Die Bilder und Videoaufnahmen vom 7. Oktober 2023 haben durch ihre Verbreitung in den sozialen Medien weltweit Wirkung entfaltet. Sie haben unter Israelis und Juden Schock und Entsetzen ausgelöst und Assoziationen zu früheren Formen kollektiver Gewalterfahrung provoziert. Sie wurden analysiert und untersucht, dienten zu Information und Propaganda – und wurden bereits in den ersten Tagen nach den Massakern in Zweifel gezogen. Dieser Essay spürt der Wirkung und Funktionsweise dieser Bilder nach und beschreibt Praktiken und Verwendungsformen vor dem Hintergrund visueller Gewaltgeschichte, insbesondere der visuellen Geschichte des Holocaust.
Bildbetrachtung
Einen Tag vor dem Angriff der Hamas auf Dörfer und Gemeinden im Süden Israels, am 6. Oktober 2023, stand ich über einen Tisch gebeugt in einem Altersheim am Rande Berlins. Eine Kamera filmte mich dabei, wie ich auf dem Tisch ausgebreitete Fotografien sortierte, einzelne Bilder in die Hand nahm und betrachtete. Es handelte sich um Dreharbeiten für einen kurzen Film über Fotografien und Filmaufnahmen vom 9. und 10. November 1938. An diesem Tag hatten Tausende von SA-Männern und Zivilisten überall im deutschen Reich Jüdinnen und Juden angegriffen, ihre Geschäfte verwüstet und geplündert, sowie Synagogen geschändet und in Brand gesetzt. In den zumeist von Privatpersonen aufgenommenen Filmen und Fotos sind brennende oder ausgebrannte Gotteshäuser sowie Schaulustige zu sehen, die am Folgetag dieser verheerenden Nacht die Tatorte besichtigen. Viele dieser visuellen Zeugnisse des Novemberpogroms zeigen die Verbrechen aus sicherer Entfernung. Zu erkennen sind zerstörte Gebäude, zerschlagene Schaufenster und mitunter auch auf den Straßen verstreute Gegenstände.
Die Opfer dieser Nacht, jüdische Deutsche, die in den vorangegangenen Jahren bereits systematisch ausgegrenzt und entrechtet worden waren, sind in diesen Fotografien genauso abwesend wie die Gewalt, der sie in dieser Nacht und am Folgetag ausgesetzt waren. In dieser Hinsicht sind diese Fotos und Filmaufnahmen falsche oder zumindest irreführende Zeugnisse. Denn in dieser Nacht und am folgenden Tag kam es tatsächlich zu unvorstellbarer Gewalt und Zerstörung, so dass der später für diese Ereignisse gefundene Begriff „Novemberpogrom“ keine Untertreibung ist. Tausende Geschäfte wurden zerstört. Hunderte Menschen wurden verletzt oder kamen ums Leben. Am darauffolgenden Tag fanden Massenverhaftungen statt. Jüdische Männer wurden in Konzentrationslager verschleppt und dort schikaniert und misshandelt, um sie und ihre Familien zur Ausreise zu zwingen.
