von Rebecca Wegmann

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9. November 2023

Ein leises Summen, das langsam immer lauter wird. Auf der Leinwand erscheint das Bild einer jungen Frau. Den Blick der aufgehenden Sonne zugewandt sitzt sie in einem dichten Wald – der Leinwand und den Zuschauer:innen kehrt sie den Rücken zu. Schnitt. Zwei Hände halten ein aufgeschlagenes Buch in der Hand. Aus dem Off erzählt eine Frauenstimme: „There is a song in Yiddish, but I don’t remember the end. And it sings like this.” Eine ältere Frau mit schulterlangen weiß-gelben Haar und einer dunklen Brille erscheint singend in der Nahaufnahme: „Vi ahin zol ikh gehen. Ver ken entfern mir. Vi ahin zol ikh gehen“, den Rest habe sie vergessen, sagt sie lächelnd in die Kamera. Mit dem jiddischen Lied des polnisch-jüdischen Lyrikers Igor S. Korntayer, der 1942 in Auschwitz ermordet wurde, und des lettisch-jüdischen Komponisten Oscar Strock, der die NS-Verfolgung in Riga überlebte, stellt der Regisseur Radek Wegrzyn eine Protagonistin seines neuesten Filmprojektes vor: Rita Kasimow Brown. Sie ist Kandidatin des Schönheitswettbewerbs „Miss Holocaust Survivor“. Wegrzyns gleichnamiger Film proträtiert die Misswahl für Holocaust-Überlebende in Israel. Seit 2012 organisiert der Verein Yad Ezer L’Haver alle zwei Jahre diesen ungewöhnlichen Wettbewerb, bei dem zwischen zwölf und zwanzig Frauen im Alter von Anfang siebzig bis über neunzig in einer Misswahl vor einer mehrköpfigen, prominenten Jury gegeneinander antreten.

Unter dem Leitbild „Always Remember (zachor) and Never Forget (lo tishkach)“ betreibt der Verein, der übersetzt „Helfende Hände“ heißt, seit 1995 ein durch Spenden finanziertes Seniorenheim in der israelischen Hafenstadt Haifa, das für Holocaust-Überlebende eine letzte Heimat am Ende ihres Lebens sein soll. Der Schönheitswettbewerb ist dabei Teil des Programms für die betagten Frauen.

 

 

Überlebende des Holocaust als Kandidatinnen

Per definitionem unterscheidet die israelische Gedenkstätte Yad Vashem Opfer des Holocaust, Jüd:innen, die während der NS-Herrschaft zwischen 1933 bis 1945 von den Nationalsozialist:innen systematisch verfolgt wurden, und Opfer des Nationalsozialismus, nicht-jüdische Personen „sind Opfer des Nazismus, jedoch keine Holocaustopferopfer.“ Die Differenzierung begründet sich aus „der Ideologie der Nazis, die in beispiellosem Bestreben das Judentum komplett auszulöschen versuchte.“[1]

Genaue Zahlen von Toten und Überlebenden Opfern des Holocaust existieren bis heute nicht. Die Forschung[2] nennt oftmals die Zahl sechs Millionen. Diese umfasst die Jüd:innen, die von den Nationalsozialist:innen ermordet wurden – also die Toten. Die Überlebenden, die ebenfalls Opfer NS-Verbrechen wurden, fasst die Zahl sechs Millionen nicht. Der deutsche Historiker Wolfgang Benz verweist darauf, dass Historiker:innen bei der Feststellung genauer Zahlenangaben vor erheblichen quellenmäßigen und methodischen Schwierigkeiten stünden.[3] Erhebungen zu Ermordeten als auch zu Überlebenden kategorisieren Nationalitäten oder Geburtsländer. Im Zeitalter aussterbender Zeitzeug:innen befassen sich Studien mit dem Verbleiben der Überlebenden in Ländern wie Israel oder den USA. Bereits vor der Staatsgründung 1948 emigrierten circa 4,5 Prozent der Überlebenden des Holocaust nach Israel. Danach folgte noch einmal ein gutes Drittel dieser. Im April 2023 lebten nach offiziellen Angaben noch 147.199 Holocaust-Überlebende in Israel, mehr als die Hälfte davon sind Frauen. Ihr Durchschnittsalter liegt nach Angaben der zuständigen Behörde bei weit über 85 Jahren.

