von Sophie Genske

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26. Februar 2020

Nicht nur feiert die Berlinale in diesem Jahr 70-jähriges Bestehen, auch die Sektion Internationales Forum des Jungen Films findet zum 50. Mal statt. Die neue Festivalleitung nahm dies zum Anlass, Filme, die im Gründungsjahr 1971 liefen, wiederaufzuführen, und so Forum und Forum Expanded um das einmalige Forum 50 zu erweitern. Viele dieser Filme setzen sich auf verschiedene Weise mit der postkolonialen Weltlage auseinander und sind auch 2020 äußerst sehenswert. Dazu gehören etwa Dokumentarfilme über die Black-Panther-Bewegung wie Angela – Portait of a Revolutionary, Eldrigde Cleaver, Black Panther und The Murder of Fred Hampton, die Geschichten afrikanischer Migrant*innen, die in Frankreich mit Rassismus konfrontiert sind, in Soleil Ô, Mes voisins und El Ghorba, sowie Phela-ndaba über die Anfänge der Apartheid in Südafrika und Monangambee über den antikolonialen Befreiungskampf in Angola.

Filmstill aus Soleil Ô | Oh, Sun, FRA, MRT 1970, Regie: Med Hondo, Berlinale-Sektion: Forum 2020.

Gemein ist all diesen Filmen die Frage nach politischer wie historischer Selbstbestimmung, die sich auch in Beiträgen zum regulären diesjährigen Forum-Programm wiederfinden lässt. Obgleich der geopolitische Hintergrund des Kalten Krieges, von Dekolonisation und dem Civil Rights Movement sicherlich ein anderer ist als heute,  kämpfen postmigrantische Perspektiven und solche aus dem globalen Süden noch immer, oder auch wieder, um filmische Sichtbarkeit und die eigenständige Neuverortung ihrer (historischen) Identität.

Diesem Themenkomplex hat das aus acht haitianischen Schauspieler*innen und zwei europäischen Künstlern/Produzenten bestehende The Living and the Dead Ensemble in seiner artistischen Auseinandersetzung Ouvertures eine kollektive Stimme gegeben. Der Film begleitet die Ensemble-Mitglieder bei ihren Proben des Theaterstücks Monsieur Toussaint (Édouard Glissant, 1961), das sie zunächst vom Französischen ins Haitianische übersetzen, und stellt pointiert Diskussionen nach, die sie im Laufe des Prozesses, in Pausen oder nach den Proben, geführt haben. All das wird in drei Akten und im Freien an gesellschaftlich und historisch relevanten Orten auf der haitianischen Halbinsel inszeniert. Die Auswahl der Orte beschreibt der Initiator und britische Künstler Louis Henderson als „Reflektion der Bedeutung von Vergangenheit in der Gegenwart“.

Die Vergangenheit in der Gegenwart zu entdecken, oder sie bewusst aus der Vergessenheit heraufzubeschwören, stellt ein wiederkehrendes Motiv des Films dar. Ob durch die (zum Teil musikalische) Auseinandersetzung mit dem Theaterstück und mit der Person Toussaint Louvertures, rückwärts laufende Szenen, oder durch Voudou-Rituale, die Anrufung der Toten, die die Darsteller*innen in sich spüren: Die Geschichte will ans Licht geholt werden – doch welche Geschichte ist das?

 

Die radikalste der atlantischen Revolutionen

Der Referenzpunkt, die Revolution in Saint-Domingue (1791-1804), markiert nicht nur den historisch einzigen erfolgreichen Sklavenaufstand, der in eine freie Republik mündete. In ihrer universalen Auslegung der gerade erst in Europa ausformulierten Menschenrechte forderte die haitianische Revolution das Gedankengut der Aufklärung heraus und diente unter anderem weiten Teilen Lateinamerikas als Inspiration für Freiheitskämpfe gegen die Kolonialstaaten. Es waren weder die Verfassungen der Vereinigten Staaten noch des revolutionären Frankreichs, sondern die 1801 von Toussaint Louverture verabschiedete Verfassung, die deklarierte: Il ne peut exister d’esclaves sur ce territoire, la servitude y est à jamais abolie (In diesem Territorium kann es keine Sklaven geben, Knechtschaft ist dort für immer abgeschafft).

Für Louverture selbst endete der Widerstandskampf tragisch: Der ehemalige Sklave und Anführer der haitianischen Unabhängigkeitsbewegung wurde von der von Charles Leclerc angeführten französischen Invasionstruppe, die 1802 auf Befehl von Napoleon in Haiti landete, in einen Hinterhalt gelockt und in das französische Juragebirge deportiert, wo er 1803 in Gefangenschaft starb. Im kollektiven Gedächtnis wurde Toussaint Louverture jedoch zum Nationalhelden und die Revolution glückte.

Im ersten Akt des Films besucht ein Darsteller das verlassene Anwesen im Jura und spürt den letzten Lebensmomenten Louvertures nach. Inmitten der schier unendlichen winterlichen Leere scheint ihn dabei vor allem ein Satz nicht loszulassen: Nachdem alle Sklav*innen den Atlantik in die eine Richtung durchkreuzt hatten, durchkreuzte Louverture ihn in die andere.

Protagonist/Kollektivmitglied auf den Spuren Toussaint Louvertures im Jura-Gebirge. Filmstill aus Ouvertures, Regie: The Living and the Dead Ensemble, GBR, FRA 2020, Berlinale-Sektion: Forum, © courtesy of The Living and the Dead Ensemble/Spectre Productions.

