von Caroline Rothauge

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20. Dezember 2024

‚Zeitenwende‘ bzw. Zeiten und Wende – was soll das heißen? Auf den ersten Blick scheint die Sache klar: Es gibt eine Zeit und die verändert sich grundlegend. Dabei legt der Begriff der Wende eine Kehre nahe. Basierend auf dem im Westen dominierenden Verständnis von Zeit als einer objektiven Gegebenheit mit linearem Verlauf impliziert die Rede von ‚Zeitenwende‘ somit einen fundamentalen Richtungswechsel in der Zeit, in der wir leben.

Einmal abgesehen von den nicht unwesentlichen Fragen danach, wer mit ‚wir‘ und was genau mit dem ‚Westen‘ gemeint ist, zerrinnen auch vermeintlich gesicherte Auffassungen von ‚Zeit‘ bei näherer Betrachtung: Uhren und andere Apparaturen messen keine ‚Zeit‘, sondern „messen Veränderungen, Dynamiken, Prozesse“ und wir „nennen dies ‚Zeit‘.“[1] Heruntergebrochen ist das, was wir anhand von Uhren und dergleichen Apparaturen als ‚Zeit‘ erachten, das, was wir aufgrund gesellschaftlicher Konventionen gelernt haben, als ‚Zeit‘ zu erachten.

In den Worten des Soziologen Norbert Elias ist der Begriff ‚Zeit‘ ein „kommunizierbare[s] soziale[s] Symbol“,[2] das Orientierungs- und Regulierungsfunktionen erfüllt. Wenn aber, wie wiederum der Historiker Rüdiger Graf es formuliert hat, „Zeit“ und „ihre Messung […] von gesellschaftlichen Übereinkünften ab[hängen]“, dann sind „[s]ie selbst und ihr Erleben […] historisch variabel“.[3] Anders formuliert: Zeiten existieren im Plural, da die mit ihnen verbundenen Ordnungen, Techniken, Apparate und Wahrnehmungen wandelbar sind, und ein jedes Individuum lebt stets „mit beziehungsweise innerhalb mehrerer Zeiten zugleich“.[4] Zeiten ließe sich daher auch als Verb verstehen, also im Sinne eines “to time” als Praktik.[5] Dann wäre unverkennbar, dass Menschen – sei es bewusst oder unbewusst – Zeitordnungen aktiv herstellen und dem Zeiten stets ein zweckgebundener Charakter innewohnt, darunter: ein ‚Vorher‘ und ein ‚Nachher‘ zu bestimmen.

Diese theoretischen Überlegungen lassen sich konkretisieren anhand der jüngst so gehäuft auftretenden Fälle, in denen in Deutschland eine ‚Zeitenwende‘ ausgemacht worden ist bzw. wird: Seit Bundeskanzler Scholz Ende Februar 2022 davon sprach, ist der Begriff in den vielfältigsten Zusammenhängen aufgetaucht und für die unterschiedlichsten Zwecke genutzt worden. Dies gilt beispielsweise für die seitdem so häufig anzutreffende Rede von einer Zeitenwende‘ in der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik, aber auch in der Arbeitswelt, nicht zu vergessen die ‚Zeitenwende‘, die die Erfahrung der Corona-Pandemie für eine Vielzahl von Zeitgenoss*innen markierte. In summa scheint das Wort ‚Zeitenwende‘ besonders gut geeignet zu sein, unterschiedliche aktuelle individuelle wie kollektive Empfindungen wörtlich auf einen Begriff zu bringen.