Umso erstaunter war ich, als der Regisseur des Films mir einen Stapel Fotos zeigte, auf denen die geschundenen Gesichter der angegriffenen Menschen zu sehen waren. Diese Bilder waren noch nicht lange bekannt. Ein jüdischer US-Soldat hatte sie 1945 bei seinem Aufenthalt in Süddeutschland in einem Album gefunden und mit in die USA gebracht. Dort wurden die Bilder erst nach seinem Tod von seinen Angehörigen gefunden. Plötzlich schauten mich junge Frauen und ältere Männer an, die offensichtlich heftig geschlagen und misshandelt worden waren und in deren Gesichtern noch frische Verletzungen zu sehen waren. In demütigender Absicht standen sie in blutbefleckter Kleidung dem Fotografen gegenüber und wurden als visuelle Trophäen verewigt. Andere Bilder dieser Serie zeigten junge SA-Männer, wie sie das Innere einer Synagoge zertrümmerten. Einer der Männer hält demonstrativ einen Benzinkanister in der Hand und lächelt in die Kamera. Auf einem anderen Foto sieht man das gerade entfachte Feuer. Der Fotograf steht nur wenige Meter davon entfernt. Ganz offensichtlich waren diese Fotografien Teil der verbrecherischen Tat. Die Fotografen und die SA-Männer arbeiteten zusammen, sie unterstützten sich gegenseitig in ihrem abscheulichen Tun. Dieses Verbrechen fand nicht nur in aller Öffentlichkeit statt, sondern sollte, trotz eines offiziellen Veröffentlichungsverbotes, bewusst im Bild festgehalten werden. Ganz offensichtlich war man stolz auf die begangenen Taten. Über 1.200 Synagogen wurden in dieser Nacht zerstört, 30.000 Menschen wurden in der Folge verhaftet und in Konzentrationslager gesperrt. Etwa 1.300 Menschen starben durch das Pogrom. Sie wurden zu Tode geprügelt, erstochen, erschlagen oder nahmen sich aus Angst das Leben.
Bildbezüge
Als ich am nächsten Tag, dem Morgen des 7. Oktobers 2023, erwachte, zeigte eines der ersten Videos, das ich auf meinen Social Media Accounts sah, eine Gruppe von Hamaskämpfern, die auf einem Truck durch die israelische Stadt Sderot fuhren und um sich schossen. Unwillkürlich musste ich an die Aufnahmen von den SS-Männern beim Zertrümmern der Synagoge denken, auch wenn dieses Handyvideo von einem Balkon aus gemacht wurde, auf dem die israelischen Bewohner des Hauses aus der Deckung filmten. Ein anderes Video, das mich Erstarren ließ, weil es mir das schockierende Grauen der von mir bis dato nicht für möglich gehaltenen Ereignisse jenes Morgens so deutlich vor Augen führte, zeigte eine junge Frau, die aus einem Truck gezogen wurde. Ihre Hose war blutverschmiert. Auch in ihrem angstverzerrten Gesicht, das ich für einen kurzen Moment erkennen konnte, waren Verletzungen zu sehen. Sie musste geschlagen, erniedrigt und missbraucht worden sein. Die Menge jubelte. Der junge Mann, der sie vor sich her und dann auf die Rückbank des Autos stieß, fuchtelte mit einer Pistole. Er war ziemlich jung und er schien äußerst euphorisiert zu sein. Ich konnte nicht anders, als an den SA-Mann mit dem Benzinkanister zu denken, der stolz in die Kamera grinst, und an die geschundenen Gesichter der jungen jüdischen Frauen, deren erschrockene Blicke die Fotografen fixieren.
