von Olaf Berg

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3. Juli 2020

Schriftliche Unterlagen wie administrative Briefwechsel, Protokolle und andere Dokumente amtlicher Vorgänge sind eine der klassischen Grundlagen der Geschichtsschreibung. Sie sind Spuren vergangener Handlungen, die als Schriftstück in Archiven gesammelt und überliefert werden. In einem institutionalisierten und formalisierten Transformationsprozess werden aus Ereignissen, die an einen flüchtigen Zeitpunkt und handelnde Subjekte gebunden sind, speicherbare Objekte, die Zeit unverändert überdauern. Aufgrund dieser Transformation versprechen die Texte Objektivität, wenn wir versuchen, uns vergangenes Geschehen durch sie zu erschließen.

Geschriebenes lässt sich gut als Zitat in andere Schriften einfügen, für die filmische Darstellung in Bild und Ton aber ist es umso sperriger zu handhaben. Zwei Filme, die auf der Berlinale 2020 in der Sektion Forum ihre Premiere feierten, stellen sich dieser Problematik und suchen nach einer je eigenen Form, solche Quellen in eine filmische Erzählung einzubinden und mehr noch, sie mit den Mitteln des Films neu zu lesen, in einen audiovisuellen Kontext zu stellen und damit die herausragende Stellung schriftlicher Quellen in der Geschichtsschreibung zu relativieren.

 

Kolonialer Schriftwechsel und widerständige Gegenerzählungen

Javier Fernández Vázquez verhandelt in Anunciaron Tormenta die post-/kolonialen Bedingungen der Überlieferung und die filmischen Möglichkeiten, damit umzugehen. Wer an spanischen Kolonialismus denkt, denkt meist an Lateinamerika. Dabei besitzt Spanien noch heute Enklaven in Nordafrika und war bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts in Afrika als Kolonialmacht präsent. Um eine Episode aus dieser Kolonialgeschichte geht es in diesem Film. Esáasi Eweera, König der Bubi in Spanisch-Guinea, das 1968 als Äquatorialguinea unabhängig wurde, wurde 1904 aufgrund seines Widerstands gegen das Kolonialregime gefangengenommen und umgehend mit seinen Angehörigen und Getreuen in die Hauptstadt Santa Isabel verschleppt. Dort starb er kurze Zeit später in Gefangenschaft.

In den Archiven finden sich über diesen Vorgang Akten aus dem Schriftverkehr zwischen dem Innenministerium in Spanien und dessen Statthaltern in der Kolonie. Im ersten Bericht schildert der die Festnahme ausführende Leutnant der Guradia Civil Esáasi Eweera als einen gefährlichen, sich das Amt des lokalen Königs anmaßenden Unruhestifter und bedankt sich für die Unterstützung durch die örtliche Mission der katholischen Kirche. Der Gouverneur der Kolonie leitet den Bericht an das zuständige Ministerium in Spanien weiter und empfiehlt die daran maßgeblich Beteiligten für eine Belobigung. Doch angesichts des Todes von Esáasi Eweera fragt zunächst der lokale Amtsrichter und in Folge das Ministerium kritisch nach. Damit gerät auch die in Santa Isabel eine Krankenstation betreibende Kirche in den Blick, in dessen Obhut der Gefangene starb.

Als Antwort stellt der Gouverneur den Fall nun so dar, dass Eweera bei seiner Festnahme bereits sehr krank war und zur besseren Versorgung auf die Hauptinsel gebracht wurde, dort aber trotz bester Pflege verstarb. Das Ministerium seinerseits stellt weiter kritische Fragen, die zunächst als Heldentat dargestellte Festnahme stellt sich in ihrer Sicht nun als fragwürdig dar, wäre es nicht humaner gewesen, den ohnehin bald sterbenden Mann im Kreise seiner Familie vor Ort zu belassen? Es gibt noch einiges hin und her, am Ende bricht die schriftliche Überlieferung in der Akte ab, es bleibt ungeklärt, ob die örtlichen Täter zur Rechenschaft gezogen oder belobigt wurden.

Die Perspektiven der Opfer kolonialer Herrschaft, ihrer Angehörigen und Nachfahren finden sich nicht in den Akten. Ihre Versionen der Geschichte rumoren bis heute in der mündlichen Überlieferung der ansässigen Bevölkerung. Die Geschichtserzählung der Kolonisierten ist erfahrungsgesättigt, sie haben am eigenen Leib koloniale Unterdrückung erlebt, zum Beispiel, dass es in der Schule, aber auch im Privaten verboten war, die eigene Sprache zu sprechen und es zur Kontrolle unangekündigte Hausbesuche gab.

