So wie in der Geschichtswissenschaft die Selbstverständlichkeit, ‚1989‘ als entscheidende Zäsur zu begreifen, gelegentlich mit einem Fragezeichen versehen wird,[1] ist dieser Einschnitt auch in der Literaturgeschichtsschreibung seit einiger Zeit wieder Gegenstand von Diskussionen. Selbst wenn formelhaft reproduzierte Schlagworte wie „Zeitenbruch“, „Epochenzäsur 1989“ oder „Wendezeit 1989/90“ nahelegen, dass hier ein breiter Konsens herrscht, zeichnet sich ab, dass die Lage so einfach nicht ist.[2] So wird in der Einleitung zum Sammelband Gedächtnis und Identität. Die deutsche Literatur nach der Vereinigung zwar festgestellt, es sei eine „unbestrittene Ansicht“, dass die „Jahre 1989-1990 eine ganz offensichtliche Zäsur auch in der Literatur bestimmen sollten“. Die etwas umständliche Formulierung legt jedoch bereits nahe, dass die Sache schwieriger ist – wobei das „Schwierige“, wie noch im selben Satz betont wird, nicht zuletzt auf der „literaturgeschichtlichen Ebene“ liegt.[3]
In Literaturgeschichten ist der letzte Band bzw. das letzte Kapitel regelmäßig der Gegenwartsliteratur gewidmet, und in den letzten rund 25 Jahren findet man in fast allen Literaturgeschichten den Zusatz „nach 1989“ oder „seit 1989“. Dies ist etwa der Fall in dem Band Deutsche Literaturgeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, in dem sich im letzten Kapitel „Tendenzen der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur seit 1989“ ein Muster abzeichnet, das viele weitere Literaturgeschichten ebenfalls reproduzieren: Das Jahr 1989 wird als „Zäsur“ gesetzt und die Aufmerksamkeit insbesondere auf die „literarische Verarbeitung der ‚Wende‘“ gelenkt.[4] Ähnlich gehen Überblicksdarstellungen wie Deutschsprachige Gegenwartsliteratur seit 1989 oder thematisch fokussierte Sammelbände wie Entwicklungen in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur nach 1989 vor,[5] die jeweils im Titel mit der Chiffre ‚1989‘ immer schon mehr transportierten als nur eine historische Eingrenzung des Gegenstandsbereichs.
Auch Einführungen zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur nutzen die Chiffre ‚1989‘ regelmäßig gleichermaßen als literaturgeschichtliche Zäsur wie zur Markierung einer thematischen Fokussierung. In seiner Studie Die deutsche Gegenwartsliteratur, erschienen 2010, hebt Michael Braun im Unterkapitel „Gegenwartsliteratur seit 1989/90“ aus einer Reihe von relevanten Aspekten zwei gesondert hervor: „Der sichtbarste Epochenschnitt im Sozialsystem Literatur ist das Jahr 1989“, schreibt Braun einleitend und verweist auf Veränderungen der politischen Rahmenbedingungen und der ökonomischen sowie organisatorischen Verhältnisse für Autor*innen wie für Verlage und Verbände. Im folgenden Absatz lenkt er die Aufmerksamkeit dann auf die Thematisierung der ‚Wende‘ in der Literatur. Was zunächst als historische, aber schnell auch als literaturgeschichtlich relevante Zäsur gedeutet wird, erscheint parallel als Gegenstand der Literatur – und nicht zuletzt diese Verschränkung führt, wie Braun betont, zu Komplikationen: „Zugleich wurden die ‚Wende‘ und die deutsche Einheit zu einem einigenden Thema der deutschen Literatur, wiewohl sich die Autoren in der Bewertung der Thematik alles andere als einig waren.“[6]
