Depressionen oder Schizophrenie vorgenommen. Hierbei hoffte man zwar nicht auf eine vollständige Behebung des Leidens, aber zumindest auf eine Besserung.[6] In den USA wurde das Verfahren u.a. von dem Neurologen Walter Freeman weiterentwickelt und, anders als in Europa, trotz zahlreicher Todesfällen und schwerer Nebenwirkungen wie Veränderungen der Persönlichkeit ebenfalls bei Alkoholismus oder Homosexualität eingesetzt.[7] Die Lobotomie fand auch außerhalb des medizinischen Feldes viel Beachtung und wurde von Beginn an von starker Kritik begleitet. Literatur und Filme der 1960er/70er Jahren griffen diese Kritik auf und stellten das Verfahren als Instrument zur Disziplinierung unliebsamer Patient*innen dar.[8]

Auch „Ratched“ verarbeitet die historischen Diskurse um die Lobotomie und reiht sich damit in die Tradition psychiatriekritischer Medien ein. In der Serie demonstriert Hanover das Verfahren der präfrontalen Lobotomie an vier Patient*innen, die unter jugendlicher Unruhe, Melancholie, Gedächtnisverlust und „Lesbianismus“ leiden. Den im Operationssaal Anwesenden aus Politik und Presse erläutert er unter akkuratem Bezug auf historische Details den Sinn und Ablauf des Verfahrens. Auch wenn Hanover glaubt, im besten menschlichen Interesse zu handeln, akzentuiert die Serie deutlich die negativen Seiten des Verfahrens. So wirken der in Detailaufnahmen gezeigte Schläfenschnitt und die folgenden Bohrungen ins Gehirn, die mit dramatischer Musik unterlegt werden, so brutal und martialisch, dass Hanovers Publikum mit Übelkeit und Ohnmacht zu kämpfen hat. Dies wird auch im weiteren Handlungsverlauf unterstrichen, als Hanover seinem Pflegepersonal die von Freeman entwickelte transorbitale Lobotomie vorführt. Die Folgen der Eingriffe sind z.T. verheerend: Bei dem wegen jugendlicher Unruhe behandelten Patienten etwa wirkt die Lobotomie stark persönlichkeitsverändernd. Er ist fortan völlig apathisch und passiv. Mit Blick auf andere Patient*innen erweist sich das Verfahren als schlicht wirkungslos. Weder die Opernsängerin Ingrid Blix wird von ihrer Melancholie erlöst noch verschwinden die homosexuellen Neigungen der Hausfrau Lily Cartwright. Am Beispiel Cartwrights führt die Serie ebenfalls die Qualen eines zweiten Therapieverfahrens vor, dem der Hydrotherapie. Diese erfolgt in Form von Deckelbädern, bei denen Cartwright jeweils in einer Wanne mit Metalldeckeln fixiert wird und abwechselnd Heiß- und Kaltbäder durchläuft, die sie an ihre körperlichen und psychischen Grenzen bringen.

 