Es ist nicht allein die Ähnlichkeit der Motive, die diese Bezüge aufdrängen. Sowohl die Fotografien vom Novemberpogrom, als auch die Videos vom siebten Oktober zeigen Bilder der Gewalt. Aber die Bezüge, die sich in meiner Betrachtung entfalteten, lassen sich nicht auf konkrete visuelle Topoi zurück führen (vielleicht wäre dann die ikonische Aufnahme des Jungen aus dem Warschauer Ghetto beim Betrachten des Videos der jungen Frau und des jugendlichen Hamaskämpfers mit seiner Waffe naheliegender gewesen), und auch ging es dabei weniger um die medialen Formen visueller Gewalt (die eher an die grausamen Videos der Terrororganisation Islamischer Staat denken lassen). Der Bezug zwischen dem Bildgedächtnis des Holocaust und den Gewaltbildern des siebten Oktobers, der sich mir - auch durch die Koinzidenz der Dreharbeiten am Vortag des Massakers - aufgedrängte, hatte vielmehr mit der Funktionalität der Bilder zu tun. Was das Album mit den Fotos der SA-Gewalt vom 9. November 1938 mir zeigte waren visuelle Trophäen, die die Akte der Zerstörung und die Erniedrigung der Opfer im Bild verewigen und damit komplettieren sollten. Auch am 7. Oktober 2023 war die Produktion von Bildern Teil der ausgeübten Gewalt. Sie war sogar ein entscheidender Bestandteil der schrecklichen Tat. Darum trugen die Terroristen der Hamas, die nach Israel eindrangen und nicht nur in den Militärbasen, sondern auch unter Zivilisten in Dörfern und Städten sowie auf dem Gelände eines Musikfestivals mordeten, zerstörten und brandschatzten, Kameras an ihren Körpern, die die Gewalttaten in sozialen Netzwerken live streamten. Technologisch ging das natürlich weit über die analoge Fotografie und das Album mit eingeklebten Abzügen vom November 1938 hinaus. Die Produktion und Verbreitung von Bildern hat sich durch digitale Produktions- und Distributionsformen intensiviert, sie ist - auch dafür steht der siebte Oktober - eskaliert. Die Hamas hat dabei etwas professionalisiert und im großen Stil durchgeführt, was einerseits im visuell intensivierten Terror des Islamischen Staates (ISIS), andererseits in den Mordtaten digital geschulter und radikalisierter Rechtsterroristen wie in Christchurch oder Halle, wo die Täter ihre rassistisch und antisemitisch motivierten Mordtaten live im Internet verbreiteten, bereits angelegt war. Aber es geht mir weniger um die Menge der von der Hamas an diesem Tag produzierten Trophäen der Unmenschlichkeit, als um die damit transportierte Botschaft.
Die Bilder und Videos hatten eine doppelte Erniedrigung der Opfer zum Ziel. Zum einen dokumentierten und verbreiteten sie die an diesem Tag eskalierte physische Gewalt und Zerstörung mit dem Ziel ihrer Heroisierung, was tatsächlich durch eine entsprechende Rahmung u.a. von Pro-Hamas Accounts aber auch von einigen Social- und Climate-Justice Aktivisten auf Plattformen wie X (formerly known as Twitter), Instagram oder TikTok gelang. Zum anderen aber sollte die Flut der Gräuelbilder auf Telegram, Instagram und TikTok den Israelis nachdrücklich verdeutlichen, dass sie sich nirgends sicher fühlen sollten und die von der Hamas schon lange propagierte Vernichtung jederzeit Wirklichkeit werden könne. Es ging also bei diesen Bildern nicht nur um die Dokumentation der physischen, sondern auch um die Ausübung von symbolischer Gewalt, die ganz deutlich auf die visuelle Geschichte von Gewaltbildern Bezug nahm.
Bildgewalt
Gewalt ist immer auch durch Bilder verbreitet worden. Und Bildproduktion ist auch früher bereits Teil von Gewalthandlungen gewesen. Nicht umsonst wird oft von der Kamera als Waffe gesprochen. Wie bereits angedeutet, lassen sich für die Bilder des siebten Oktobers drei historische Bezugslinien ausmachen. Da ist zum einen das nationalsozialistische visuelle Erbe, vor allem Aufnahmen, die die Erniedrigung und Gewalt von Jüdinnen und Juden, sowjetischen Kriegsgefangenen und anderen von den Nazis bekämpften Menschen zeigen, von öffentlichen Exekutionen, von Erschießungen oder einfach demütigenden Handlungen wie dem Abschneiden von Bärten oder Gewalt und Zerstörung im Kontext der Novemberpogrome. Solche Aufnahmen wurden von Propagandaeinheiten aber eben auch von einfachen Soldaten und sogar Zivilisten gemacht. Auch am siebten Oktober filmten Umstehende und Zivilisten beispielsweise entführte Geiseln oder die Leichen von ermordeten Israelis, die von Hamaskämpfern nach Gaza gemacht wurden, so zum Beispiel das oben erwähnte Video der verletzten Naama Levy, die aus einem Jeep gezerrt wird, oder die Bilder der getöteten Shani Louk auf der Lade eines Trucks. Hier zeigt sich die Ästhetik des Bildes als Trophäe. Auch dabei geht es um eine weitere Erniedrigung. Allerdings dokumentieren solche Aufnahmen eben auch, dass diese Verbrechen vor aller Augen stattfanden und dass Menschen als Zuschauer und Beifallklatschende zu deren Wirkung beigetragen haben. Solche Reaktionen ließen sich auch während des Zweiten Weltkrieges beobachten, als deutsche Soldaten als Schaulustige den Erschießungen von Juden beiwohnten und diese mit ihren privaten Kameras fotografierten oder filmten.
