Die meiste Zeit meines Lebens als Erwachsener habe ich in Israel verbracht, wo ich meine Muttersprache sprach und jüdische Geschichte, Religion und Philosophie aus einer lokalen Perspektive studierte. In den letzten Jahren brachte mich meine akademische Laufbahn jedoch nach Deutschland und in den letzten zwei Jahren nach München, wo ich die Gelegenheit habe, jüdische und israelische Geschichte und Kultur auf Deutsch zu unterrichten (mit einem schweren, lustigen Akzent), Artikel und Bücher zu schreiben, hauptsächlich auf Englisch, und Quellen auf Hebräisch, Aramäisch und Deutsch zu untersuchen. Dennoch habe ich erst nach dem 7. Oktober allmählich verstanden, welche Herausforderungen, Erwartungen, Möglichkeiten und Verantwortungen das Leben in Übersetzung im weiteren Sinne des Wortes mit sich bringt. In diesem Aufsatz möchte ich über zwei Erfahrungen nachdenken, die ich in diesem Jahr gemacht habe, und einige Gedanken zum Forschen, Lehren und Sprechen über Israel-Palästina in Deutschland äußern.
Israel, Antisemitismus und diskursive Grenzen
„Ich bin so froh, dass Sie heute Abend mit uns hier sind. So können wir erfahren, wie sich ein Israeli in diesen Tagen fühlt“, sagte der Moderator vor Beginn eines Zoom-Vortrags, den ich im Januar vor einer Gruppe von ein paar Dutzend Lehrkräften gehalten habe. Ich sollte im Rahmen einer langen Vortragsreihe, die als Reaktion auf den 7. Oktober organisiert wurde, über „Israel in der deutschen Kultur“ sprechen. Die Bemerkungen des Moderators überraschten mich. Ich wollte ja nicht über meine persönlichen Erfahrungen als Israeli in Deutschland sprechen. Ich murmelte daraufhin etwas wie: „Ich bin gerade aus Israel zurückgekommen; es ist schwer; die Menschen sind immer noch im Schockzustand.“
In meinem Vortrag an diesem Abend sprach ich nicht über Israel, sondern darüber, wie Israel in den Schriften zentraler deutschsprachiger Persönlichkeiten wahrgenommen wird. Ich begann mit Franz Kafka, der hoffte, in einem Café in Tel Aviv als Kellner zu arbeiten. Ich fuhr fort mit Deborah Feldmans Überlegungen zur deutsch-jüdischen Identität und zu dem, was sie die „Fetischisierung“ Israels nennt, ging weiter zu einem Roman von Olga Grjasnowa, in dem Israel als ein Ort des Eskapismus beschrieben wird, und schloss mit Maxim Billers ironischen, lustigen und bunten Darstellungen von Israelis und ihren Begegnungen mit Deutschen. Ich hatte gehofft, die Zuhörer/innen davon zu überzeugen, dass der Diskurs über Israel in Deutschland vielfältig ist und über binäre Kategorien und Klischees hinausgeht. Dennoch verlief die Diskussion nicht genau in die Richtung, die ich erwartet hatte, und sie kehrte in verschiedenen Formen zum gleichen Thema zurück: Kritik an Israel und die Grenzen dieser Kritik. Die Teilnehmer/innen waren gespannt auf meine Meinung zu pro-palästinensischen Äußerungen im Schulunterricht und zu jenen Momenten, in denen Kritik in Antisemitismus übergeht. Ich versuchte, meine besten Antworten zu bieten, aber am Ende des Abends hatte ich ein ungutes Gefühl. Mir schien, dass etwas in der Übersetzung (im weiteren Sinne des Wortes) verloren gegangen war; ich versuchte, Grenzen herauszufordern und wurde immer wieder auf sie zurückgebracht.