Figurationen des Wahnsinns und seiner Grenzen

„Ratched“ schöpft aus dem reichen Arsenal psychischer Phänomene, die in der Nachkriegszeit als krankhaft etikettiert wurden. Prominent ist hierbei das damalige Krankheitsbild der weiblichen Homosexualität, das als psychisches Leiden definiert und in Medizin und Medien als große Bedrohung der nationalen Sicherheit galt.[9] Dies führte zu der Einweisung vieler Homosexueller in psychiatrische Kliniken, wo sie u.a. mit Psychoanalyse, Elektroschocks oder Lobotomie therapiert wurden.[10] Anhand von vier Figuren entfaltet die Serie das historische Wissen um Homosexualität, darunter die Protagonistin Mildred Ratched und die bereits erwähnten Frauen Lily Cartwright und Ingrid Blix. Bei letzterer entpuppt sich ihre Liebe zu Frauen als die wahre Ursache ihrer melancholischen Verstimmungen. Ein weiterer Fokus der Serie liegt mit der Figur der Charlotte Wells auf der sog. dissoziativen Identitätsstörung (auch: multiple Persönlichkeitsstörung). Die unsichere Charlotte, die aufgrund eines Traumas mehrere Persönlichkeitsanteile entwickelt hat, wird von Hanover mit Hypnose behandelt. Sie treibt die Handlung entscheidend voran, denn als ihr Alter Ego „Apollo“ ermordet sie schließlich Hanover brutal und befreit unter dem Einfluss einer weiteren Identität am Ende Edmund aus der Psychiatrie. Auch wenn die Figur an einigen Stellen überformt wirkt, popularisiert die Serie das zeitgenössische Wissen über dieses psychische Phänomen. So sind Charlottes verschiedene Persönlichkeitsanteile in Sprechweise und Auftreten klar differenziert und wechseln schnell aufgrund äußerer Reize[11] – so etwa, als Edmund beim Tanzball des Hospitals Charlottes Tanzpartner vor ihren Augen die Kehle durchtrennt, um das erste Mal aus der Psychiatrie zu fliehen. Die Serie lanciert ferner zeitgenössisches medizinisches Wissen, wenn sie beispielsweise Edmund in die Nähe eines Psychopathen rückt oder ihn in seinem Aufnahmegespräch mit Hanover erfolglos schizophrene Symptome simulieren lässt.

Zu den Konzeptionen von Krankheit, die „Ratched“ präsentiert, nimmt die Serie eine kritische Haltung ein. Dies zeigt sich neben der Darstellung qualvoller Therapieverfahren auch daran, dass neben Hanover keine weiteren medizinischen Autoritäten auftreten, um die ärztliche Sichtweise zu kolportieren. Auch von Hanover selbst wird wenig medizinisches Wissen wie etwa genaue Krankheitsbilder angebracht, wodurch eine unkritische Fortschreibung damaliger Ansichten verhindert wird. Zudem treten Teile des Pflegepersonals statt als Widerpart der Patient*innen wie in den psychiatriekritischen Romanen à la Kesey als Helfende auf und stellen Hanovers Autorität in Frage. Der Pfleger Huck Finnigan manipuliert z.B. die hydrotherapeutischen Apparaturen, die Cartwright und Blix von ihrer Homosexualität heilen sollen, und verhilft gemeinsam mit Mildred beiden Frauen zur Flucht.