In Leonhard Herrmanns und Silke Horstkottes Einführungsband Gegenwartsliteratur ist ein eigenes Kapitel „Wende und Einheit“ gewidmet, das im Abschnitt „Wendeliteratur“ ähnliche Fragen aufwirft, zudem aber eine bemerkenswerte Verschiebung der Relationen vornimmt. So erscheinen ‚Wende‘ und ‚Einheit‘ nicht nur als Themen der Literatur, die entsprechend nicht auf die Funktion eines Darstellungs- und Reflexionsmediums historischer Ereignisse reduziert wird. Es wird vielmehr betont, dass „literarisches Handeln und literarische Imagination“ in den „historischen, politischen und sozialen Umbrüchen“ der Jahre 1989 und 1990 eine „wichtige Rolle“ spielten. So weiterführend wie die Beobachtung, dass die historischen Ereignisse unter anderem auf Impulse aus dem Feld der Literatur zurückzuführen sind, ist auch der Hinweis, dass die „nach der Wende entstandenen Texte nicht einfach Repräsentationen von Ereignissen“ sind, sondern vielmehr „Gegenstände“ konstruieren, „die sich in der Wahrnehmung der Zeitgenossen nicht als einheitlich oder verständlich darstellten.“[7]
Besonders deutlich wird dies angesichts der „Forderung nach ‚dem‘ großen Wenderoman“,[8] die zunächst in der Literaturkritik aufgekommen, aber bis heute Gegenstand einschlägiger Diskussionen auch in der Literaturwissenschaft geblieben ist. Was zunächst nur vereinzelt laut wurde, verdichtete sich ab Mitte der 1990er Jahre zu einer feststehenden Wendung, einem Topos der Literaturkritik, der neben der Literaturwissenschaft die Literatur selbst merklich affiziert hat.
So wurde die kurz zuvor schon verschiedentlich laut gewordene Forderung nach einer Rückkehr zum Erzählen – verstanden als Abkehr von experimentellen oder auf andere Weise ästhetisch ambitionierten Schreibweisen – durch eine forcierte Suche nach einem Roman supplementiert und verstärkt, der die ‚Wende‘ literarisch darstellt, verarbeitet, reflektiert und in eine zugleich zugängliche wie dem Ereignis als angemessen empfundene repräsentative Narration überführt. Während kritische Einwände gegen den vielfach geäußerten Wunsch nach dem „großen politisch-historischen Zeitroman“[9] und ironische Reflexionen zur „diffusen Erregung“ angesichts der „ungeheuerlichen Dimensionen“ des „übergroßen Ereignisses“ die Suche nach dem „Roman der ‚Wende‘“[10] bereits Mitte der 1990er Jahre als literarisch wenig ergiebiges, tendenziell unterkomplexes und zugleich immer etwas überanstrengtes Unterfangen sichtbar machten, wird nicht nur eben diese Suche ungebrochen fortgesetzt. Es erscheinen zudem vermehrt Romane, die ihr auf je verschiedene Weise entgegenkommen, sie konterkarieren oder ins Leere laufen lassen. „Seit 1989 geistert das Phantom des Wenderomans durch die Feuilletons“, doch niemand wisse, „was damit gemeint sein soll“, liest man in der NZZ noch 15 Jahre nach der ‚Wende‘.[11] Da aber dennoch (oder deshalb?) „nach dem großen oder definitiven Wenderoman verlangt“ wird, schreibt Brigitte Burmeister – deren 1994 veröffentlichter Roman Unter dem Namen Norma als ein entsprechender Kandidat diskutiert wurde –, werden vor der „Folie einer imaginären Gattung“ die jeweils ausgewählten Romane „immer auch als Texte wahrgenommen, die sie nicht sind, d. h. als mehr oder minder gelungene Varianten des ominösen ‚Wenderomans‘“.[12]