 

Die Revolution ist (auch) weiblich

Eines der bewegendsten und interessantesten im Film nachgestellten Gespräche ist das zwischen den einzigen beiden weiblichen Kollektivmitgliedern, denn es thematisiert eine Mehrfachmarginalisierung, vergessene weibliche Akteurinnen und die Schwierigkeit weiblicher Identitätsfindung. Wie wir dank der in den letzten Jahrzehnten entstandenen Forschung zu Frauen in der haitianischen Revolution wissen, haben (ehemalige) Sklavinnen immer wieder vor und während der Unabhängigkeitskämpfe gegen ihre Unterdrücker*innen revoltiert. Der weibliche Suizid ist beispielsweise ein schon früh bekanntes und effektives Mittel des Widerstands gegen die Sklaverei gewesen. In den kämpferischen Auseinandersetzungen unterstützten Frauen die Revolutionskräfte einerseits enorm durch logistische und beratende Tätigkeiten, andererseits ließen sie sich nicht auf diese supporting roles reduzieren. Neben berühmten Namen wie Sanite Belair and Marie-Jeanne Lamartinière kämpfte eine Vielzahl von Haitianerinnen bewaffnet für ihre Freiheit. Die westafrikanische Militärtradition, in der der Wert von weiblichen Soldatinnen geschätzt wurde, fortführend, galten sie als mutig und wilder im Vergleich zu ihren männlichen Mitstreitern.[1]

 

„Ist das mein Haiti?“

Auf die geglückte Revolution folgten in Haiti bis heute politisch immer wieder höchst instabile Phasen, Diktaturen und ausländische Interventionen, die historisch deutlich weniger aufgearbeitet sind und einen Staat entstehen ließen, der von extremer Armut geprägt ist. Die haitianischen Historiker Michel Hector und Laënnec Hurbon beklagten 2009 in einem gemeinsamen Vorwort, dass Politiker*innen ihres Landes „von der glorreichen Vergangenheit [vor allem] einen Gewaltkult und despotischen Regierungsstil“[2] übernommen hätten. Ein Jahr später erschütterte das schlimmste Erdbeben der haitianischen Geschichte das Land und riss Schätzungen zufolge mehr als 200.000 Menschen in den Tod. Milliardenhilfen, die daraufhin gespendet wurden, versanken größtenteils in der international verworrenen Korruption der Machtelite und den laufenden Kosten der Hilfsorganisationen.

Die zum Teil müllüberschwemmten Kulissen im Film zeugen von dieser Misere. Doch die jungen Darsteller*innen wollen sich ihre Möglichkeiten und Identitäten zurückerobern. Sie erkunden eine gemeinsame Geschichte und deren Gültigkeit für die Gegenwart. Dafür begeben sie sich in Höhlen historischer Gesteinsschichten und setzen sich mit kulturellen Symboliken wie der Spirale, die sich endlos und kreisförmig aus einem Ausgangspunkt herausentwickelt, auseinander. Der karibische Autor des im Film verhandelten Theaterstücks, Édouard Glissant, war selbst ein postkolonialer Verfechter der Fraktalisierung von Geschichte. Anstatt in einem westlich-positivistischen Geschichtsbild zu denken, begegnete auch er der „Geschichtslosigkeit“ oraler Kulturen in seinen Texten durch das Eintauchen in das kollektive historische Gedächtnis und dessen Symboliken.[3]

Der komplexe (Anti-)Held von Monsieur Toussaint muss letztlich scheitern, damit die Revolution von der Masse getragen gelingen kann – aus L’Ouverture müssen Ouvertures werden. Theaterstück und Film bilden ein leidenschaftliches Plädoyer für das Kollektiv. Ein Kollektiv, das sich finden, Kraft sammeln, aus der Vergangenheit schöpfen und über die Zukunft sinnieren muss. Nach langen Debatten konstatieren die Schauspieler*innen in Ouvertures: Nicht die Utopie ist unmöglich, sondern die Zustände, wie sie sind.

 


Ouvertures (2020), England / Frankreich, Regie: The Living and the Dead Ensemble, Produktion: Spectre Productions, Vertrieb: Phantom.

 

Weitere Spielzeiten auf der Berlinale 2020:

Mittwoch, 26.2., 21:30 Uhr, CinemaxX 3

Freitag, 28.2., 10 Uhr, Kino Arsenal 1

Samstag, 29.2., 16 Uhr, CinemaxX 6

 
 

[1] Jayne Boisvert, Colonial Hell and Female Slave Resistance in Saint-Domingue, in: Journal of Haitian Studies, H. 7/1 (2001), S. 61-76; Ariette Gautier, Les Sœurs de Solitude: La Condition féminine dans l’esclavage aux Antilles du XVII au XIX siècle, Paris 1985, S. 254.

[2] Michel Hector und Laënnec Hurbon, Introduction: „Les Fondations”, in: Michel Hector and Laënnec Hurbon (Hg.)., Genèse de l’État haïtien (1804 – 1859), Paris 2009, S. 22.

[3] Andrea Schwieger Hiepko, Rhythm’n’Creole. Antonio Benítez Rojo und Édouard Glissant – postkoloniale Poetiken der kulturellen Globalisierung, Berlin 2009, S. 72.