„Ratched“ bleibt jedoch bei der Kritik zeitgenössischer Konzeptionen von Krankheit und Gesundheit nicht stehen. Vielmehr demontiert die Serie diese Kategorien durch den aus Horrorfilmen entlehnten und mit expliziten Gewaltdarstellungen verbundenen Topos des Monströsen.[12] Das Monster hat auch in „Ratched“ die Funktion eines „meta-anthropologische[n] Reflexionsmedium[s]“, da es als das Andere bzw. Abweichende die Konstruktionspfeiler gesellschaftlicher Ordnungen offenlegt und diese zugleich in Frage stellt.[13] Den bereits erwähnten abnormen Gästen im Lucia State Hospital stellt die Serie mit dem Serienmörder Edmund ein fast schon klassisches moralisches Monster an die Seite, das, um seine Mutter zu rächen, hemmungslos mordet. Während die Figur des Monsters in vielen Horrorfilmen aufgrund ihrer Singularität zugleich die Normen verfestigt, die sie problematisiert,[14] ist dies in „Ratched“ nicht der Fall. Denn schnell wird klar: Neben Edmund weist die Mehrzahl der weiteren Figuren inner- und außerhalb des Psychiatriesettings mehr oder weniger stark ausgeprägte monströse, abnorme Züge auf. Allen voran Mildred, die im Verlauf der Handlung ihre Liebe zu Frauen entdeckt und trotz ihrer liebevollen und verletzlichen Seite manipulativ und eiskalt handelt: Hanover macht sie sich durch Erpressung gefügig und neben der in Eigenregie durchgeführten Lobotomie an einem Priester treibt sie schon zu Beginn der Geschehnisse einen Patienten in den Selbstmord, um ihre Machtposition gegenüber Hanover auszubauen. Dieser wiederum ist medikamentenabhängig und beschäftigt in seiner Klinik mit der auszubildenden Schwester Dolly sowohl eine Hypersexuelle, die sich zu gefährlichen Männern hingezogen fühlt und schließlich gemeinsam mit Edmund flieht, als auch mit dem Pfleger Huck einen körperlich Entstellten, dessen Gesicht monsterhafte Züge zeigt. Auch die nicht unmittelbar mit der Psychiatrie assoziierten Figuren sind alles andere als „normal“. Leonore Osgood ist von ihrer Rache an Hanover besessen und lässt sich seinen abgetrennten Kopf fein verpackt als Geschenk präsentieren. Ihr Sohn Henry leidet unter Piquerismus, einer Form des Sadismus, und hat sich in einer Therapiesitzung mit Hanover unter Einfluss eines Halluzinogens beide Arme abgesägt bzw. abgequetscht. Die Betreiberin des Sealight Inns, die alleinstehende und eigentümliche Louise, nimmt am Ende mit Edmund und Charlotte die Verfolgung Mildreds nach Mexiko auf und die homosexuelle Gwendolyn, die als Sekretärin des Gouverneurs von Kalifornien arbeitet und in einer arrangierten Ehe lebt, geht mit Mildred eine Beziehung ein.

Mit einer solchen Auflösung der Grenzen zwischen Kranken und Gesunden stellt die Serie die Sinnhaftigkeit dieser Kategorien in Frage. Damit schließt sie an die Psychiatriekritik Mitte des 20. Jahrhunderts an, die Missstände im Anstaltsalltag wie auch die Psychiatrie als Erfindung an sich kritisierte. In diesem Zuge wurden, angeregt durch Impulsgeber wie Michel Foucault oder Erving Goffman, „geistige Abnormitäten […] als Teil der normalen Vielfalt“ definiert.[15] Genau das führt „Ratched“ vor und verbindet hierbei Psychiatriekritik mit der Kritik an damaligen Geschlechternormen. So rückt die Serie mit der Protagonistin Mildred und den Figuren Gwendolyn, Louise oder der unverheirateten Oberschwester Betsy Bucket starke und unkonventionelle Frauen und alternative Sexualitätskonzepte in den Mittelpunkt der Handlung. Diese leben (sexuell) selbstbestimmt und widersetzen sich somit den damaligen Geschlechternormen. Denn auch wenn der Zweite Weltkrieg diese aufgeweicht hatte, galt nach dem Krieg die Ehefrau, Hausfrau und Mutter weiterhin als erstrebenswertes Ideal.[16]

 

Fazit

„Ratched“ erzählt Psychiatriegeschichte nicht als männliche Heldengeschichte, nicht als Erfolgsgeschichte von oben, wie dies ihre Chronist*innen bis weit ins 20. Jahrhundert taten. Vielmehr perspektiviert die Serie Psychiatriegeschichte aus weiblicher Sicht und inszeniert diese, der Forderung des britischen Medizinhistorikers Roy Porter von 1985 folgend,[17] als emanzipative Geschichte von unten. Unter Rekurs auf Elemente des Horrorfilms wie der Psychiatrie als Handlungsort, dem Topos des Monströsen und der expliziten Darstellung von Gewalt bricht sie das Schweigen des Wahnsinns (Foucault), indem sie die Stimmen der vermeintlich Anderen einmal mehr hörbar macht. In der Tradition des Horrorfilms als sozialkritischer Allegorie[18] stehend erschöpft sie sich nicht in einer Kritik damaliger Behandlungsmethoden und Geschlechternormen, sondern entlarvt gesellschaftliche Ordnungskategorien des Wahnsinns im Tenor der Psychiatriekritik des 20. Jahrhunderts als hinfällige Konstrukte. Damit stellt die Serie „Ratched“ die Frage nach der conditio humana über einen historischen Zugriff neu und ist als kritischer Kommentar ihrer Entstehungszeit zu verstehen, der gegenwärtigen Diskursen über gesellschaftliche und insbesondere geschlechtliche Vielfalt verpflichtet ist.