Dazu gehören allerdings ebenfalls Romane, die unübersehbar auf den Ruf nach dem ‚großen Wenderoman‘ reagieren, dies aber auf eine Weise tun, die eher für Irritationen sorgt als zum diffus erwünschten Ziel führt. Dies gilt für Thomas Hettches Nox:[13] ein Roman, der die historischen Ereignisse in der Nacht des 9. November 1989 mit einer Vielzahl von weiteren Ereignissen verknüpft, darunter der schon auf der ersten Seite mit einem Messer kunstvoll begangene Mord am Erzähler, die weitere Entwicklung der Schnittwunde und des beginnenden Verwesungsprozesses sowie diverse Grenzüberschreitungen der Mörderin, zwischen Ost und West ebenso wie im Rahmen drastischer Szenarien sexueller Exzesse, situiert vor dem Hintergrund der anatomischen Sammlung der Charité. Irritationen ausgelöst hat auch Thomas Brussigs Roman Helden wie wir,[14] der im Modus eines Schelmenromans eine kontrafaktische Geschichte des Mauerfalls erzählt. Drastik entsteht hier in Form von Komik, entfaltet einerseits durch die beträchtliche Naivität des Erzählers, die mit einer durchaus anspruchsvollen Auseinandersetzung mit Topoi des Wendezeitdiskurses gekoppelt wird. Für Drastik sorgt andererseits einmal mehr eine Fokussierung auf körperliche Details, insbesondere auf den aufgrund eines medizinischen Missgeschicks versehentlich zu einem Organ von enormer Größe gewachsenen Penis des Erzählers, mit dem er die Grenzbeamten beeindruckt, zur Öffnung der Grenzübergänge bringt und mithin den Fall der Mauer einleitet. Beide Romane präsentieren Versionen des „übergroßen Ereignisses“, das als Ausgangspunkt und Referenz der Erzählung erkennbar bleibt, aber zugleich permanent verschoben, überlagert, überblendet wird. Sie kommen dem Wunsch nach dem ‚Wenderoman‘ unübersehbar entgegen, unterminieren ihn jedoch im Modus der Übererfüllung zugleich grundsätzlich.
Beide Romane sind bereits 1995 erschienen und markieren zusammen mit einigen anderen den Beginn expliziter literarischer Reaktionen auf die Suche nach dem ‚großen Wenderoman‘. Insofern spricht einiges für den Vorschlag, literaturhistorisch vom „Wendejahr 1995“ zu sprechen, wie es ein gleichnamiger Sammelband tut. Dies gilt umso mehr, als in diesem Band das Stichwort der ‚Wende‘ zugleich von der einseitigen und einschränkenden thematischen Fokussierung auf die historischen Ereignisse der Jahre 1989/90 gelöst wird.[15] Nicht nur hier fällt auf, dass mit zunehmendem historischem Abstand vermeintlich selbstverständliche Begriffe wie ‚Zäsur‘ oder ‚Wende‘ neu reflektiert und problematisiert werden.[16] Zudem ist die überraschend selten ausführlicher reflektierte temporale Dimension, die Schlagworte wie ‚Zeitenwende‘ und ‚Wendezeit‘ ja durchaus hervorheben, zuletzt genauer in den Blick genommen worden – etwa von Michael Ostheimer, der ausgehend von der Einsicht, es sei „an der Zeit, den Ausdruck ‚Wende‘ selbst zu befragen“, im Rückgriff auf zeittheoretische Überlegungen von Michael Theunissen mit Blick auf die „Wendezeit“ und das „Zeitdenken in der Post-DDR-Literatur“ sowohl einen „Wandel der Zeiten“ als auch eine „Wende der Zeit“ konstatiert und analysiert.[17] Die Frage nach der Darstellung von Zeitverhältnissen erscheint im gegebenen Zusammenhang derzeit nicht zuletzt insofern wieder relevant, als in den letzten Jahren in der deutschsprachigen Literatur vermehrt Romane erschienen sind, die sich aus der historischen Distanz der Gegenwart der Nachwendezeit widmen.[18] Mit Blick auf die Gegenwartsliteratur, aber auch darüber hinaus, steht damit erneut – und dabei durchaus auf neue Weise – die Frage im Raum, was eigentlich mit der Bezeichnung „nach 1989“ bezeichnet wird und werden kann.
