Ist die Geschichte der eigenen Vorfahren, der eigenen Community oder der eigenen Nation bis heute maßgeblich oder gar ausschließlich von den schriftlichen, fotografischen und filmischen Quellen einer fremden Kolonialmacht dominiert, müssen sich Filmemacher*innen, die diese neu beleuchten wollen, mit den zum Teil begrenzten möglichen Darstellungsformen auseinandersetzen. Auf dem Leipziger Dokumentarfilmfestival konnte man 2021 diverse Kurz- und Langfilme aus indigenen Communities und/oder Regionen des Globalen Südens sehen, die sich mit kolonialer Vergangenheit, postkolonialer Identität und der Erinnerung an Gewalt, Sklaverei oder Diktatur beschäftigen und dabei jeweils für ganz unterschiedliche solcher Darstellungsformen entscheiden. Es lohnt sich, ihnen im Einzelnen nachzuspüren und den methodischen Möglichkeiten filmischer Erinnerungsarbeit in diesem Kontext auf den Grund zu gehen.
Eine Frage des Ausgangsmaterials
In Kolonialzeiten entstandene Originalaufnahmen und ‚Dokumentarfilme‘ dienten übergreifend auf die eine oder andere Weise der Legitimation der ausgeübten rassistischen Gewaltherrschaft: Entweder um die angenommenen Logiken von Mission und Zivilisierung in der westlichen Welt zu propagieren oder um mit Kampagnen zu Gesundheit, Erziehung oder Landwirtschaft keinen Zweifel an der Rollenverteilung vor Ort zu lassen. Die Deutungshoheit über die Dargestellten lag dabei konsequent in den Händen der Unterdrücker, die die kolonialisierten ‚Subjekte‘ als enthistorisiert und ohne Vergangenheit festschrieben. Sowohl in der Konzeption einzelner Frames als auch in ihrer Abfolge inszenierten sämtliche dieser Filme einen exotisierten Primitivismus, der der europäischen Moderne gegenüber mangelhaft erschien und in der Konsequenz Aufklärung bedurfte.[1] Zum Teil sind diese rassistischen Bilder bis heute die einzigen, die von manchen Menschen und Communities existieren. Zusammen mit schriftlichen Quellen aus Kolonialzeiten ist ihre Deutungshoheit über orale Kulturkreise oftmals offiziell ungebrochen, da sie in westlicher Archivierungstradition vermeintlich allein Zeugnis über Vergangenes ablegen und ‚nur‘ den mündlich tradierten Erinnerungen der Betroffenen gegenüberstehen.
Goldene Zeiten, stählerner Blick
Die Reihe Re-Visionen des DOK Leipzig – laut Festivalleiter Christoph Terhechte die „vorwärtsgewandte Rückschau auf die Vergangenheit des Festivals“ – zeigte 2021 den Gewinnerfilm der Silbernen Taube von 1995: „Mother Dao the Turtlelike“. Der Archivfilm des Niederländers Vincent Monnikendamm ist eine Found-Footage-Collage, die rund 280.000 Meter Nitrofilm zu einem „kinematografischen Bild Niederländisch-Indiens 1912-ca.1933“ verdichtet. Die Bilder sind unverändert. Der paternalisierende Blick der Kolonisierer auf ihre vermeintlichen ‚Subjekte‘ wird zwar nicht kommentiert, dennoch aber nicht gänzlich unverändert reproduziert: Die hinzugefügte Audiospur lässt Geschichten und Lieder der Kolonisierten erklingen.
Wie „Mother Dao, the Turtlelike”, folgen auch aktuellere Dokumentarfilme – beispielsweise „African Mirror“, der 2019 auf der Berlinale zu sehen war und hier ebenfalls rezensiert wurde – noch immer dem Muster, koloniale Bilder sich vermeintlich selbst überführen zu lassen. Kritikwürdig ist daran sicherlich allerhand: In der Reproduktion werden keine neuen Bilder und Perspektiven geschaffen, der Bruch mit der kolonialen Gewalt fällt schwächer aus als die Kontinuität ebendieser und auch der praktische Zugang zu derartigem Archivmaterial ist großteilig exklusiv europäischen Filmemacher*innen vorbehalten. Von rewriting history ist man hier weit entfernt.