Die schwarzen Bewohner*innen der Insel erzählen aber nicht nur eine alternative Version des Geschehens. Sie entwickeln die eigene Darstellung oft aus Fragen nach den Leerstellen in der offiziellen Erzählung. Was ist aus den mit Eweera Deportierten geworden, die in den weiteren Akten nicht mehr auftauchen? Sie interessieren sich für die Nachwirkungen des Geschehens, wissen davon zu berichten, dass die Angehörigen Eweeras über diverse Inseln der Kolonie verteilt wurden und ihre Namen ändern mussten, um nicht diskriminiert zu werden.

Die Überlieferung der Kolonisierten lebt von ihrer beständigen Aktualisierung im Erzählen. Die Erzählung der Kolonialherren ist überliefert, weil und insofern sie zum schriftlichen Zeugnis erstarrt ist. Fernández Vasquez nutzt die filmische Form dazu, die beide Zeugnistraditionen auf eine gleichwertige Ebene zu stellen, indem er die schriftlichen Zeugnisse konsequent als orale Erzählung einsprechen lässt. Sowohl diese Aufnahmen als auch die aufgezeichneten Gespräche mit den schwarzen Bewohner*innen Äquatorialguineas werden zu reproduzierbaren filmischen Objekten. So begegnen sich beide Überlieferungen im Kinosaal als Zeugnis zweier Sprechakte.

Der Inhalt der Archivakten erweist sich in dieser Anordnung als nicht minder fiktiv, fragmentiert, widersprüchlich und im Laufe der Zeit veränderlich, wie die in oraler Tradition überlieferten Erzählungen. Dies herauszuarbeiten ist einer der Verdienste des Films. Er lässt sein Publikum nachvollziehen, wie sich die oben geschilderte offizielle Erzählung des Vorgangs langsam entwickelt, geleitet von persönlichen Aspirationen, Rechtfertigungsdruck und formalen Abläufen. Die Lücken, Ergänzungen, Veränderungen in der offiziösen Erzählung werden deutlich.

Die Begegnung der beiden Erzählungen „auf Augenhöhe“ setzt diese dennoch nicht gleich. Die offiziellen Dokumente werden von Sprechern eingesprochen. Im Halbdunkel des Studios  sind sie von hinten oder von der Seite im Bild. Wenn sie sich versprechen, setzten sie einen Satz neu an. Die formale Sprache und die professionelle Distanz der Sprecher zum Text wird deutlich. Die Erzählungen der Einwohner*innen setzt mit einer Frauenstimme ein, die erklärt, dass sie nicht gefilmt werden wollen, aber die Tonaufnahme und deren Verwendung autorisieren. Der Wunsch wird nicht weiter begründet, aber es schwingt darin die Erfahrung von Unterdrückung, der prekäre und subversive Charakter ihrer oralen Überlieferung mit. Zugleich bleibt so die koloniale Ordnung ungleicher Verteilung von Sichtbarkeit erhalten, wenn auch in diesem Fall von den Kolonisierten selbst bestimmt. Ihre Stimmen erklingen aus dem Off zu alltäglichen Straßenszenen und Landschaftsaufnahmen.

Auf der Bildebene sind neben den oben genannten Szenen überwiegend heutige Aufnahmen von Orten des Geschehens, denen man nicht ansieht, was dort geschah, zu sehen. Oft sind sie überbelichtet oder werden in die Überbelichtung bis zum strahlenden Weiß ein- oder ausgeblendet. Eine Metapher für die weißen Flecken in der Überlieferung. Die Bilder bebildern oder beglaubigen nichts, lösen sich vom Ton, schaffen einen Raum, der zum genauen Hinsehen und Hinhören einlädt. Manchmal machen kurz eingeblendete historische Fotografien deutlich, dass die aktuellen Aufnahmen deren Kameraperspektive nachempfinden.

