Zunächst erblickt man einen mit Soldaten besetzten Wachturm. Die wacklige Hand des Filmenden schwenkt hin und her, um dabei die Betonmauer, den Stacheldraht, den sogenannten Todesstreifen und einige Fußgänger*innen auf der Westseite festzuhalten. Neugierig und zugleich ungläubig nimmt eine US-amerikanische Familie diese Bilder während eines Besuchs in West-Berlin auf. Immer wieder zoomt die Kamera auf Graffiti an der Berliner Mauer heran. Eines davon fordert: „If you love somebody set them free”.
Courtney Stephens und Pacho Velez stellen in ihrem Dokumentarfilm „The American Sector“, der auf der 70. Berlinale in der Kategorie „Berlinale Special“ seine Weltpremiere feierte, keine menschlichen Protagonisten in den Vordergrund. Das US-amerikanische Regie-Duo verfolgt Stücke der Berliner Mauer, die nach dem Mauerfall ihren Weg in die USA gefunden haben. Ganze 75 der dreieinhalb Meter hohen Betonteile präsentieren sich den Zuschauer*innen. Collageartig sind Aufnahmen der einzelnen Standorte und Besitzer*innen aneinandergehängt. Nur selten wird Musik über die Bilder gelegt, und viele der Erzählenden sind zunächst nur akustisch wahrzunehmen, bevor sie vor der Kamera und dem zugehörigen Stück der Mauer posieren wie für ein Foto. Es geht darum, die heutige Funktion dieser historischen Bruchstücke zu ergründen.
Just another brick in the wall?
Die Filmemacher*innen finden Überreste der Mauer in den unterschiedlichsten Umgebungen: So steht eines nahe der Universal Studios in Orlando – direkt daneben befindet sich ein Hard Rock Café, und von unweit erklingen die ekstatischen Schreie einer Achterbahnfahrt aus dem nahegelegenen Freizeitpark. Ein weiteres Fragment befindet sich vor einem Restaurant in Georgia. Der Besitzer gibt an, es bei einer Auktion von einem Mann erworben zu haben, der des Betrugs angeklagt war und all seine Besitztümer in Geld umzuwandeln versuchte. Ein drittes Mauerteil befindet sich in einem Odditorium, einem Kuriositätengeschäft, in Texas neben bizarren Gegenständen wie einer hornartig geformten Kopfbedeckung aus menschlicher Haut.
Einige Fragmente wurden auch zu Kunstprojekten umgeformt. Edwina Sandys, die Enkelin des britischen Premier Winston Churchill, kreierte ein Kunstwerk aus Ausschnitten der Mauer, die wie eine männliche und eine weibliche Silhouette aussehen und von rotem Stacheldraht umgeben sind. Ihr Kunstwerk steht in New York auf dem Freedom Court vor dem Franklin D. Roosevelt Presidential Library and Museum.
Geschichte zum Anfassen
Doch wofür stehen die aus dem Kontext genommenen Bruchstücke der Berliner Mauer in den USA? Sind sie Kunstobjekte oder historische Artefakte? Das werden auch die vielen Gesprächspartner*innen im Film gefragt. Sandys bezieht sich auf den von ihrem Großvater geprägten Begriff des Eisernen Vorhangs, welcher sich mit dem Fall der Mauer 1989 öffnete. Sie versucht, mit ihrer Skulptur Freiheit darzustellen. Eine Dame in New York erklärt die Mauer zum Symbol des Ringens zwischen Gut und Böse.
Durch die Vielzahl an Deutungen fällt auf, dass die einzelnen Fragmente der Berliner Mauer nun außerhalb ihres ursprünglichen Kontextes mit Freiheit verbunden werden. Das heißt, dass der Bedeutungshorizont stark heruntergebrochen wird und sich hauptsächlich nicht auf die 28 Jahre bezieht, in denen die Mauer das Land teilte, sondern auf den 9. November 1989, an dem sie sich öffnete und Bilder von feiernden Menschen um die Welt gingen. Paradoxerweise steht diese Interpretation der ursprünglichen Funktion der Mauer als Begrenzung entgegen – obgleich dies, folgt man der propagandistischen Bewertung, als Schutzwall gegen den Faschismus und/oder als Maßnahme gegen das Ausbluten der DDR verstanden wurde.[1] Ebenso ironisch ist die Ausrichtung der Mauerstücke auf Panoramen wie Berge, Palmen und andere Landschaften, die sich nur wenigen Menschen in der DDR nach 1961 auftaten.[2]
Gestern und heute
Noch interessanter wird es, wenn die Berliner Mauer und die mit ihren Stücken verbundenen Kontexte direkt in die nordamerikanische Geschichte einbezogen werden. Dies geschieht einerseits im Kontext des Verhältnisses von schwarzen und weißen US-Amerikaner*innen. Ein älterer Mann zieht Parallelen zwischen den Erschießungen von Republikflüchtlingen und der Lynchjustiz gegenüber Afroamerikaner*innen, über die in den USA noch immer zu wenig gesprochen werde. Für ihn bedeutet das Mauerstück: „We are not alone!“.[3]
Andererseits drängt sich ein Vergleich zu den sehr realen Plänen Trumps für eine Mauer an der Grenze zu Mexiko auf. In Miami verbindet eine junge Frau weit negativere Gedanken mit dem dort ausgestellten Bruchstück. Sie wird an die Unsicherheit des Aufenthaltsstatus erinnert, mit der viele hispanoamerikanische Bewohner*innen leben müssen. Das Fragment wird hier ein Symbol für das nur „One step away“-Sein von der anderen Seite der Abgrenzung. Ein Arbeiter, der gerade mit dem Transport eines Stückes beschäftigt ist, sieht in der nicht mehr intakten Mauer das Ende eines vereinigenden Faktors. Durch die Aufhebung der klaren Feindbilder nach dem Kalten Krieg habe die Gesellschaft den Willen verloren zusammenzurücken, und damit hätten sich neue Feindbilder und Vorurteile etabliert.
