von Sophie Genske, Rebecca Wegmann

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9. Januar 2022

Das zweite Jahr in Folge leitet der Filmjournalist und gebürtige Münsteraner Christoph Terhechte das Internationale Leipziger Festival für Dokumentar- und Animationsfilm (DOK Leipzig) 2021. Mit den Redakteurinnen von zeitgeschichte|online, Sophie Genske und Rebecca Wegmann, sprach er im Interview über die Branche im Angesicht der Pandemie, die vielbeschworene Krise des Kinos und die Bedeutung des Dokumentarfilms für unser heutiges Geschichtsbewusstsein. 

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zeitgeschichte|online: Seit Beginn Ihrer Zeit als künstlerischer Leiter richten Sie das Internationale Leipziger Festival für Dokumentar- und Animationsfilm (DOK Leipzig) unter den erschwerten Bedingungen der Pandemie aus. Was haben Sie aus Ihrem ersten Festivaljahr für 2021 mitgenommen?

Christoph Terhechte: Das Festival in diesem Jahr war im Gegensatz zum Vorjahr nicht hybrid. 2020 wussten wir, dass wir mindestens starke Einschränkungen hinnehmen müssen, wenn nicht sogar mit einer Schließung rechnen. Wir sind dann gerade noch davon gekommen: Am 1. November war der Abschluss der letztjährigen Festivalausgabe und am 2. November begann der Lockdown. Wir hatten also keine Schließungen, dafür aber leere Kinos. Daher ergab die hybride Veranstaltung des Festivals Sinn. Viele Kinovorführungen – unter ihnen die Wettbewerbsvorführungen – waren im letzten Jahr so organisiert, dass man sie auch live streamen und sich anschließend an Q&A mit den Filmschaffenden beteiligen konnte.

Dieses Jahr haben wir darauf gehofft, die Kinos wieder füllen zu können. Ganz und gar gelang das nur im Fall des Kinos Regina, was die Corona-Vorschriften dementsprechend umgesetzt hatte. Andere beteiligte Kinos durften zwischen fünfzig und fünfundsechzig Prozent belegt werden. So oder so haben wir das Augenmerk wieder vorwiegend auf das Kino gelenkt, als dem Raum, in dem sich unsere Gäste begegnen können – Dafür sind und bleiben Festivals da. 

Das hybride Element des DOK Leipzig 2021 war insofern nicht im Publikumsbereich, sondern im Fachbereich zu finden. Der Fachbereich DOK Industry, wo sich Branchenvertreter treffen und über neue Projekte austauschen können, ist in diesem Jahr komplett hybrid aufgestellt gewesen, weil wir davon ausgehend mussten, dass viele der Beteiligten nicht nach Leipzig werden anreisen können. Letztlich haben diejenigen, die in Leipzig waren, nacheinander und durcheinander verschiedene Meetings abgehalten, die je nachdem entweder in Person oder aber am Bildschirm stattfanden. 

 

zeitgeschichte|online: Wie verlief die Vorbereitung des Festivals unter diesen Bedingungen?

Terhechte: Schwierig. Es ist immer schwierig, wenn man etwas plant, dessen Rahmenbedingungen nicht ganz klar feststehen, wo man schätzen und raten, sich auf Erfahrung verlassen muss, aber doch schief liegen kann. Es ist schwierig, ein kleines Team von sechzehn, siebzehn Leuten anzuleiten, die sich eigentlich kaum sehen, weil sie über weite Strecken im sogenannten Home Office arbeiten müssen und spontaner Austausch daher kaum stattfindet. Ein Mittel dagegen war in unserem Fall, dass ich das Chefbüro aufgegeben habe und einfach mitten ins Großraumbüro gezogen bin, damit ich dort wenigstens ein bisschen mitbekomme, was gerade los ist, und es die Leute leichter haben, mich anzusprechen oder mal ein adhoc-Meeting einzuberufen. Meist haben bei solchen Meetings dann allerdings doch wieder einige gefehlt, sodass man einen Computer aufstellen und sie über Zoom einbinden musste. Das sind keine idealen Bedingungen, um irgendeine Veranstaltung zu organisieren oder irgendein Büro zu managen. Und wir müssen uns wohl darauf einstellen, dass es noch eine Weile so bleibt.