Fernández Vázquez setzt diese Fotografien sehr sparsam ein, denn auch in ihnen manifestiert sich ein kolonialer Blick, den es zu brechen gilt. So zeigt er von einem Foto zunächst dessen Bildunterschrift, die von einer „Gruppe Eingeborener“ spricht, die „sich aufgelehnt hatten und nun gekommen seien, um den Governeur um Vergebung zu bitten“. Das Bild selbst lässt der Film danach – kaum erkennbar – nur kurz aufblitzen, um die herrschaftliche Perspektive, in einem Interview spricht Fernández Vázquez von kolonialer „Pornografie“, nicht zu reproduzieren.[1] Das erinnert an Phillip Scheffners Umgang mit einem kolonialen Fotobuch in „The Halfmoon Files“, das dieser nur in Ausschnitten, die die Bildunterschriften und in seinem Exemplar angebrachte Kinderzeichnungen betonen, filmt.

Anders als für die schriftlichen Quellen findet Fernandez Vazquez leider keine Form der visuellen Bildkritik, die über das (fast) Nichtzeigen hinausgeht. So verständlich der Wunsch, den kolonialen Blick nicht zu reproduzieren, ist, spannender wäre es, die Mittel des Films zu nutzten, um durch Rekontextualisierung, Wahl des Ausschnitts, Kommentierung, … diesen Blick zu sezieren. Denn gerade für Bilder gilt: Was wir in ihnen erkennen, hängt von dem Kontext ab, in dem wir sie sehen. So wie der Film uns die schriftlichen Quellen als mündliche Erzählung ihrer Objektivität entzogen wahrnehmen lässt.

 

Geheimdienstprotokolle und TV-Kultur

Tipografic Majuskul von Radu Jude beschäftigt sich mit Rumänien in den 1980er Jahren unter Ceaucescu. Der Film greift ein Theaterstück auf, das seinerseits auf Akten des rumänischen Geheimdienstes Securitate beruht. 1981 beschäftigten Fälle von in der Kleinstadt Botosani mit Kreide an die Wand gemalten Parolen den Geheimdienst. In ihnen wurden bessere Versorgung mit Lebensmitteln, freie Meinungsäußerung und freie Gewerkschaften nach dem Vorbild der polnischen Solidarnosc gefordert. Angesichts der geringen Reichweite und Wirkung mutet der Aufwand der Sicherheitskräfte gigantisch an. Schriftsachverständige verglichen hunderte von Schriftproben, potentiell zu beschreibende Flächen wurden überwacht, ausländische Agenten hinter der Tat vermutet. Eines Abends ging den Häschern endlich ein Jugendlicher in die Fänge, der bei einem Abendspaziergang eine Wand mit Kreide bemalte.

Schnell war der Jugendliche, Mugur Calinescu, geständig und gab im Verhör Auskunft über seine Motive und sein Umfeld. Mehr ausländischer Einfluss, als gegen den Willen seiner alleinerziehenden Mutter Radio Free Europe zu hören, war nicht auszumachen. Er kam bald wieder frei, wurde aber, ebenso wie seine Mutter und Freund*innen, von der Securitate immer wieder zu verhören vorgeladen und zu Hause abgehört. Die abgehörten Gespräche bestätigten die Einzeltäterschaft. Von dem Jugendlichen war keine weitere Wandschrift zu erwarten, wohl aber scheint immer wieder ein unabhängig denkender Geist durch die Protokolle durch.

Wer nun erwartet, dass der auf frischer Tat Ertappte auf schnellstem Wege drakonisch bestraft und in irgendein Verlies oder Arbeitslager verschleppt wurde, irrt. Zwar forderten auf einer Schulkonferenz die Lehrer*innen eine harte exemplarische Bestrafung und den Ausschluss von der Schule. Doch offensichtlich setzten Securitate und Justiz mehr auf die oben beschriebene Beobachtung und aus ihrer Sicht wohl Resozialisierung des Jugendlichen, was dessen Nutzung als Informant einschloss. Er konnte weiter zur Schule gehen.

Der Film macht hier einen zeitlichen Sprung in das Jahr 1985, als Mugur Calinescu an Leukämie erkrankt verstarb. Gerüchte tauchten auf, dass er von der Securitate radioaktiv vergiftet wurde. Der Film lässt hier vieles offen. Im Gespräch berichtete der Schnittmeister des Films, dass die These der Vergiftung unwahrscheinlich ist und mittlerweile eine radioaktive Verstrahlung ausgeschlossen werden kann. Gegenüber einer klassischen geschichtswissenschaftlichen Arbeit zeigt sich hier ein deutlicher Unterschied. Der Film bezieht sich auf eine begrenzte Quellenmenge und ordnet die Fundstücke nicht in einen Forschungsstand ein. Dafür nutzt er eigene, audiovisuelle Möglichkeiten der Kontextualisierung, die weitaus offener für individuelle Interpretation und Wahrnehmung, aber nicht weniger wirksam sind.