Anders als die Hamas hatten die Nazis aber teilweise eine rigidere Bildpolitik und versuchten die Verbreitung solcher Aufnahmen entsprechend zu kontrollieren und zu regulieren. Aber sie wurden gemacht, und sei es nur für private oder staatliche Archive, und Bilder waren ein elementarer Bestandteil der antisemitischen Ideologie und Propaganda. Aber es zeigt sich hier auch der wichtigste Unterschied zur damaligen Gewaltbildpolitik: solche Bilder zirkulieren heute global als Teil einer weltweit vernetzten Öffentlichkeit im Internet und auf sozialen Medien.
Die zweite Bezugslinie ist der schon angesprochene „Terror der Bilder“ von ISIS und anderen jihadistischen Organisationen. Dies sind Aufnahmen, in denen die Terroristen sich und ihre brutalen Taten in Szene setzen. Dabei geht es um die Zurschaustellungen von Grauen als Machtdemonstration und zur Unterminierung universell geteilter Werte wie Menschenwürde und Schutz des Lebens. ISIS demonstrierte mit Videos von Hinrichtungen die eigene Stärke, und wendete sich damit insbesondere an ihre Anhänger. Gleichzeitig sollten diese Videos das Sicherheitsgefühl der von ihnen als Feinde markierten Menschen erschüttern. Daran orientiert sich auch die Hamas mit der Verbreitung ungefilterten Grauens. Die während der Gewalthandlungen gefilmten GoPro-Aufnahmen sollen den eigenen Willen und militärische Stärke demonstrieren und sie zeigen die eigenen Mordtaten in demütigender Absicht. Zu solchen Aufnahmen gehören Bilder und Videos von geschändeten Körpern und abgetrennten Gliedmaßen, aber auch das Video der 90jährigen Esther Cunio aus dem Kibbutz Nir Oz, die von Hamaskämpfern gezwungen wurde, mit einer Waffe auf ihrem Schoß zu posieren.
Schließlich ist da die durch digitale Medien wie Videospiele und soziale Medien geprägte Kultur der Unmittelbarkeit, die von der Gewaltbildpolitik der Hamas bedient wird. Die Ästhetik der Bilder vom 7. Oktober, zumindest der von der Hamas produzierten und verbreiteten Aufnahmen, ist vor allem durch die Point-of-View Perspektive (POV) der GoPros bestimmt, die die Terroristen verwendeten, als sie Dörfer und Gemeinden überfielen und die Menschen dort brutal ermordeten. Diese Aufnahmen zitieren natürlich nicht ungewollt die Ästhetik von First-Person-Shooter Videospielen. Gewaltdarstellungen, gerade in Handyvideos oder Bodycam-Aufnahmen, generieren Reaktionen in einer medial gesteuerten Affektökonomie die sich durch das Wechselspiel von physischer Distanz und mediatisierten Unmittelbarkeitseffekten auszeichnet. Gewalt dient dabei als Katalysator von Emotionen, sowohl des Schreckens als auch der Faszination. Die Unmittelbarkeit der subjektiven POV der GoPro-Kameras spielt dafür eine zentrale Rolle. Die Zuschauer*innen nehmen virtuell die Perspektive der Terroristen ein. Gleichzeitig wird das Setting derealisiert. Die entfesselte Gewalt in den israelischen Dörfern lässt sich wie in einem Videospiel konsumieren.