 

zeitgeschichte|online: In diesem Jahr konnten auch einige Panels mit Filmschaffenden live gestreamt werden. Wir beobachten in unserer Fachrichtung, dass Online-Veranstaltungen großteilig zu einem größeren und deutlich internationaleren Publikum führen. Konnten Sie ähnliches beim DOK Leipzig feststellen?

Terhechte: Das stimmt auf jeden Fall. Ich gehe davon aus, dass sich auch nach Beendigung dieser Pandemie – wenn es denn ein Ende gibt – keine Normalität im Sinne des status quo ante herstellen wird. Sondern, dass wir umgelernt haben werden. 

Ich habe vor Kurzem einmal in meinen Reisekalender von 2014 geguckt und bin erschrocken, wie viel ich unterwegs war und wie viel ich geflogen bin. Heute kann ich mir nicht mehr vorstellen, dahin zurückzukehren. Deswegen sind wir als Festival darauf angewiesen, Leute digital einzubinden. Das Zeit- und Kostenersparnis, die Möglichkeit spontan und aus dem Alltag heraus teilzunehmen sind wesentliche Faktoren, aufgrund derer mehr Menschen einzelne digitale Veranstaltungen wahrnehmen (können). Wenn es also darum geht, Recherchen für das nächste Jahr zu betreiben oder sich Projekte vorstellen zu lassen, dann ist es sinnvoller, an einigen Zoom-Sitzungen von zu Hause oder dem Büro aus teilzunehmen als irgendwo hinzufliegen. 

Außerdem denke ich, dass man mit Wohnsitz in Mitteleuropa sowieso nicht mehr unbedingt fliegen muss, denn zwischen Madrid und Oslo kann man so gut wie alles mit der Bahn erledigen. Entsprechend sind wir auch auf unsere Gäste zugegangen und haben sie aufgefordert, möglichst mit der Bahn anzureisen. Aber diese Möglichkeiten hat selbstverständlich nicht jede*r. Eine kroatischen Kollegin sagte mir erst neulich, für sie sei das unmöglich: „Ehe wir in Österreich sind, ist schon einmal ein ganzer Tag vergangen.“  

Auch dafür sind hybride Formate gut. Aber ein Festival lebt natürlich gleichzeitig davon, dass es in der Stadt sichtbar ist. Es lebt davon, dass Internationalität hergestellt wird, dass unterschiedliche Sprachen gesprochen werden, dass Festival-Akkreditierte mit den Festival-Taschen über den Marktplatz laufen. Da beißen sich die Interessen. 

Die Förderer geben einem einerseits vor, man solle das Festival grüner gestalten, und grüner macht man Veranstaltungen dieser Art nur, indem man Flüge abschafft – denn alles andere fällt im Vergleich zum Reiseaufwand nicht wirklich ins Gewicht. Gleichzeitig wird gefördert, tatsächliche Begegnungen herzustellen. Da muss man genau überlegen, für wen sich Reisen lohnen. Das sind in meinen Augen vor allem die Filmschaffenden, die ihre Premieren aufführen. Aber auch diejenigen, die mit der Bahn fahren können. Und ansonsten muss man überlegen, wie man Internationalität herstellen kann, ohne dass die Leute von weit her anreisen müssen: Zum Beispiel, indem man Synergien schafft. Wenn der Deutsche Akademische Austauschdienst eine Filmemacherin aus Thailand in Berlin hat, kann sie recht problemlos mit dem Zug nach Leipzig kommen. Genau das haben wir dieses Jahr gemacht – Anocha Suwichakornpong, eine Filmregisseurin aus Thailand, war Mitglied der Jury für den Internationalen Wettbewerb langer Dokumentar- und Animationsfilm, die die Goldene und Silberne Taube der DOK Leipzig 2021 vergeben haben. Die gesamte Jury war so besetzt, dass sie zwar sehr international besetzt war, aber nicht von weit her anreisen musste.