Von der Theatervorlage übernimmt Jude die Transformation der schriftlichen Quellen in gesprochene Worte. Er lässt die Protokolle von Schauspielern in einem Bühnenbild vortragen. Dafür führt er am Anfang des Films ein Filmstudio ein, in dem im Halbkreis verschiedene Bühnensegmente mit unterschiedlichem Interieur angeordnet sind. Sie repräsentieren die jeweiligen Handlungsorte der Protokolle. Die Schauspieler*innen treten vor diesen Kulissen vor und deklamieren den Protokolltext. Das immer wieder erkennbare Studio und symbolisch reduzierte Bühnenbild strahlen eine Distanz zur Geschichte aus, fern vom historischen Kostümfilm oder dem auf Erfahrungsproduktion zielenden re-enactment historischer Ereignisse. Wie die Protokolle bleibt die Erzählung in der dritten Person, die kühl über etwas berichtet. Die Schauspieler*innen geben dem schriftlichen Text ein Gesicht und eine Stimme, insofern eine Subjektivität, aber sie bleiben dabei erkennbar im Raum der Repräsentation. Die Gegenwart des Films zieht die Zuschauenden in keine realistische Welt der Vergangenheit, sie führt eine heutige Aneignung und Verdichtung des Quellenmaterials vor Augen.

Ein weiteres zentrales Mittel des Films zur historischen Kontextualisierung ist die Montage, mit der Jude unterschiedliche Quellengattungen zusammenführt und aus dem daraus entstehenden Kontrast neue Bilder und Erkenntnisse entstehen lässt. Zu der aus den Ermittlungsprotokollen entwickelten Erzählung fügt er als zweite Ebene Aufnahmen aus dem rumänischen Fernsehprogramm der Zeit. TV-Shows aber auch Dokumentationen über rumänische „Gastarbeiter“ in Westdeutschland oder Verkehrserziehungsfilme gegen regelwidriges Autohupen auf der Straße. Dem durch die Ermittlungen geschaffenen Welt-Bild stellt er so die Welt der Unterhaltung und staatlich gelenkten Selbstdarstellung gegenüber, die jenseits der Propagandaabsicht in den Bildern immer wieder auch Eindrücke vom damaligen Straßenbild, Wohnblöcken und Spielplätzen gewährt. Die Welten beider Ebenen begegnen sich im Film als konstruierte, deswegen aber nicht minder reale und wirkmächtige Repräsentationen.

 

Filmische Wahrnehmung alter Dokumente

In den hier vorgestellten Filmen werden schriftliche Archivdokumente zu einem tragenden Element der Filmerzählung, indem sie mündlich vorgetragen werden. Im einen Fall steht dabei der Bruch mit der Vorherrschaft der schriftlichen gegenüber der mündlich Überlieferung als einer stabileren und objektiveren Form der Überlieferung im Vordergrund. Im anderen Fall dient der Wandel ins gesprochene Wort der Hervorhebung des konstruktiven Charakters jeder Repräsentation des Vergangenen als Geschichte und dessen Kontrastierung zur ebenso konstruierten TV-Welt dieser Zeit.

Die Transformation von der Schriftform zum Mündlichen verfälscht den Inhalt nicht, verschiebt aber dessen Bedeutung, indem sie das Bezugsfeld, in dem wir diesen zur Kenntnis nehmen, verändert. In beiden Fällen erschließt die filmische Form neue Zugänge und Wahrnehmungen des historischen Materials. Sie können schriftliche Geschichtsdarstellungen nicht ersetzen, eröffnen aber ernst zu nehmende Perspektiven, die über das bloße Darstellen und Wiedergeben wissenschaftlich gesicherten Wissens hinausgehen.

 

1) Manu Yáñez und Javier Fernández Vázquez, „Entrevista a Javier Fernández Vázquez, director de ‚Anunciaron tormenta‘“, Otros Cines Europa, 27. Februar 2020.

 

Anunciaron tormenta

Regie: Javier Fernández Vázquez

Spanien 2020, 87 Min.

 

Tipografic majuscul

Regie: Radu Jude

Rumänien 2020, 128 Min.