Den russischen Angriff auf die Ukraine nahm Bundeskanzler Olaf Scholz Ende Februar 2022 zum Anlass, von einer „Zeitenwende“ zu sprechen. Infolgedessen entfaltete der Begriff eine derartige Omnipräsenz und wurde als Germanismus nicht zuletzt auch im Ausland aufgegriffen,[1] dass die „Gesellschaft für deutsche Sprache“ ihn zum „Wort des Jahres 2022“ gekürt hat. ‚Zeitenwende‘ findet bis heute großen Widerhall in deutschsprachigen Öffentlichkeiten – sei es mit Blick auf die Landesverteidigung und Internationale Beziehungen, die Energiepolitik und den Klimawandel, die Covid-19-Pandemie oder Arbeitswelten (Stichwort: Viertagewoche).
Abgesehen von seiner ungebrochenen Aktualität in den unterschiedlichsten Kontexten in Deutschland heute, ist der Begriff ‚Zeitenwende‘ jedoch nicht neu: Lange mit Christi Geburt bzw. dem Beginn der christlichen Zeitrechnung assoziiert, ist das Wort seit den 1920er Jahren belegt und fand 1973 erstmals Eingang in den Duden. Ebenso wenig neu sind das Kompositum ‚Wendezeit‘ und der Begriff ‚Wende‘ – zumindest deutschen Öffentlichkeiten.[2] Und noch viel weniger neu ist das generell menschliche Bedürfnis, einen Wandel, der als einschneidend empfunden bzw. als solcher dargestellt wird, in Worte zu fassen. Gemein ist diesen Begrifflichkeiten, aktuell wie auch historisch betrachtet: Sie sind als Setzungen anzusehen. Doch: Was genau wird mit ihnen gefasst, in welchen Kontexten sind sie warum entstanden und wie werden sie von wem genutzt?
Die im Rahmen dieses interdisziplinären Dossiers versammelten Beiträge nehmen Beispiele aus Vergangenheit und Gegenwart zum Anlass, Begrifflichkeiten und Erfahrungen, Theorien und Narrative, Praktiken und Ziele rund um ‚Zeit(en)‘ und ‚Wende‘ zu vergleichen und darüber zu reflektieren. So untersucht der Germanist Eckhard Schumacher Konzepte von Wendezeit in Literaturgeschichte und Gegenwartsliteratur nach 1989. Sein Fachkollege Michael Bies geht Vorstellungen einer Zeitenwende nach, die mit dem revolutionären Paris des Juli 1830 assoziiert worden sind. Die Zeit- und Osteuropahistorikerin Clara M. Frysztacka wiederum bringt Jahrhundertwende 1900, Revolution 1905, Zeitenwende 2022 und Nie-wieder-ist-jetzt 2023 zusammen, um danach zu fragen, ob die Zeit wirklich aus den Fugen geraten ist. Die Geschichts- und Kulturwissenschaftlerin Caroline Rothauge nimmt in ihrem Beitrag Überlegungen theoretisch-konzeptueller Art zu den Begriffen ‚Zeit(en)‘ und ‚Wende‘ vor.
Neben dem inhaltlichen Mehrwert der einzelnen Texte bietet deren Zusammenschau als Dossier eine Grundlage dafür, über die Konjunktur des Begriffs ‚Zeitenwende‘ in Deutschland heute weiter – und dabei kritisch – nachzudenken. Das Dossier gründet auf einer Veranstaltung, die Mathias Grote, Michael Stolz und Caroline Rothauge in Kooperation mit dem Alfried Krupp Wissenschaftskolleg organisiert haben und die Anfang Juni 2024 vor Ort in Greifswald stattgefunden hat. Es wird in Zukunft um thematisch passende Beiträge erweitert werden.
[1] Vgl. Dürscheid, Christa; Dyakiv, Khrystyna: Das Schweizer und das deutsche Wort des Jahres 2022. Anmerkungen aus ukrainischer Sicht. In: aptum 19/2+3 (2023), S. 282 – 292, hier S. 286; Bresselau von Bressensdorf, Agnes; Finger, Jürgen: Topos und Kipppunkt: Die ‚Zeitenwende‘. In: dies. et al. (Hrsg.): Kipppunkte. Momente des Wandels im 20. Jahrhundert. Göttingen 2024, S. 333 – 344, hier S. 333 f.
[2] Vgl. Weber, Heike: Einleitung: Wende, Disruption, Exnovation – Eine technikhistorische Replik auf gegenwärtige Metaphern und Fehlstellen einer anstehenden postfossilen Transformation. In: Technikgeschichte Sonderband (2023), S. 7 – 33, hier S. 10 – 17.