 

 

zeitgeschichte|online: Nicht nur die Begegnungen verschieben sich ins Digitale, sondern das Kino selbst wird oft als von Streamingdiensten und Mediatheken bedroht betitelt. Wo sehen Sie das DOK Leipzig, aber auch die Festivalbranche insgesamt in dieser Entwicklung? Gibt es die vielbeschworene Krise? Und wenn ja, wie begegnet man ihr als Filmfestivalleiter? 

Terhechte: Es gibt keine Krise des Dokumentar- und Kinofilms. Wenn überhaupt, gibt es eine Krise der Kinos. Hier in Sachsen sind die Kinos als Folge der pandemischen Lage derzeit wieder geschlossen. Kein Mensch weiß, wie lange sie das noch durchhalten werden. Das Kinosterben hat schon angefangen, als das Fernsehen aufkam. Anschließend gab es diverse Momente, in denen es zu erneuten Schließungen kam. Die Pandemie ist die derzeitige große Belastungsprobe für die Kinos. 

Insofern muss man sich die Frage stellen: Was machen Festivals eigentlich ohne Kinos? Wie wird man noch ein Filmfestival stattfinden lassen können, sollten die Leinwände mal nicht mehr da sein? Meine Antwort darauf ist: Wir diversifizieren uns, gehen in die Breite, in die Stadtteile, machen mehr Kinos zu Partnern, um uns auf den Moment vorzubereiten, in dem möglicherweise – ohne das als sichere Gegebenheit darzustellen – das Cinestar, unser größtes Kino im Leipziger Stadtzentrum, sagt: “Das lohnt sich nicht mehr für uns”. Denn für das Cinestar muss sich die Festivalpartnerschaft rechnen. Im Moment scheint das noch so zu sein und ich gehe nicht davon aus, dass ein solches Szenario allzu schnell droht. Aber wir haben Ähnliches in Berlin vor fast zwei Jahren beobachten können, als dort das große Cinestar am Potsdamer Platz nur wenige Wochen vor den 70. Internationalen Filmfestspielen Berlin vom 20. Februar bis zum 1. März 2020 plötzlich geschlossen hat. 

Die andere Antwort ist, dass ich ganz stark dafür plädiere, dass Städte – spätestens ab der Größenordnung von Leipzig, aber eigentlich schon viel früher – kommunale Kinos eröffnen. Das Frankfurter Kommunale Kino, das ein Meilenstein dieser Bewegung war, ist gerade fünfzig Jahre alt geworden. Damals hat es einen Prozess gegeben: Kinobetreiber empfanden ein staatlich gefördertes Kino als unlautere Konkurrenz. Mit dem sogenannten Frankfurter Urteil, demzufolge das Kino wie Kunst, Theater, Oper usw. zu den förderungswürdigen Kulturtechniken gehört, ist dieser Prozess gewonnen worden. Darauf stützte sich eine Bewegung, die heute etwa hundertfünfzig kommunale Kinos in Deutschland betreibt. Aber wir sind so divers aufgestellt in dieser föderalen Republik, dass wir noch deutlich mehr brauchen. Wenn eine Stadt von 600.000 Einwohner wie Leipzig kein kommunales Kino hat, ist das ein deutliches Manko. In Leipzig gibt es die Oper Leipzig, mehrere Museen und ein weltberühmtes Konzerthaus. Aber wir haben eine Cinémathèque, die seit vielen Jahren und bislang erfolglos für die Errichtung eines Filmhauses kämpft. Für das DOK Leipzig ist das eine Voraussetzung zum gesicherten Überleben: Dass wir nicht nur den Ort Filmhaus in der mittleren Zukunft als Zentrum für das Festival haben, sondern dass wir auch den Kulturort Filmhaus bekommen, der unser Publikum über das Jahr hinweg bedient. 

Dritter Festival vor einem kommunalen Kino in Leipzig. © DOK Leipzig 2020/ Susann Jehnichen

Ich kenne aus der Arbeit, die ich als Sektionsleiter des Forums der Berlinale gemacht habe, diese Kombination durch das Arsenal – Institut für Film und Videokunst e.V.. Das Arsenal und das Forum sind eine organisatorische Einheit. Das Arsenal-Publikum ist auch Kern des Publikums der zehn Tage, in denen dort Filme des Berlinale-Forums gezeigt werden. Das ist in einer Weise synergetisch, dass es modellhaften Charakter hat, und das strebt mir so auch für Leipzig vor. 