Im Nachhinein betrachte ich die Dinge anders. Anstelle von Grenzen ziehe ich es vor, über Erwartungen und Übersetzungen nachzudenken. Die tragische und gewalttätige Geschichte Deutschlands und des jüdischen Volkes hat Deutschland zu einem Ort gemacht, an dem die Zukunft des Judentums und die Zukunft Israels und Palästinas eine unvergleichbare Aufmerksamkeit erhielten und weiterhin erhalten, die nach dem Massaker vom 7. Oktober und dem Krieg einen Höhepunkt erreichte. Der deutschsprachige Diskurs über Israel ist jedoch nicht neutral; er repräsentiert verschiedene Formen lokaler Fragen, Ängste, Hoffnungen und Erwartungen. Die Tendenz, den arabisch-israelischen Konflikt zu „lokalisieren“ und ihn im Zusammenhang mit Antisemitismus und anderen Formen des rassistischen Extremismus in Deutschland zu betrachten, ist nicht nur berechtigt, sondern auch notwendig. Die Daten des letzten Jahres haben gezeigt, dass die Ereignisse im Nahen Osten zu einem deutlichen Anstieg der Fälle von Antisemitismus geführt haben, insbesondere in den verschiedenen Bildungssystemen. Außerdem steht der besorgniserregende Anstieg des Rechtsradikalismus in der deutschen Politik in direktem und indirektem Zusammenhang mit dem Krieg in Gaza.
Niemand sollte Opfer rassistischer Gewalt irgendeiner Art sein. Daher besteht eine der Strategien zur Prävention von Antisemitismus darin, Grenzen zu schaffen und bestimmte Verhaltensweisen und Äußerungen als illegitim und gefährlich zu definieren. Die praktischen Maßnahmen zur Bekämpfung des Antisemitismus werden von einem Metadiskurs begleitet, der Fragen beinhaltet wie: Dürfen wir Israel kritisieren, wann wird Kritik zu Antisemitismus, können wir Antisemitismus mit anderen Formen der Rassendiskriminierung vergleichen und so weiter.
Die Metadiskussion über Kritik und Grenzen im Diskurs über Israel kann (wie wahrscheinlich fast jede Metadiskussion) fruchtbar und aufschlussreich sein. Sie kann aber auch überdidaktisch, repetitiv und sogar fetischistisch sein. In allen Fällen versucht die Meta-Diskussion, die Israel-Frage zu „lokalisieren“ und sie in den lokalen deutschen Diskurs und die lokalen drängenden Fragen zu übersetzen. Wenn ich heute über mein Gespräch mit den Lehrkräften im Januar nachdenke, kann ich sie gut verstehen. Sie kamen, um mich zu hören, weil sie ein echtes Interesse an Israel haben, aber sie sehen es aus einer lokalen Perspektive und haben eine Reihe von Erwartungen. Die Frage nach den Grenzen entsprang echtem Interesse, aber sie war wahrscheinlich auch ein Versuch, mich in einen bekannten Diskurs zu „übersetzen“.
Als Wissenschaftler des modernen Judentums und der Israelstudien, der sich nicht als Gast, sondern als Newcomer versteht, glaube ich, dass es meine Aufgabe ist mich zu engagieren und neue Perspektiven auf Israel-Palästina und die Frage des Antisemitismus in Deutschland einzubringen; es ist eine dringende Frage, mit der sich auch Newcomer beschäftigen sollten. Ich bin jedoch ebenso dafür verantwortlich, die „Übersetzung von Israel“ in den deutschen Diskurs zu verkomplizieren bzw. transparenter und vielfältiger zu machen. Dies bedeutet, dass wir manchmal unseren Forschungsgegenstand umstellen und aus einer kritischen Perspektive untersuchen müssen, wie Israel-Palästina von verschiedenen Gruppen und Individuen in der deutschen Gesellschaft über die Generationen hinweg wahrgenommen wurde und wird. Ein Vergleich der verschiedenen Darstellungen von Eretz Israel vor und nach 1948 kann den Reichtum, die inneren Widersprüche und die Veränderungen in der Vorstellung der Deutschen von Israel in der Moderne aufdecken. Er kann uns auch lehren, wie Israel/Palästina im Laufe der Jahrzehnte immer wieder mit lokalen Diskussionen und Konzepten in der deutschen Theologie, Kultur, Politik usw. verknüpft wurde. Das Bewusstsein für die verschiedenen „Israel(s)“ und „Palästina(s)“ im deutschen Diskurs zu wecken, ist von Bedeutung, um die Grenzen der gegenwärtigen Perspektiven zu erkennen und um etwas über Israel/Palästina in Bezug auf, aber auch jenseits binärer Kategorien und diskursiver Grenzen zu erfahren. Die Grenzen der eigenen Perspektive anzuerkennen ist ein entscheidender Schritt, um sie zu erweitern und den Anderen (sei es der Israeli oder der Palästinenser) weniger beängstigend, mehr bekannt und sogar spannend zu machen.