Neben den verschiedenen Kontexten, in denen diese zeitgenössischen Deutungen jeweils entstanden sind und genutzt werden, offenbart allein obige Auflistung, dass mindestens eine weitere Unterscheidung nötig ist: Wird die ‚Zeitenwende‘ als etwas erachtet, das sich bereits ereignet hat und daher schon da ist, oder wird sie vielmehr (prospektiv) eingefordert? Mit Blick auf den russischen Angriff auf die Ukraine konstatierte Bundesaußenministerin Annalena Baerbock: „Wir sind heute in einer anderen Welt aufgewacht.“[6] Mit Blick auf Arbeitswelten hingegen wird eine ‚Zeitenwende‘ in Deutschland momentan meist (noch) gefordert und nicht etwa als Realität erachtet.[7] Neben der generellen Problematik dessen, welche Zeit überhaupt gemeint ist, enthalten aktuelle Deutungen einer ‚Zeitenwende‘ somit bei näherer Betrachtung unterschiedliche Zugriffe und Sichtweisen auf den Zeitpunkt, an dem eine Wende vermeintlich erfolgt ist bzw. erfolgen sollte.

Und auf einem wiederum anderen Blatt steht die Frage, ob derart postulierte ‚Zeitenwenden‘ zur ‚Zeitenwende‘ werden, sprich: Wird die ‚Zeitenwende‘ und, wenn ja, welche, als solche anerkannt und akzeptiert werden? Es ist also die Frage, wie mit Postulaten einer ‚Zeitenwende‘ von wem, wann und warum umgegangen wird. Zwei Linguistinnen haben beispielsweise darauf hingewiesen, dass das Wort ‚Zeitenwende‘ im ukrainischen Kontext – im Gegensatz zum deutschen – seit 2022 eher positiv konnotiert ist, signalisiere ‚Zeitenwende‘ doch „Veränderungen in der deutschen Politik zugunsten der Ukraine und die Bereitschaft Europas, die Ukraine zu unterstützen“.[8] Neben derartigen Beispielen für nationale Aufladungen des Begriffs sind andere gruppenspezifische Verwendungen heute erkennbar: Der Forderung nach einer ‚Zeitenwende‘ in der Arbeitswelt haben sich vor allem Gewerkschaften und die Partei Die Linke verschrieben. Seit Oktober 2023 machen sich – angesichts des israelisch-palästinensischen Konflikts – je nach politisch-ideologischer Ausrichtung oder generationalen Prägungen Überlegungen zu einer ‚Zeitenwende‘ in der offiziellen deutschen Erinnerungskultur bemerkbar.

Verkomplizierend kommt hinzu, dass es außer aktuellen Deutungen einer ‚Zeitenwende‘ eine Vielzahl sich ständig wandelnder Deutungen von vermeintlich gesetzten ‚Zeitenwenden‘ gibt. Daneben haben ‚Zeitenwenden‘ Konjunktur, die – mit Blick auf Vergangenes – neu ausgemacht werden. Historiker*innen zerteilen „Zeit“ so gut wie immer „in spezifische, kontinuierliche und kohärente Blöcke, die sich von vorhergehenden und nachfolgenden Zeitblöcken unterscheiden“.[9] So hat Frank Bösch kurz vor der Corona-Pandemie ein Buch mit dem Titel Zeitenwende 1979 publiziert. Seinen Ausführungen zufolge „kulminierten [in dem Jahr] in vielen Bereichen und Regionen derartig rasante Veränderungen“, dass sich „von einer ‚Zeitenwende 1979‘“ sprechen lasse, „in der sich die Welt unserer Gegenwart“[10] abgezeichnet habe. Das ist ein ungewöhnlicher Vorschlag gewesen, sind die für und in der (west-)europäischen Geschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts etabliert-anerkannten ‚Zeitenwenden‘ doch die von 1918/19, 1933, 1945 und 1989/90.