Blick nach vorne
Natürlich bleibt dabei zu bedenken, dass die jeweils Erzählenden nach den Kriterien einer Oral history, einer mündlich tradierten Geschichte, analysiert werden müssen und sie schließlich eine ortsgebundene Perspektive einnehmen.[4] So umringen Jungen im Ronald Reagan Peace Garden ein abgebrochenes Stück der Mauer und geben einen Einblick in ihr Schulwissen zu dem Objekt. Das umfasst neben genauen Jahreszahlen auch die Aussage, Gorbatschow habe die Mauer auf Befehl Reagans zu Fall gebracht.
Stephens und Velez lassen die Mauerstücke in ihrem Dokumentarfilm für sich selbst sprechen. Manchmal sind die Geschichten hinter dem Standort der Fragmente aber auch einfach nur unterhaltsam. Für die Zuschauer*innen gibt es wenig „Action“. Freund*innen atmosphärischer Bildaufnahmen, die die Geschichten untermalen, dürfen hier jedoch einen nahezu kontemplativen Film genießen, der vor den Überresten der Berliner Mauer tiefgreifende soziale Themen in den USA anreißt und nach der Bedeutung von Mauern in der modernen Welt fragt.
„The American Sector“ regt zum Nachdenken über die Frage an: Wohin gehört die Berliner Mauer heute? In ein Museum, in ein Kuriositätengeschäft, in eine Kunstgalerie oder gar nach Südkalifornien, wo nach Aussage der Regisseur*innen besonders viele Mauerstücke zu finden sind?[5] Wie man sich auch entscheidet, es bleibt die Gewissheit, dass die historischen Fragmente an sich keine inhärente Verbindung zu einer Teilungsgeschichte mehr haben. Die Betrachtenden schreiben den Mauerbruchstücken einen eigenen Sinn und eigene Werte zu. So kann auch ein Stück Beton aus dem Berlin des späten 20. Jahrhunderts zum Symbol für aktuelle gesellschaftliche Diskurse in den USA werden.
The American Sector
Regie: Courtney Stephens und Pacho Velez
Produktion: Pacho Velez / Asterlight
Kamera: Pacho Velez
Montage: Dounia Sichov und Courtney Stephens
Sounddesign: Maile Colbert
Ausführende Produktion: Joe Poletto und Sam Roseme
Premiere: 21. Februar 2020
[1] Ein Beispiel für die Bezeichnung der Mauer als „antifaschistischer Schutzwall“: Erich Honecker, Aus meinem Leben, Berlin 1981, S. 205.
[2] Als Überblick zur Berliner Mauer: Ulrich Mählert, Kleine Geschichte der DDR, München 2001, S. 98-106.
[3] Das Bild des Mannes vor dem National Underground Railroad Freedom Center in Cincinnati wurde als Coverbild für den Film gewählt und befindet sich auch bei diesem Artikel im Titel; „The American Sector” im Online-Programm auf der Webseite der Berlinale, [zuletzt abgerufen am 27.02.2020].
[4] Vgl. zu den Methoden der Oral history im Interview: Harald Welzer, Das Interview als Artefakt. Zur Kritik der Zeitzeugenforschung (2000) in: Julia Obertreis (Hg.), Oral History, Stuttgart 2012, S. 247-260.
[5] Eine Abhandlung zum Thema Reste der Berliner Mauer in Berlin: Jonathan Bach, Die Spuren der DDR. Von Ostprodukten bis zu den Resten der Berliner Mauer, Ditzingen 2019.