In den ersten Jahren bewarben sich mehrere Hundert Frauen bei dem Verein Yad Ezer L’Haver für die Teilnahme an der Misswahl. 2018 filmt Wegrzyn den gesamten Ablauf des Wettbewerbs über die Suche nach geeigneten Kandidatinnen, über die Proben bis hin zur Austragung der Misswahl auf großer Bühne in Haifa. Schon in seinen früheren Dokumentationen wie „Violinissimo“, in der er drei Teilnehmer des renommierten Joseph Joachim Violinwettbewerbs begleitet, und „Die Schule auf dem Zauberberg”, über den Alltag an der schweizerischen Leysin American School, tauchte der Regisseur tief in den jeweiligen Mikrokosmos ein. Auch in seiner dritten Dokumentation fokussiert Wegrzyn sich darauf, einen tiefgründigen, nicht unkritischen Blick auf den eigen- und einzigartigen sowie umstrittenen Wettbewerb zu richten. Nach der ersten Vorstellung der Protagonistin Rita nimmt die Dokumentation über das Casting der Kandidatinnen im Seniorenheim in Haifa durch Heli Ben David, die Koordinatorin des Wettbewerbs, an Fahrt auf. Ungefähr ein Dutzend Heimbewohnerinnen sitzen in einem kleinen Raum zusammen, während Ben David ihre Personalien aufnimmt: Name, Alter, Geburtsort. Einige ältere Frauen tuscheln in der Ecke, während sich ein andere vorstellt.

Filmstill: Madeleine Schwartz bei der Fragenrunde in „Miss Holocaust Survivor“. Regie Radek Wegrzyn, Deutschland 2023. © Farbfilm Verleih

Ben David bittet sie darum, das Kaffeekränzchen auf später zu verschieben. Schließlich stellt sich Madeleine Schwartz, „eine embryonale Holocaust-Überlebende“, vor. „So etwas gibt es“, beteuert die 77-Jährige. Sie wurde 1944 geboren und habe ihr erstes Lebensjahr unter schrecklichen Bedingungen erlebt: „Deshalb bin ich eine Holocaust-Überlebende“, sagt die resolute Madeleine in die Damenrunde. Sie und elf weitere kommen in die zweite Runde, bei der die Seniorinnen vor den Organisator:innen Fragen beantworten und ihre Lebensgeschichte erzählen.

 

Ein streitbarer Wettbewerb: Stimmen aus dem Off

Programmpunkte des Wettbewerbsverlaufs werden in Wegrzyns Dokumentarfilm durch Sequenzen unterbrochen, die die israelische Hafenstadt Haifa aus der Vogelperspektive zeigen. Über die romantisierten Stadtbilder diskutieren Stimmen aus dem Off das Für und Wider eines solchen Wettbewerbs: Eine amerikanische Frauenstimme merkt an: „I am not sure I am happy with this beauty pageant, because beauty pageants objectify women. And also there is this sensational dimension to it. The survivors suffering is on display in a very public way. If the organizers really wanted to do a beauty pageant for old people, why limit it to Holocaust survivors? Why single them out?” Eine Stimme aus Italien fragt, inwiefern die betagten Teilnehmerinnen instrumentalisiert würden. Eine Stimme aus Deutschland kritisiert: „Ein Schönheitswettbewerb, um an den Holocaust zu erinnern? Warum werden diese älteren Damen vor zweitausend Leuten so respektlos vorgeführt?“ Darauf kontert eine weitere deutsche Stimme, dass es respektlos wäre, den Frauen vorzuschreiben, was sie zu tun hätten. Die Deutsche ist der Meinung, dass es das Mindeste sei, die Entscheidung zur Teilnahme zu respektieren. Und schließlich bringt eine britische Stimme neben dem Voyeurismus auch den Aspekt der Retraumatisierung ins Gespräch: „But by asking them to retell their stories again, and again, how do we know, that we are not harming them?“

 

Filmstill: Die über 90-jährige Tova Ringer stellt sich beim Casting für die Misswahl vor in „Miss Holocaust Survivor“. Regie Radek Wegrzyn, Deutschland 2023. © Farbfilm Verleih