Es scheint demnach eine ‚Zeitenwende‘ in der Verwendung des Begriffs ‚Zeitenwende‘ selbst gegeben zu haben: Er dient nun als Oberbegriff dazu, „das Ende einer Epoche oder Ära und de[n] Beginn einer neuen Zeit“[11] in einem gesamtgesellschaftlichen Sinne entweder festzustellen oder aber einzufordern – und ist dabei nicht zwangsläufig an einen politischen Systemwechsel gekoppelt.[12]

Von daher liegen – aus einer kulturwissenschaftlich geprägten historischen Perspektive – Problem wie Attraktivität des Begriffs ‚Zeitenwende‘ in seiner Mehrschichtigkeit und der daraus resultierenden definitorischen Unklarheit. Seiner Popularität wird das keinen Abbruch tun, im Gegenteil, denn: Er passt eigentlich immer. Ob der 24. Februar 2022, der 7. Oktober 2023, der 6. November 2024 oder andere Ereignisse der 2020er Jahre in Zukunft noch als – dann vergangene – ‚Zeitenwende‘ tituliert und eingeordnet werden, ist Spekulation. Wer sich aber über die gegenwärtig inflationäre, vermeintlich beliebige Nutzung eines als vage bis inhaltsleer empfundenen Begriffs ‚Zeitenwende‘ beklagt, verkennt, dass das Wort Gefühle zu transportieren in der Lage ist, die in der aktuellen Denk- und Vorstellungswelt offenbar sehr verbreitet sind.[13] Diese Gefühle lassen sich nutzen – und werden in dem Sinne auch genutzt –, um Gruppenidentitäten zu stärken. Beides sollte man ernst nehmen, gerade als Historiker*in.

 


[1] Geißler, Karlheinz A.: Die Zeiten ändern sich. Vom Umgang mit der Zeit in unterschiedlichen Epochen. In: APuZ B 31/99 (1999), S. 3 – 10, hier S. 3.
[2] Elias, Norbert: Über die Zeit. Arbeiten zur Wissenssoziologie II. Frankfurt a. M. 1984, S. XVIII.
[3] Graf, Rüdiger: Zeit und Zeitkonzeptionen in der Zeitgeschichte. Version: 2.0. In: Docupedia-Zeitgeschichte (22.10.2012), (30.11.2024).
[4] Rothauge, Caroline: Zeiten in Deutschland 1879–1919. Konzepte, Kodizes, Konflikte. Paderborn 2023, S. 3.
[5] Vgl. Elias, Norbert: Über die Zeit. Arbeiten zur Wissenssoziologie II. Frankfurt a. M. 1984, S. 8.
[6] Statement von Außenministerin Baerbock im Anschluss an die Sitzung des Krisenstabes der Bundesregierung im Auswärtigen Amt zum russischen Angriff auf die Ukraine. In: Deutsche Vertretungen in Russland (24.02.2022), (21.11.2024).
[7] Vgl. z. B. Dettmer, Markus et al.: Freitags gehört Vati mir. In: Der Spiegel Nr. 20 (13.5.2023), S. 15; Ruzic, Lars: Zeitenwende in der Arbeitswelt. In: IGBCE Profil (Juni/Juli 2023), S. 20.
[8] Vgl. Dürscheid, Christa; Dyakiv, Khrystyna: Das Schweizer und das deutsche Wort des Jahres 2022. Anmerkungen aus ukrainischer Sicht. In: aptum 19/2+3 (2023), S. 282 – 292, hier S. 288.
[9] Lorenz, Chris: Der letzte Fetisch des Stamms der Historiker. Zeit, Raum und Periodisierung in der Geschichtswissenschaft. In: Fernando Esposito (Hrsg.): Zeitenwandel. Transformationen geschichtlicher Zeitlichkeit nach dem Boom. Göttingen 2017, S. 66 f.
[10] Bösch, Frank: Zeitenwende 1979. Als die Welt von heute begann. München 2019, S. 17.
[11] O. V.: „Zeitenwende“ ist das Wort des Jahres 2022. In: duden.de (o. J.), (21.11.2024).
[12] Vgl. Sabrow, Martin: Zeitenwenden in der Zeitgeschichte. Göttingen 2023, S. 43.
[13] Ebd., S. 8.