Nun muss man jedoch noch eins dazu sagen: Es gibt immer noch einen großen Unterschied zwischen Ost und West. Die Kommunalen Kinos waren eine westdeutsche Bewegung. In Ostdeutschland gab es die Kulturhäuser – und zwar flächendeckend auch auf dem Land –, in denen es auch Filmvorführungen gegeben hat. Nur wenige von ihnen haben sich nach 1990 mit privater Initiative neu definieren können. Die Kultur ist durch die Schließung dieser Institutionen sehr viel ärmer geworden. Bis heute ist kein guter Ersatz gefunden worden. Einige ostdeutsche Städte haben mittlerweile auch kommunale Kinos, aber der Bedarf ist eigentlich größer als in Westdeutschland, wo das Netz der kommunalen Kinos dichter gesponnen ist.

 

zeitgeschichte|online: Wo wir das Ost-West-Thema nun angerissen haben: Wie gehen Sie, als zweiter Westdeutscher auf der Position des Festivaldirektors, mit der ‚widersprüchlichen‘ Festivalvergangenheit des DOK Leipzig um – in Bezug auf die staatliche Einflussnahme in der DDR-Zeit und die Erinnerung an die DDR heute?

Terhechte: Das Thema ist wahnsinnig komplex. Zunächst ist mir sehr bewusst, dass ich Westdeutscher bin und hier eine Position in der Kultur bekleide, von der sich viele gewünscht hätten, dass sie eine ostdeutsche Person einnimmt. Es gab durchaus Kritik an meiner Besetzung und die kann ich nachvollziehen. Wenn umgekehrt auch diverse Ostdeutsche in Westdeutschland solche Posten besetzen würden, wäre das natürlich kein Thema – aber so ist es (bis dato) nicht. Ich muss mich insofern mit vielem zurückhalten und vor allem immer mitdenken, dass es andere Perspektiven gibt als die meine, dass es andere Sozialisationen und Erfahrungen gibt als die meine, dass ich nicht alles voraussetzen kann, was ich erfahren habe, und dass ich auf der anderen Seite vieles begreifen muss, was bei mir nicht vorausgesetzt ist. Das ist auf der psychologischen Seite meine Grundhaltung. 

In der unmittelbaren Festivalarbeit sehe ich zusätzlich zwei Aspekte: Der eine ist, dass wir uns bemühen müssen, dem ostdeutschen Filmschaffen und Filmschaffenden mit DDR-Sozialisation breiten Raum einzuräumen. Wir sind ein Festival, das dafür sorgt, dass die spezifische Identität des ostdeutschen Filmschaffens gewahrt, gepflegt und vermittelt wird. Dazu gehört für mich vor allem auch, dass die Risse, die entstanden sind – noch nicht einmal unter meinem Vor-Vorgänger, der auch aus Westdeutschland kam, sondern unter meiner direkten Vorgängerin, die aus Finnland kam – dass diese Risse wieder gekittet werden. Das ist ein Vorgang, der nicht ganz leicht ist, aber ich bemühe mich, indem ich die Hand ausstrecke und sage, lasst uns miteinander reden. Ich glaube, das ist die beste Strategie dafür. 

 

Das Kino Capitol in der Leipziger Innenstadt im Frühsommer 1975. Foto: Friedrich Gahlbeck. Quelle: Bundesarchiv, Bild 183-P0507-0005 via Wikimedia Commons. Lizenz: CC BY-SA 3.0 DE

 

Die andere Frage ist die der Verantwortung für das Geschehene. Beispielsweise als 1983 am Eröffnungsabend des Festivals jugendliche Oppositionelle vor dem Kino Capitol verhaftet wurden. Es ist wichtig, dass man eine Position findet, die sich weder auf den arroganten Standpunkt stellt – à la  „Das Festival war damals ganz einfach ein Staatsinstrument, ist zu verdammen und wir machen es ganz anders“ – noch die Dinge vertuscht und so tut, als trage man keine Verantwortung. Auch heute trägt das Festival selbstverständlich noch eine Verantwortung und muss sich in der Art und Weise, wie es mit seiner eigenen Vergangenheit umgeht, ständig mit dieser auseinandersetzen. Das geschieht konkret in unseren Retrospektiven, das geschieht in den Diskussionen, die wir haben. Das geschieht natürlich auch in der Auswahl der Filme und der kritischen Reflexion dieser Zeit, die auch über das Kino stattfindet. 