Aller Kritik zum Trotz steht die Intention der Initiatorin, der Trauma-Therapeutin Izabela Grinberg. Sie erklärt vor Wegrzyns Kamera, dass Holocaust-Überlebende in jungen Jahren ihrer Kindheit, ihrer Körper, ihrer Femininität und Freiheit beraubt wurden. Nach dem Überleben 1945 haben sie einen Beruf angenommen und gründeten eine Familie, wurden Mütter, Großmütter, manche sogar Urgroßmütter, dabei hätten sie jedoch keine Zeit gehabt, das Erlebte zu reflektieren. Erst im Ruhestand tauchten in der „leeren Zeit“ aus dem Unterbewusstsein traumatische Erinnerungen wieder auf. Immer wieder ist von Seiten der Organisator:innen zu hören, dass sie den Teilnehmerinnen Freude bereiten wollen. Die Überlebenden verdienten es: „Dank ihnen sind wir hier,“ erklärt die Koordinatorin. „Ich wollte sie einfach mal aus dieser Opfer-Schublade herausholen”, postuliert Shimon Sabag, Gründer des Seniorenheims 2012 der Süddeutschen Zeitung. Organisatorin Ben David erzählt, der Wettbewerb solle in die dunkle Vergangenheit der Kandidatinnen bunte Farbkleckse in die Gegenwart bringen. Schließlich appelliert eine englische Stimme in der Sequenz vor der Austragung des Wettbewerbs: „We should celebrate their lives for who they’ve become after the Holocaust. They are the last generation of witnesses who can tell us, how it really was.”

 

Eine Feier für das Leben: „I will survive“

Bei den Proben instruiert Ben David die Kandidatinnen mit strenger Hand: Verbeugt euch, bewahrt Haltung, macht dies nicht, macht das nicht. Die Teilnehmerinnen nehmen die Weisungen gelassen. Manchmal tanzt die ein oder andere aus der Reihe: Die resolute Mathelehrerin Madeleine gibt auch mal Widerworte oder kommentiert die Ansagen, Rita stolziert allein auf die Bühne, die über 90-jährige Tova Ringer lässt sich ihr Essen bringen, zum Buffet gehe sie grundsätzlich nicht selbst – eine Folge von über drei Jahre Hunger im Konzentrationslager. Schon am ersten Probentag üben die Kandidatinnen ihren Auftakt zu Gloria Gaynors „I will survive“. Der Popsong leitet programmatisch durch den Film über die Misswahl. Am Tag der Misswahl putzen sich alle Kandidatinnen heraus: kräftiges Make Up, glitzernder Schmuck und elegante Kleider. Die Überlebenden werden von Limousinen aus dem Seniorenheim abgeholt und dabei von der Presse fotografiert. Ihnen wird Aufmerksamkeit geschenkt, eine Geste der Wertschätzung. Wenige Minuten vor Beginn herrscht große Aufregung hinter der Bühne. Dann geht es los: Der Aufgang zu „I will survive“ vor der Jury und den zweitausend Zuschauer:innen, danach werden alle Teilnehmerinnen bei ihren Einzelauftritten auf der Bühne gezeigt. Doch die Zuschauer:innen des Films kennen Überlebensgeschichten einiger Kandidatinnen bereits. Zwischen die Probentage und die Medienstimmen sind Einzelinterviews mit den Zeitzeuginnen geschnitten: Meistens sitzt die Überlebende dabei in ihrer Wohnung in dem Seniorenheim, im Hintergrund Erbstücke oder Familienfotos. Am meisten Aufmerksamkeit schenkt der Film Rita. Aber auch andere Zeitzeuginnen erzählen ihre Geschichte im Einzelinterview vor der Kamera.

Filmstill: Während des Schönheitswettbewerb verbeugt sich Rita Kasimow Brown auf der Bühne in „Miss Holocaust Survivor“. Regie Radek Wegrzyn, Deutschland 2023. © Farbfilm Verleih

Rita Kasimow Brown wurde in der polnischen Kleinstadt Turmont geboren. Bis heute ist Rita eine rebellische Weltenbummlerin, schon als Kind war sie ein Wirbelwind, berichtet sie. Deshalb schickten ihre Eltern sie zu den Großeltern. Als sie schließlich wieder zu ihren Eltern zurückkehrte, war Polen bereits besetzt.