Wissenschaft, Zionismus und Verantwortung
Mitte Juni nahm ich an einer großen Konferenz in Berlin mit dem Titel „Between State and Exile: Rethinking Jewish Politics“ teil. Auf der Konferenz waren einige der wichtigsten Namen der jüdischen Philosophie, Religion und Kulturgeschichte versammelt, Wissenschaftler/innen, die ich während meines Studiums gelesen habe (und auch jetzt noch lese) und die in vielerlei Hinsicht meine intellektuellen Interessen und Fragen geformt haben. Die Atmosphäre auf der Konferenz war anregend, aber auch angespannt. Es schien, dass Ideologie, Wissenschaft und Identität nicht mehr (auch nicht künstlich) voneinander getrennt werden können. Die absolute Mehrheit der Teilnehmer/innen (darunter auch ich) war der Meinung, dass der Krieg in Gaza sofort beendet werden sollte.
Allerdings gab es eine deutliche Kluft zwischen zwei Gruppen von Wissenschaftler/innen: die Wissenschaftler/innen der ersten Gruppe (hauptsächlich aus dem amerikanischen akademischen Umfeld) bezeichnen sich selbst als Nicht-Zionisten oder sogar Anti-Zionisten (allerdings stellt fast keiner von ihnen das Existenzrecht Israels in Frage, aber sie wollen seinen Charakter radikal verändern). Die zweite Gruppe von Wissenschaftler/innen vertritt Ansichten, die auf unterschiedliche Weise verschiedene Formen des Zionismus und des jüdischen Nationalstaates unterstützen, auch wenn einige von ihnen der aktuellen israelischen Rechtspolitik sehr kritisch gegenüberstehen.
In meinem Vortrag habe ich mein aktuelles Forschungsprojekt über die religiösen Ursprünge der zionistischen Bewegung und die Unterschiede zwischen biblischen und talmudischen politischen Theologien dargestellt. Nur um den Kontext zu erklären, würde ich sagen, dass meine Forschung versucht, eine vergessene Erzählung aufzudecken und zu zeigen, wie prominente zionistische Denker eher talmudische als biblische Quellen nutzten, um über das Land Israel und die politische Zukunft des jüdischen Volkes nachzudenken. Die Arbeit mit den talmudischen Quellen schuf eine andere Form der politischen Theologie, die ich „nicht-revolutionären Zionismus“ nenne. Ich behaupte, dass diese talmudische / „nicht-revolutionäre“ Form des Zionismus im Laufe des 20. Jahrhunderts allmählich vernachlässigt wurde, dass sie aber wieder betrachtet und in den aktuellen politischen Diskurs eingebracht werden kann. Als Wissenschaftler, der sich noch in der Frühphase seiner Karriere befindet, lege ich meine politischen Ansichten nicht offen dar und halte mich hauptsächlich an Argumente und Dokumente. Ich habe meine starke Kritik an der israelischen Politik und den aktuellen Interpretationen des Zionismus, aber ich lasse sie im Hintergrund. Diesmal war es mir jedoch nicht möglich, das zu tun. In der Diskussion erfuhr ich einerseits eine echte Großzügigkeit von den anderen Teilnehmer/innen, die sich auf die Details der Argumentation einließen und einige herausfordernde und aufschlussreiche Fragen stellten. An einem bestimmten Punkt erhitzte sich die Diskussion, und ich wurde mit der Frage herausgefordert: „Warum verwenden Sie die Kategorie des Zionismus, eine Kategorie, die per Definition die Palästinenser ausschließt?“ Eine palästinensische Teilnehmerin warf mir sogar vor, ich würde den Krieg und die Tötung ihres Volkes unterstützen, indem ich die Kategorie des Zionismus benutze (Nochmals: Ich bin der Meinung, dass der Krieg in Gaza zum Wohle beider Völker sofort beendet werden muss).