Jenseits dessen kenne ich zum Teil sogar Beteiligte. Ronald Trisch, der zum Glück auch noch mit über 90 Jahren (Jahrgang 1929) einigermaßen bei Gesundheit ist und der das Festival von 1973 bis 1989 leitete, ist beispielsweise jemand, mit dem ich häufiger einmal spreche und den ich kenne, weil er in den 1990er Jahren bei der Berlinale gearbeitet und dort das Protokoll geleitet hat. Durch ihn weiß ich, wie schwer es ist, ein Urteil zu fällen. Während er auf der einen Seite ganz klar auch mit den Staatsorganen und mit der Stasi zusammengearbeitet hat, versuchte er gleichzeitig im Festival Freiräume zu schaffen, die es ermöglicht haben, dass das Festival Filme gezeigt hat und Diskussionen geführt wurden, die sonst nicht möglich gewesen wären. Es ist immer die Frage, wie sehr man versucht, sich mit einem System zu arrangieren und innerhalb dieses Systems Freiräume zu schaffen, oder ob man das System für so unreformierbar hält, dass man sich lieber ganz herauszieht. Ronald Trisch hat allein dadurch, dass er diese Position innehatte, seine Antwort gegeben. Er war kein IM. 

Ich kenne auch Fred Gehler, der das Festival von 1994 bis 2004 leitete. Er hat mich 2001 in die Jury des Internationalen Wettbewerbs eingeladen. Gehler wiederum ist später als IM enttarnt worden. Auch das ist eine komplizierte Situation: Er war Festivalleiter in einer Zeit, in der es keine Staatssicherheit mehr gab, und trotzdem hat ihm seine frühere Entscheidung, mit der Stasi zusammenzuarbeiten, den Ruf ruiniert – das ist auch nicht ohne. Als Westdeutscher kann ich dieses Thema nicht in derselben Weise beurteilen wie jemand, der*die in der DDR gelebt hat. Eine gewisse Distanz dazu ist vielleicht gar nicht so falsch und auch hilfreich im Umgang, weil man etwas unparteiischer ist. Aber über diesen Themenkomplex könnte man noch lange diskutieren. 

 

zeitgeschichte|online: Jenseits Ihres Umgangs mit der ambivalenten Festivalgeschichte: Worin sehen Sie die Aufgabe Ihres Festivals aber auch des (deutsch-deutschen) Dokumentarfilms in Bezug auf die geteilte(n) Erinnerungskultur(en) in Deutschland? Die diesjährige Retrospektive trug den Titel Die Juden der Anderen. Geteiltes Deutschland, verteilte Schuld, zerteilte Bilder“.

Terhechte: Das Thema der diesjährigen Retrospektive war weniger die Shoah selbst, sondern vielmehr der Umgang mit ihr in beiden deutschen Staaten. Auch wenn die Filme größtenteils von der Shoah gehandelt haben, war der Grund hinter der Retrospektive, sich anzuschauen, in welcher Weise diese beiden Staaten in der Nachkriegszeit jeweils Linien setzten, wie mit der unmittelbaren Vergangenheit umzugehen sei. Und wie beide sich gegenseitig vorgeworfen haben, es falsch zu machen. Der Ost-West-Vergleich ist das Spannende an dieser Reihe von drei Retrospektiven, die es in den letzten Jahren gegeben hat. Nächstes Jahr werden wir das allerdings nicht wieder machen, sondern uns einem ostdeutschen Thema widmen. Aber die Idee dieser drei Retrospektiven, die dann im Programm „Die Juden der Anderen“ kulminierten, war die Gegenüberstellung. Das ist ebenso spannend für ein westdeutsches wie für ein ostdeutsches Publikum. 