Sie war noch ein junges Mädchen als die Nationalsozialist:innen nach der Besetzung Polens begannen, die Juden dort zu verfolgen. Im Dryswiatti Ghetto verbrachte sie mit ihrer Familie viele Monate, doch der Familie gelang die Flucht. Nach der Flucht aus dem Ghetto suchte die Familie Zuflucht und versteckte sich in Scheunen, Viehschuppen oder Höhlen in den Wäldern. Schließlich fanden sie Zuflucht im „Grub“, einer engen unterirdischen Grube, die 2,5 mal 2 Meter breiten und 1,20m hohen Erdloch, unter dem Stall einer christlich-polnischen Bauernfamilie, wo sich die damals siebenjährige Rita zusammen mit ihrer Schwester, ihrem Bruder und ihren Eltern fast zwei Jahre in der Kälte, hungrig, umgeben von totaler Stille und in vollkommener Dunkelheit versteckte. Rita emigrierte 1949 über Deutschland in die USA. Als sie im Jahr 1974 nach Israel übersiedelte, begann sie in ihrer Malerei ihre Zeit unter der Erde zu verarbeiten. Heute hängt eines ihrer Bilder in Yad Vashem. Rita ist vieles: Religionslehrerin, Psychologin, Psychiaterin, Sexualtherapeutin, Malerin, Mutter, Großmutter. Dreimal war sie verheiratet, jeweils 14 Jahre, immer sieben gute und sieben schlechte, wie sie erzählt.

Ritas Überleben in der Grube inszeniert Wegrzyn über nachgestellte Szenen: Während Schauspieler:innen im Wald oder in der Grube dargestellt werden, liest eine Sprecherin aus dem Off Tagebucheinträge aus Ritas autobiografischer Schrift „Portrait of a Holocaust Child: Memories and Reflections“.

Am Ende macht Rita den zweiten Platz. Zur „Miss Holocaust Survivor“ 2018 wird die 95-jährige Tova Ringer gekürt, die in verschiedenen Lagern, unter anderem Libec (Gabersdorf), Groß-Rosen und Schömberg, überlebte. Bis heute wird sie wütend, wenn jemand Lebensmittel oder Essen einfach wegwirft. Körperliche Fitness ist für sie wichtig, jeden Tag trainiert sie eine Stunde im Fitnessstudio des Seniorenheims. Als sie 1948 nach Israel kam, sprach sie kein Hebräisch, deshalb kam es zu einer Verwechslung, die sie auf ihrem Ausweis zwei Jahre jünger machte: Darüber kann Tova bis heute lachen. Die Mutter von zwei Söhnen, fünf Enkeln, und elf Urenkeln ist stolz darauf, dem Staat Israel „Soldatinnen und Soldaten“ geschenkt zu haben. Wer mehr über Tovas Überlebensgeschichte erfahren will, sollte den Film sehen.

Wann und ob es einen weitere Ausgabe der Misswahl geben wird, ist ungewiss. Die Teilnehmerinnen Rita, Madeleine und Tova, mittlerweile 100 Jahre alt, leben heute noch. 

Wegrzyns Dokumentation „Miss Holocaust Survivor“ proträtiert den Wettbewerb, zeigt, wie die Kandidatinnen dabei ihr Leben feiern. Was der Regisseur nicht zeigt, ist, wie die Kandidatinnen auf der Bühne ihre Überlebensgeschichte erzählen. Im Film erzählen die Überlebenden ihre Geschichten allein mit dem Filmteam vor der Kamera in ihrem gewohnten Umfeld, ihren Wohnungen im Seniorenheim. Einige von ihnen sprechen zum ersten Mal über ihre Erfahrungen.

 

Miss Holocaust Suvivor“ kommt am 9. November 2023 in die deutschen Kinos.

 


[1] Die Halle der Namen - Über die zentrale Datenbank der Namen der Holocaustopfer: Häufig gestellte Fragen ("FAQ"), Frage: Wer gilt als Überlebender des Holocaust?, [zuletzt abgerufen am 09.11.2023].

[2] „Frühe Berechnungen reichen von 5,1 Millionen (Raul Hilberg) bis zu 5,96 Millionen (der Demograph Jacob Leschinsky). Spätere Untersuchungen haben Opferzahlen von 5,59 bis 5,86 Millionen (Israel Gutman und Robert Rozett in der Enzyklopädie des Holocaust) und 5,29 bis 6 Millionen (Wolfgang Benz) ergeben.“ Die Halle der Namen - Über die Zentrale Datenbank der Namen der Holocaustopfer: Häufig gestellte Fragen ("FAQ"), Frage: Wie viele Juden wurden im Holocaust ermordet, und woher stammen diese Zahlen?, [zuletzt abgerufen am 09.11.2023].

[3] Wolfgang Benz: Die Dimension des Völkermords. Einleitung. In: Dimension des Völkermords. Die Zahl der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus. Herausgegeben von Wolfgang Benz. München 1991. S.1.