Die Auswahl für die Re-Vision des DOK Leipzigs begründet sich laut Presseheft damit, einen historischen Moment der Erinnerungskultur, eine Wende zu beleuchten: Den neuen, kritischen Fokus der 1990er. Aus der (weißen) europäischen Mehrheitsgesellschaft heraus wird der alte Blick auf die Hierarchien überprüft und sozusagen scharfgestellt. In der Re-Vision 2021 wird dem*r Zuschauer*in heute also die Chance gegeben, noch einmal neu zu sehen, was 1995 neu gesehen wurde – Silberne Taube, goldene Zeiten, stählerner Blick, so das Motto der Reihe. Vielleicht wäre ein solches Wiedersehen wirkungsvoller, wenn die (filmische) Auseinandersetzung mit kolonialer Vergangenheit tatsächlich bereits an einem anderen Punkt wäre und in Kolonialzeiten entstandenes Material nicht nach wie vor Bebilderungen dominieren und Vorstellungswelten illustrieren würde.
Wiederaufnahme eines Prozesses
Einen anderen Weg geht der französische Dokumentarfilm „Paroles de nègres“ von Sylvaine Dampierre. Die im Speckgürtel von Paris aufgewachsene Filmemacherin lässt die Vergangenheit in der Gegenwart ‚zu Wort kommen‘, indem sie heutige Mitarbeiter*innen einer Zuckerfabrik im französischen Überseegebiet Guadeloupe Prozessberichte vorlesen lässt, die einen Gerichtsfall aus Kolonialzeiten dokumentieren.
1842 wurde der Sklave Sébastian angeklagt, das Vieh seines Sklavenhalters vergiftet zu haben. Nach nur wenigen Prozesstagen sprach das Gericht ihn schuldig und verdammte ihn zu einem qualvollen dreimonatigen Lebensende unter Folter: „Der Kerker war kaum größer als ein Grab und stand neben der Zuckerfabrik“. 16 von 75 Sklav*innen waren als Zeug*innen geladen. Laut den Akten kam man letztlich zu dem Schluss, dass Sébastian aus einer Familie von Hexen käme und seine Schwester ihm entsprechend das Gift gegeben haben könnte. Während im Hintergrund die Maschinen der Zuckerfabrik dröhnen, schauen Darsteller*innen in Nahaufnahme direkt in die Kamera und reenacten Zitate wie „Monsieur Vallentin war ein guter Herr. Verdientest Du 50 Peitschenhiebe, gab er Dir 15“. Von Zeit zu Zeit kommentieren sie die kolonialen Quellen, erzählen aus ihren eigenen Leben und treten in einen Dialog mit der Vergangenheit, die so mit der Gegenwart verwoben wird. Auf diese Weise wird Geschichte nicht nur ‚aktualisiert‘ und in Bezug gesetzt. Anhaltende Machtverhältnisse werden adressiert und herausgefordert. Der Film entsteht im Gespräch mit seinen Protagonist*innen, die die kolonialen Quellen ins Kreolische übersetzen, umdrehen und so die Geschichte ihrer Vorfahren zurückverlangen. Dieser methodische Ansatz findet sich auch in anderen postkolonialen Dokumentarfilmen, wie beispielsweise dem haitianischen „Ouvertures“, der 2020 auf der Berlinale gezeigt und ebenfalls hier besprochen wurde.
Namenloses Gedächtnis
Die Erinnerung an Sklaverei und koloniale Gewaltverbrechen ist von Schweigen und Abwesenheit geprägt. Durch den Mangel an Quellen und die aktive Verhinderung jeglicher Form von Erinnerungskultur, sind die Spuren allzu oft verwischt und die Betroffenen in die Vergessenheit gedrängt worden. Diese schmerzhafte Leere zu adressieren, ihr bewegte Bilder zu verleihen, ist eine zentrale Herausforderung für dokumentarfilmische Aufarbeitung. Sie kann klassischer – wie im Fall von „Only the Earth and the Mountains“ – oder abstrakter – wie bei „Tellurian Drama“ – ausfallen.