[1] Martin Sabrow u. a. (Hg.): 1989 – Eine Epochenzäsur?, Göttingen 2021.
[2] Vgl. etwa Carola Hähnel-Mesnard: Zeiterfahrung und gesellschaftlicher Umbruch in Fiktionen der Post-DDR-Literatur, Göttingen 2022, S. 10-25; Stephanie Catani: Geschichte im Text. Geschichtsbegriff und Historisierungsverfahren in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, Tübingen 2016, S. 41-50; Michael Ostheimer: „Wendezeit – Wende der Zeit. Zum Zusammenhang von Geschichtsphilosophie und Zeitdenken in der Post-DDR-Literatur“, in: Daniel Fulda/Stephan Jaeger (Hg.): Romanhaftes Erzählen von Geschichte. Vergegenwärtigte Vergangenheiten im beginnenden 21. Jahrhundert, Berlin/Boston 2019, S. 251-276.
[3] Fabrizio Cambi: „Einleitung“, in: Ders. (Hg.): Gedächtnis und Identität. Die deutsche Literatur nach der Vereinigung, Würzburg 2008, S. 9-13, hier: S. 10.
[4] Wolfgang Beutin u. a.: Deutsche Literaturgeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, 9. Aufl., Stuttgart 2019, S. 669-697. [5] Clemens Kammler/Torsten Pflugmacher (Hg.): Deutschsprachige Gegenwartsliteratur seit 1989. Zwischenbilanzen – Analysen – Vermittlungsperspektiven, Heidelberg 2004; Carsten Gansel/Elisabeth Herrmann (Hg.): Entwicklungen in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur nach 1989, Göttingen 2013.
[6] Michael Braun: Die deutsche Gegenwartsliteratur. Eine Einführung, Köln u. a. 2010, S. 26.
[7] Leonhard Herrmann/Silke Horstkotte: Gegenwartsliteratur. Eine Einführung, Stuttgart 2016, S. 33-52, hier: S. 34.
[8] Ebd., S. 45.
[9] Karl Heinz Bohrer: „Erinnerung an Kriterien. Vom Warten auf den deutschen Zeitroman“, in: Merkur 560 (November 1995), S. 1055-1061, hier: S. 1055.
[10] Michael Rutschky: „Das übergroße Ereignis, die geteilten Erzähler. Mutmaßungen über den Roman der ‚Wende‘“, in: Neue deutsche Literatur 43/4 (1995), S. 228-234, hier: S. 228f.
[11] Roman Bucheli: „Wende ohne Ende?“, in: Neue Zürcher Zeitung 10.12.2005.
[12] Karla Kliche/Brigitte Burmeister: „‚Vom Abenteuer des Berichtens‘. Im Gespräch mit Brigitte Burmeister“, in: Berliner Lesezeichen. Literaturzeitung 7/5 (1999), S. 13-17.
[13] Thomas Hettche: Nox, Köln 1995.
[14] Thomas Brussig: Helden wie wir, Berlin 1995.
[15] Heribert Tommek u. a. (Hg.): Wendejahr 1995. Transformationen der deutschsprachigen Literatur, Berlin/Boston 2015.
[16] Vgl. etwa Elke Brüns: Nach dem Mauerfall. Eine Literaturgeschichte der Entgrenzung, München 2006; zuletzt: Karol Sauerland: „Wie wendevoll war die Wende?“, in: Aneta Jachimowitz (Hg.): Wende(n) in Literatur und Kultur. Aktuelle Konzeptualisierungen eines Motivs, Göttingen 2024, S. 25-35, sowie weitere Beiträge in diesem Band.
[17] Vgl. Ostheimer (Anm. 2), S. 251ff.
[18] Vgl. dazu Eckhard Schumacher: „Eskalation erzählen. Nachwendenarration als Gewaltgeschichte“, in: Merkur 895 (Dezember 2023), S. 16-29.