 

 

Leipzig ist eine sehr gemischte Stadt, inzwischen gibt es hier sehr viele Menschen, die wie ich eine westliche Sozialisation haben und die dieses Thema ebenso aufmerksam verfolgen wie diejenigen, die diesem Festival seit Jahrzehnten verbunden sind. Man muss sagen, dass in der Retrospektive durchschnittlich ein sehr viel älteres Publikum sitzt als zum Beispiel in dem Programm zu „Ton im Animationsfilm“. Aber auch das ist schön, dass wir vom jungen bis zum sehr viel reiferen Publikum die Bandbreite abdecken können. Es ist klar, dass es ein Interesse gibt, auch Dinge zum Teil wiederzusehen und sie in einem anderen Kontext zu sehen. Auch die propagandistischen Filme, die auf beiden Seiten entstanden sind, die man aber früher eben in ihrem propagandistischen Kontext gesehen hat, heute mit Distanz noch einmal zu analysieren. Genau diese Arbeit ist eine Arbeit, die ich für extrem relevant halte. Wir haben sehr viele retrospektive Elemente im Festivalprogramm – die Matinee des Sächsischen Staatsarchivs, die DEFA-Matinee dieses Jahr zu Kurt Tetzlaff, das Programm Re-Visionen – bei denen wir Filme, die schon einmal auf dem DOK Leipzig aufgeführt wurden, wieder aufführen und im heutigen Kontext diskutieren. Ich halte das für einen extrem bedeutenden Teil von Festivals, dass sie sich eben nicht nur mit aktuellen Filmen beschäftigen, sondern auch Filmgeschichte und damit die eigene Geschichte beleuchten. 

 

zeitgeschichte|online: Um da direkt einzuhaken und einen anderen Aspekt der eigenen Geschichte einzubinden: Ein Fokus des diesjährigen DOK Leipzig-Programms – beispielsweise auch die gerade erwähnten Re-Visionen – lag auf Dokumentarfilmen, die sich auf die eine oder andere Weise mit kolonialer Vergangenheit auseinandersetzen. Wie steht es um die Dekolonisierung des Dokumentarfilms? 

Terhechte: Wir hatten ein Panel mit dem Titel „Achsensprünge“, das der Frage nachging: Wie geht man mit den Bildern um, die aus Perspektive der Kolonisatoren erstellt wurden und immer den kolonialen Blick tragen? Wie kann man sie zweckentfremden und der Agenda der Dekolonisierung nützlich machen? Die Antworten sind vielfältig und entsprechend war es auch die Diskussion. 

Das Tolle an diesem Fall ist, dass wir nicht bloß ein Panel dazu einberufen haben, sondern zusätzlich mehrere Filme im Programm hatten, die sich mit dem Thema beschäftigen. Beispielsweise den bereits erwähnten Beitrag der Re-Visionen, „Mother Dao, the Turtlelike“, der von 1995 ist und den Versuch unternimmt, aus kolonialer Perspektive entstandenes niederländisches Bildmaterial aufzuarbeiten.

Aber auch Filme aus postkolonialen Regionen wie zum Beispiel die Arbeiten der Regisseurin Shireen SenoSeno war auf der diesjährigen DOK Leipzig mit ihrem Kurzfilm „To Pick a Flower“ (2021) vertreten. Ihr Film Nervous Translation“ (2017) benennt im Titel schon Übersetzung als Thema und problematisiert so, dass Bilder übersetzt werden müssen. Genau das ist meines Erachtens eine der Hauptaufgaben von Dokumentarfilmen: dass sie helfen müssen, Bilder zu übersetzen. Es geht nicht darum, dass Bilder irgendetwas belegen, oder dass sie unwiderlegbare Zeugnisse einer Realität sein können. Stattdessen muss man feststellen, dass Bilder subjektiv sind, dass sie je nach Kontext unterschiedliche Aussagen treffen können. Diese Bilder entsprechend übersetzen zu können, einen geschulten Blick sowie ein Verständnis dafür zu haben, was diese Bilder mit einem machen, darum geht es letztlich. Dokumentarfilmfestivals können dazu beitragen, den Blick zu schulen und den Zuschauer*innen das Werkzeug an die Hand zu geben, die Bilder besser lesen zu können. Dazu gehört zwangsläufig auch ein Vergleich älterer Filme. 