In „Only the Earth and the Mountains“ wird das Sand-Creek-Massaker, bei dem am 29. November 1864 mehr als 200 Cheyenne und Arapho durch die US-Kavallerie im heutigen Bundesstaat Colorado ermordet wurden, anhand von Interviews mit Nachfahren und Expert*innen dokumentiert. Neben der Aufarbeitung des grausamen Massenmords zeigt der Film die anhaltende Unterfinanzierung der indigenen Museums- und Erinnerungsarbeit, aber auch den mutigen Aktivismus diverser Generationen von Community-Mitgliedern. Dabei adressiert die Regisseurin Elleni Sclavenitis die eigene Unbetroffenheit und fragt ihre Protagonist*innen direkt, was sie von einer weißen Filmemacherin in diesem Kontext halten. Der dialogisch eingebundene Reflexionsprozess berührt die Frage, ‚wer eigentlich für wen Geschichte macht‘, auf aufschlussreiche Weise.
Der indonesische Film „Tellurian Drama“ von Riar Rizaldi entscheidet sich dahingegen sowohl für andere thematische Schwerpunkte als auch ästhetische Ausführungen. Er behandelt die Geschichte einer niederländischen Radiostation auf Java, die 1923 von einheimischen Zwangsarbeiter*innen auf dem Puntang-Berg errichtet wurde. Mithilfe abstrakter Überblendungen von Naturaufnahmen und Ingenieursskizzen visualisiert er die Unvereinbarkeit indigener und kolonialer Lebensweise. Zeit als technologischer Bruch mit der Natur, als zerstörerisches, westliches Konzept, das den aufoktroyierten Zwang vervollständigt, bekommt mit der unter brutalen Bedingungen erbauten Radiostation Ort und Institution. Poetisch untermalt werden die zum Teil traumhaften Bilder von Worten und Liedern in heute fast vollständig vergessenen Sprachen der Region um den Puntang-Berg. In seiner Weigerung, einem linearen und/oder synthetischen Narrativ zu folgen, leistet der Film gelungen Widerstand gegen die andauernden Ungerechtigkeiten seines Gegenstands.
Vergangenheit in Revision
Kaum ein Film des DOK Leipzigs 2021 widmet sich allerdings unumwundener dem ‚Umschreiben der Geschichte‘ als der chilenische Stop-Motion-Kurzfilm „The Bones“. Angelehnt an die ersten Animationsfilme des frühen 20. Jahrhunderts inszeniert „The Bones“ in Horror-Märchen-Manier ein indigenes Knochen-Ritual. In dessen Folge wird Chile von seiner nationalen Vergangenheit geschieden – oder korrekter noch: die Hochzeit wird durch in reverse ablaufende Szenen rückgängig gemacht. Bei den hierfür heraufbeschworenen Skeletten handelt es sich um die Überreste des Gründervaters Diego Portales und die des engen Pinochet-Vertrauten Jaime Guzmán – zentrale Figuren des weißen Konservatismus in Chile. Der symbolisch aufgeladene Experimentalfilm von Cristóbal León and Joaquín Cociña bedient sich westlicher Filmtradition und entfremdet sie. Er zeigt die Schwierigkeiten nationalen Erinnerns und gesellschaftspolitischer Selbstermächtigung in einem Staat, dessen europäische Kolonialzeit zwar schon lange vor der Dekolonialisierungswelle des 20. Jahrhunderts überwunden war, dessen jüngste Geschichte aber in der Folge von US-Imperialismus, Diktatur und der noch immer anhaltenden Unterdrückung der indigenen Bevölkerung geprägt war.
Selbstverständlich beleuchtet dieser Artikel nur einen Ausschnitt des themenverwandten Filmangebots auf dem DOK Leipzig 2021. Die Filme aller Programmreihen inklusive Trailer werden hier gelistet. Manche von ihnen sind mittlerweile auf gängigen Streamingdiensten abrufbar.
Bei weitergehendem Interesse ist die aufgezeichnete Panel-Diskussion mit den Filmemacher*innen Sylvaine Dampierre, Riar Rizaldi und Shireen Seno zu empfehlen.
[1] Vgl. hierzu unter anderem: Robert Stock, Filmische Zeugenschaft im Abseits. Kulturelle Dekolonisierungsprozesse und Dokumentarfilme zwischen Mosambik und Portugal, Bielefeld 2018, S. 43 f; Natürlich gab es auch zu Kolonialzeiten ‚Gegenstimmen‘ wie die der Filmemacher Chris Marker oder Jean Rouch, die in ihrer Arbeit wenig überraschend ebenfalls nicht frei von kolonialem Blick und Produktionsmitteln waren. Dazu vgl. Nwachukwu Frank Ukadike, Black African Cinema, Berkeley (CA) 1994, S. 46 f.