Ich nehme akademische Kritik und emotionale Reaktionen auf meine Arbeit gerne an, auch wenn ich nicht mit ihnen einverstanden bin. Nicht jede Form der Kritik passt in ein Klassenzimmer, aber akademische Veranstaltungen sollten eine „geschützte Zone “ sein, die radikale Kritik und Argumente toleriert, solange sie respektvoll und ohne strukturelle Vorurteile geäußert werden. Angespannte Gespräche und tiefgreifende Meinungsverschiedenheiten sind immer besser, als wenn jede Gruppe in ihrer Echokammer spricht. Als Veranstalter von akademischen Events würde ich mich weiterhin darum bemühen, Wissenschaftler/innen einzuladen, die möglicherweise auch die Meinung vertreten, die ich nicht hören will. Dennoch glaube ich auch, dass es viele überzeugende Wege gibt, die Frage zu beantworten, warum wir weiterhin über die Geschichte des Zionismus sprechen, und sie untersuchen sollten. In meiner Antwort auf der Konferenz, die ich hier erneut formuliere, habe ich noch einmal versucht, meine Erfahrung als israelischer Wissenschaftler zu übersetzen oder dem anderen, der mir zutiefst widersprach, zu erklären.
Vor allem nach dem 7. Oktober sollte die Wissenschaft im Bereich der modernen Jewish/Israel Studies rigoros und fundiert sein, aber auch danach streben, Wandel zu bewirken und sich mit vergessenen Erzählungen auseinanderzusetzen, die kulturelle, soziale und politische Horizonte herausfordern und erweitern könnten. Man kann scheitern, aber man sollte weiter danach streben. Ich strebe in erster Linie nach Wandel, in der Gesellschaft, in der ich lebe, in Deutschland, und in meinem Heimatland Israel. Für die meisten Juden und Jüdinnen, die absolute Mehrheit der israelischen Juden und Jüdinnen (mich eingeschlossen) ist der Zionismus ein zentraler Bestandteil ihrer Identität und ihres Glaubenssystems. Als israelischer Intellektueller bedeutet der Verzicht auf den Zionismus als Kategorie auch den Verzicht auf den echten Versuch, am Projekt der israelischen Gesellschaft weiter zu schreiben und sich um einen Wandel in ihr zu bemühen. Ich stehe meiner Regierung kritisch gegenüber und bin manchmal sogar angeekelt von ihr. Ich glaube, dass sie das zionistische Ethos sowohl für korrupte als auch für radikale Zwecke missbraucht. Es gibt jedoch nicht nur eine Form des Zionismus, und der Zionismus ist sicher nicht das Alleineigentum der radikalsten Regierung in der israelischen Geschichte. Die zionistische Geschichte umfasst verschiedene Narrative, verschiedene Auseinandersetzungen mit der jüdischen Tradition und verschiedene Visionen von einem Leben mit und neben dem palästinensischen Volk. Zum Beispiel verbinden aktuelle Stimmen innerhalb der israelischen religiösen Rechten, aber auch im israelischen Mainstream, den Zionismus mit einem uralten Versprechen, das Land Israel zu besiedeln und zu herrschen, sowie mit verschiedenen Formen jüdischer Macht und Exzeptionalismus. Solche Ideen stammen aus bestimmten Teilen der Bibel, aber auch aus dem frühen Zionismus und können auf Persönlichkeiten wie Max Nordau, Abraham Isaac Kook oder Ze'ev Jabotinsky zurückgeführt werden. Aber es gibt auch alternative Stimmen, die der jüdischen Tradition ebenso verbunden sind, sich aber auf andere biblische und talmudische Quellen stützen, Gewalt grundsätzlich ablehnen und andere Formen des Zusammenlebens mit der arabischen Bevölkerung anstreben. Diese alternativen Stimmen gibt es ebenfalls seit den Anfängen der zionistischen Bewegung und können auf Denker wie Ahad Ha'am, Bernard Lazare oder Hans Kohn zurückgeführt werden. Auch wenn heute der biblische Zionismus die Oberhand hat, die Geschichte bietet die Ressourcen, um auch einen anderen Weg für die Zukunft zu wählen.
Mein Engagement für die vergessene zionistische Vergangenheit ist auch ein Gefühl der Verantwortung für mein Land und mein Volk. Ich weiß, dass meine Position für einige amerikanische Wissenschaftler/innen, die den israelischen Nationalstaat kritisieren, für meine palästinensischen Freunde und Kollegen oder für einige Gruppen in Deutschland, die Israel um jeden Preis verteidigen wollen, schwer zu verstehen ist. Einige Übersetzungsfehler werden immer unvermeidlich bleiben.