 

 

Einer der Pioniere des ethnografischen Dokumentarfilms ist Jean Rouch, der ein großer Regelbrecher war. Wenn ich seine Filme jetzt erneut sehe, muss ich sagen, dass er viele Dinge gemacht hat, die eigentlich nicht gehen – heute sowieso, aber auch damals war es vermutlich schon verkehrt. Die Frage ist dann, wie bewusst es einem Jean Rouch war, dass er etwas gemacht hat, was eigentlich nicht geht, und was das für uns heute bedeutet. Dieser Fortschritt in der sogenannten wokeness der Dokumentarfilmschaffenden heute – obwohl ich große Probleme mit der Verwendung des Begriffs woke dafür habe –, diese neue Form der Reflexion, die sich viel stärker als früher mit der Frage „Was kann ich machen und was nicht?“ auseinandersetzt, wird nirgendwo so gut dokumentiert wie auf einem Dokumentarfilm-Festival. Weil wir die Filme kontextualisieren, weil wir so programmieren, dass thematische Verbindungen geschaffen werden, und dazu anregen wollen, diese Verbindungen zu sehen.

Die Frage des themenverwandten Panels „Mit anderen Augen sehen“ war, worin das Problem besteht, wenn ein weißer Dokumentarfilmer im Globalen Süden einen Film über eine Community macht, die er nicht kennt und der er nicht angehört, selbst wenn er dort noch so viel Zeit verbracht hat. Der deutsch-äthiopische Wettbewerbsfilm „among us women“ (2021) beispielsweise ist von einem äthiopischen Regisseur und einer deutschen Regisseurin. Er kann sich mit den Protagonistinnen des gemeinsamen Films vor allem dadurch identifizieren, dass er Äthiopier ist und aus der Community kommt, während ihre Verbindung auf geschlechtsspezifischen Aspekten beruht. 

Damit, welche Problematiken sich ergeben und wie diese überkommen werden können, müssen sich derlei Filme auseinandersetzen, oft auch mit den Rechtfertigungen, die sie filmisch äußern, denn das ist gar nicht so untypisch. Gerade in Deutschland haben wir sehr viele Filme, die den Blick immer wieder nach außen richten und sich – für meinen Geschmack – zu wenig mit der eigenen Realität beschäftigen. Es betrifft nicht nur deutsche Filmschaffende, aber es ist ein typisch deutsches Phänomen, sich zu entscheiden, den Film nicht in der eigenen Umgebung zu machen. Natürlich gibt es viele Gegenbeispiele.

 

zeitgeschichte|online: Was war Ihr persönliches Highlight im diesjährigen Festivalprogramm? 

Terhechte: Im diesjährigen Festivalprogramm war für mich der Film „Que Dieu te protège“ (2021) von Cléo Cohen ein Highlight, der das eminent wichtige Thema der jüdischen Identität im arabischen Kontext (Raum) behandelt.

 

 

Als jemand, der sich in letzter Zeit relativ viel in der arabischen Welt aufgehalten hat, finde ich es extrem bedauerlich, dass das Jüdische immer weiter aus ihr verschwindet. Früher war es dort selbstverständlich eingebettet. Ich bin einmal mit der jüdischen französisch-marokkanischen Regisseurin Simone Bitton über den jüdischen Friedhof in Tanger gelaufen. Der Friedhof wird heute von einer muslimischen Familie, die dort lebt, sehr gut gepflegt. Bei unserem Gang sagte Simone Bitton zu mir, sie würde sich wünschen, dass palästinensische Friedhöfe in Israel so gut gepflegt würden wie dieser jüdische Friedhof in Marokko. 

Momentan läuft ihr Film „Ziyara“ (2021) in Frankreich im Kino. In dem Film geht es um die Reste jüdischer Kultur, jüdischer Religion und jüdischer Identität im heutigen Marokko. Ich fand es nicht nur extrem spannend sondern auch unterhaltsam, wie Cléo Cohen in ihrem Film mit dieser Thematik umgegangen ist. 

 

Das Interview mit Christoph Terhechte haben Sophie Genske und Rebecca Wegmann am 6. Dezember 2021 über Zoom geführt.