Durch die Omnipräsenz von POV in der visuellen digitalen Kultur, beispielsweise auf Plattformen wie TikTok, geraten aber mitunter auch die von der ausgeübten Gewalt Betroffenen in den Fokus der Aufmerksamkeit. Auf TikTok zirkulierten beispielsweise in den letzten Jahren Videos, in denen Nutzer*innen die Aussagen von Opfern sexualisierter Gewalt (MeToo), Terrorismus (9/11) oder gar des Holocaust (TikTok HolocaustChallenge) nachstellen, um auf Gewalterfahrungen aufmerksam zu machen. Dieser Effekt, dass die demütigende Täterperspektive vom empathischen Blick auf einen leidenden Menschen überschrieben wird, bildet auch einen Anknüpfungspunkt für die Umwertung der Bilder des 7. Oktobers, bzw. verbindet die aus der Perspektive der Hamas aufgenommenen Fotos und Videos mit Aufnahmen, die die Betroffenen selbst mit ihren mobilen Kameras gemacht haben. Dazu zählen vor allem kurze Videos vom Nova Festival, in denen die Besucher sich selbst filmen und ihre eigenen angsterfüllten Gesichter oder die ihrer Begleiter dokumentieren. Die „Selfie-Perspektive“ generiert dabei den Eindruck von Nähe und Intimität und wandelt gleichzeitig die passive Position des Betrachteten in die aktive Haltung des die eigene Gewalterfahrung dokumentierenden Zeugen.
Bildbedeutung
Noch am 7. Oktober 2023 zeigte sich, wie diese Funktionalität der global zirkulierenden Bilder des Grauens unterlaufen und ihr Status als Trophäen umgewertet wurden. Menschen, die in Schutzbunkern, in Schränken und unter Betten ausharrten, um der Gewalt der Hamas zu entgehen, nutzten die auf Diensten wie WhatsApp oder Telegram geteilten Bilder, um sich ein Bild der Lage zu machen. Sie versuchten anhand der Fotos und Videos die Positionen der Terroristen zu bestimmen oder ihre Bewegung nachzuvollziehen. Die Aufnahmen der Täter dienten den Betroffenen als Quelle von mitunter überlebenswichtigen Informationen.
Kurz nach den Angriffen vom siebten Oktober dienten Bilder zur Dokumentation der Gewalt und ihrer Folgen. So wurden die online zirkulierenden Aufnahmen gesammelt und entsprechend ausgewertet. Mithilfe von Maschine-Learning-Verfahren konnten Experten große Bildmengen analysieren und sie mithilfe von Bilderkennung mit den Bildern von Vermissten und Entführten abgleichen, um Informationen über deren Verbleib zu sammeln.
Mittlerweile rücken die Gewaltbilder vom siebten Oktober zunehmend in die Ferne. Sie werden zu entfernten Bildern selbst für diejenigen, die sie auch ein Jahr nach dem Massaker nicht vergessen können. In der schnelllebigen Aufmerksamkeitsökonomie der Onlinekommunikation haben längst andere Bilder ihren Platz eingenommen. Das noch immer Unfassbare des siebten Oktobers macht es außerdem nötig, sich immer wieder des Realitätscharakters dieser Aufnahmen zu vergewissern. Im Zeitalter künstlicher Intelligenz lassen sich Bilder nicht mehr nur manipulieren, sie können nahezu photographisch genau generiert werden. Der Krieg in Gaza hat auch diese Entwicklung KI-generierter Gewaltbilder beschleunigt.