 

[1] N. Ankelmann, „Ratched“ bei Netflix. Bunter Horrortrip mit Starbesetzung, 18.9.2020 (27.9.21).

[2] Vgl. ebd.

[3] Vgl. V. Sattler, Serie „Ratched“ bei Netflix. Nerven wie Haarteile, 18.9.2020 (27.9.21).

[4] Vgl. L.R. Kremmel, The Asylum, in: C. Bloom (Hg.), The Palgrave Handbook of Contemporary Gothic, Cham 2020, 449-465, 449; A. Sanna, The Psychiatric Clinic in Horror Cinema and TV: Asylum, in: C. Williams Crawford/L. Butts (Hg.), Telling an American Horror Story. Essays on History, Place and Identity in the Series, Jefferson, North Carolina 2021, 81-99, 81.

[5] Vgl. zur US-Psychiatrie nach 1945 S. Hein/D. Groß/J.-P. Ernst, US-amerikanische Psychiatriegeschichte im Spiegel des Romans „I Never Promised You A Rose Garden“, in: D. Groß u.a. (Hg.), Medizingeschichte in Schlaglichtern, Kassel 2011, 303-328, 312f.

[6] Vgl. zur Lobotomie R. Porter, Wahnsinn. Eine kleine Kulturgeschichte, Zürich 2005, 195-197; M. Meier, Spannungsherde. Psychochirurgie nach dem Zweiten Weltkrieg, Göttingen 2015, 9-13, 125.

[7] Vgl. Meier, Spannungsherde, 10, 124f.; K. Batza, Sickness and Wellness, in: D. Romesburg (Hg.), The Routledge History of Queer America, London u.a. 2019, 287-299, 290.

[8] Vgl. Meier, Spannungsherde, 12f.

[9] Vgl. A.H. Littauer, Sexual Minorities at the Apex of Heteronormativity (1940s-1965), in: D. Romesburg (Hg.), The Routledge History of Queer America, London u.a. 2019, 67-81, 67f.

[10] Vgl. Batza, Sickness, 289f.

[11] Vgl. zu diesen klinischen Merkmalen F.W. Putnam, Diagnose und Behandlung der Dissoziativen Identitätsstörung. Ein Handbuch, Paderborn 2003, 59, 61.

[12] Vgl. zu den Merkmalen des Horrorfilms P. Podrez, Der Horrorfilm, in: M. Stiglegger (Hg.), Handbuch Filmgenre, Wiesbaden 2020, 539-555.

[13] Vgl. R. Overthun, Monster/Ungeheuer, in: H.R. Brittnacher (Hg.), Phantastik. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart 2013, 420-432, hier 421, 423, Zitat: 421.

[14] Vgl. ebd., 423.

[15] Vgl. Porter, Kulturgeschichte, 199-203, Zitat 200f.; H. Schott/R. Tölle, Geschichte der Psychiatrie, München 2006, 211.

[16] Vgl. V. Depkat, Geschichte der USA, Stuttgart 2016, 227.

[17] Siehe zu der von Porter geforderten Medical History from Below B. Brückner u.a., Geschichte der Psychiatrie „von unten“. Entwicklung und Stand der deutschsprachigen Forschung, in: Medizinhistorisches Journal 54 (2019), 347-376, 348.

[18] Vgl. C. Sharrett, The Horror Film as Social Allegory, in: H.M. Benshoff (Hg.), A Companion to the Horror Film, Chichester, West Sussex, 2014, 56-72, 56.