Aber die Gewalt des siebten Oktobers verschwindet weder aus der Geschichte noch aus der Erfahrung, wenn wir die Bilder dieser Gewalt unsichtbar machen, in den Archiven wegschließen oder mit dem Stempel „Fake“ versehen. Sie wird auch dadurch nicht weniger monströs, dass wir die Bilder vergleichend einordnen in eine Geschichte der Gewalt, die absieht von deren jeweiliger Qualität. Das Trauma des siebten Oktobers vergeht nicht, wenn wir nur noch von der missbräuchlichen Verwendung dieser Bilder sprechen und nicht von ihrer Funktion, von der mit ihnen ausgeübten Gewalt und den in ihnen konservierten Spuren ausgelöschten Lebens.
Das gilt auch für die Bezüge, die die Bilder in den Betrachtern evozieren, und die teilweise ganz bewusst von denjenigen intendiert waren, die sie produzierten. Der Hamas ging es mit der Eskalation vom siebten Oktober und deren Verstärkung durch die global zirkulierenden Bilder ihrer Gewalt explizit darum, in der israelischen Bevölkerungen Erinnerungen an den Holocaust zu evozieren. Strategen wie der Hamasführer Yahya Sinwar wissen ganz genau um die Bedeutung des Holocaust für die kollektive Psyche in Israel und kennen auch die visuellen Ikonen dieser Geschichte.
Es ist das Prinzip von Bildbezügen, dass sie unvermittelt auftauchen, dass sie als Interpretationsrahmen für gegenwärtige Erfahrungen dienen. Betroffene des Angriffs auf das Nova Festival fühlten sich an Geschichten von Überlebenden über Erdlöcher und Waldverstecke erinnert, als sie selbst in der Erde kauerten, um der Gewalt der Hamas zu entgehen. In Israel und der Diaspora drängten sich ähnliche Bezüge beim Ausbruch der in Videos und Fotos festgehaltenen pogromartigen Gewalt auf. Das zeigte auch mein eigener assoziativer Kurzschluss zwischen den Bildern des siebten Oktobers und den Aufnahmen vom Novemberpogrom 1938.
Daher sollten solche Bezüge zum Anlass für die genaue Betrachtung und Analyse der Bilder werden. Das schließt die vergleichende Analyse ihrer Funktion und der historischen und gegenwärtigen Bild- und Verwendungspraktiken mit ein. Dann wird deutlich, dass wir es hier nicht mit Analogien zu tun haben, sondern mit einer Form visueller Resonanz, mit der Evokation von Bildbeziehungen, die dabei helfen können, die Gegenwart der Gewalt und ihre je spezifische Qualität vor dem Hintergrund der Gewaltgeschichte und ihrer Bilder genauer zu fassen und damit den in den visuellen Zeugnissen konservierten Spuren und Erfahrungen zu ihrem Recht zu verhelfen.
Quellen:
Klaus Bittermann / Tania Martini: Nach dem 7. Oktober: Essays über das genozidale Massaker und seine Folgen. Berlin: Edition Tiamat 2024.
Tobias Ebbrecht-Hartmann: Memefizierter Antisemitismus. Protest und antisemitische Projektion auf TikTok, Instagram & Co im Schatten des 7. Oktobers, Centrum für Antisemitismus- und Rassismusstudien (CARS) an der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen, CARS Working Papers 21, Aachen 2024, DOI: https://doi.org/10.17883/5058.
Forum demokratische Kultur und zeitgenössische Kunst: Gespräch mit dem Filmhistoriker Tobias Ebbrecht-Hartmann über den filmischen Umgang mit der Bildästhetik des Materials der Täter, Kurzfilmtage Channel, 2.4.2024.
Jonathan Guggenberger: „Diese Videos der Geiseln sind für die Hamas Teil ihrer Kriegsführung“, Der Freitag, 13.9.2024.
Ron Leshem: Feuer. Israel und der 7. Oktober. Berlin: Rowohlt 2024.
Jörg Müllner: Antisemitismus 1938. Verbotene Bilder vom Pogrom. Terra X History, 5.11.2023.