von Ulrike Huhn

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4. April 2022

Picknick am Weserstrand: Rückblick auf ein russisch-ukrainisch-deutsches Begegnungsprogramm

Vor knapp drei Jahren, im Sommer 2019, feierten Studierenden aus der Ukraine, Russland und Deutschland in Bremen mit einem Grillfest am Weserstrand den Abschluss eines herausfordernden Geschichtsprojekts: Ein Jahr lang hatten sie intensiv an einer gemeinsamen Internetplattform gearbeitet, die als "Open Memory Map" Informationen zu Orten der Erinnerung an vergessene Opfergruppen des Nationalsozialismus präsentiert. Der unerklärte Krieg in der Ostukraine begleitete das Projekt.

Dass sich ukrainische und russische Geschichtsstudierende dennoch begegneten, zusammenarbeiteten und austauschten, war ein erklärtes Ziel von Organisator*innen und Geldgebern. Zugleich war es die größte Herausforderung. Dass dies in dieser Form überhaupt möglich war, war auch dem Mut der beteiligten ukrainischen Dozentin von der Staat­li­chen Oles-Hont­schar-Uni­ver­si­tät Dnipro zu verdanken. Sie umging das seit 2014 geltende Kooperationsverbot des ukrai­ni­schen Bil­dungs­ministeriums mit rus­si­schen Part­nern, indem sie das Projekt offiziell als nur bilateral deutsch-ukrainisches Projekt ausgab. Ihre Eltern waren aus dem Norden der damaligen Russischen Unionsrepublik zum Studium nach Dnipro gekommen und hatten in Dnipro eine Heimat gefunden. Deswegen war es ihr ein Herzensanliegen, Begegnung auch mit russischen Studierenden zu ermöglichen.

Die Projektverantwortlichen des Berliner Vereins KONTAKTE-KOHTAKTbI e.V.h und wir beteiligten Dozent*innen genossen das sommerliche Grillfest auch mit einer großen Portion Erleichterung: Die Studierenden hatten sich verstanden, zusammen gestritten, gelacht, feierten nun zusammen. Der neugierige, offene Austausch hatte funktioniert, obwohl alle Gruppen nur in Bremen hatten zusammen kommen können. Ein direkter wechselseitiger Besuch der ukrainischen und der russischen Studierenden in Dnipro, Rostow-am-Don und Moskau war nicht möglich gewesen. Es hatte viele emotionale Momente gegeben. Die Asymmetrie des nicht erklärten Krieges in der Ostukraine hatte das Projekt selbstverständlich belastet und vor allem die ukrainischen Teilnehmer*innen herausgefordert. Ein Student kam aus Donezk, viele hatten direkte Verbindungen dorthin, und die Männer standen vor der Frage, ob sie sich im Falle einer Ausweitung des Krieges zum Armeedienst oder zur Territorialverteidigung ihres Landes melden würden.[1]

Seit dem 24. Februar 2022 hat diese Frage eine bittere Aktualität gewonnen.

 

"… ich bin nicht protestieren gegangen, obwohl jede Nachricht aus der Ukraine mir das Herz zerreißt…"

Wie geht es den beteiligten Studierenden und Dozenten jetzt, in der Ukraine, aber auch in Russland? Wie erlebten sie den Kriegsbeginn, wie die politischen Repressionen gegen Kriegsgegner*innen auf russischer Seite? Ich schrieb Emails an die alten Adressen. Die Dozentin aus Dnipro berichtete von den ersten Luftangriffen auf ihre Stadt. Ein Student aus Dnipro, nun Doktorand an der Universität in Charkiw, schrieb über den Schockzustand der ersten Tage: "Niemand kann glauben, was passiert. Die Menschen versuchen, das Land zu verlassen, aber wissen nicht wie und wohin." Ob die männlichen Studierenden von damals nun in der Armee oder Territorialverteidigung dienen, erfahre ich nicht. Vermutlich können sie es nicht erwähnen.

Sehr ausführlich sind die Antworten aus Russland bzw. von aus Russland stammenden (teils nun ehemaligen) Studierenden, die aus Sicherheitsgründen nur anonymisiert und mit dem mutigen Einverständnis der Schreibenden erscheinen können.

"Mir war in meinem Leben noch nie so schlecht und elend wie in diesen Tagen. Natürlich, das erste, was wir fühlten, war Unverständnis, Schmerz, ein Gefühl von Schuld, und Angst. Alles ist vorbei, stürzt in sich zusammen. Alle Pläne, Träume, mein Weltbild. Ich habe mich nie sehr für Politik interessiert, bin nicht einmal wählen gewesen, weil ich dachte, dass die Ergebnisse sowieso gefälscht werden. Ich wollte einfach in einer ruhigen Welt leben, ohne Kriege und Revolution, arbeiten, Kinder großziehen. Jetzt verstehe ich, wie sorglos und dumm ich war." Und: "Ich gestehe, dass ich nicht protestieren gegangen bin, obwohl jedes Video, jede Nachricht aus der Ukraine mir das Herz zerreißt. Sie wissen, wir leben nicht in einem freien Land. Für die Teilnahme an Protesten konnte man früher die Arbeit verlieren, jetzt drohen richtige Haftstrafen." Auf meine Nachfrage, ob ich ausgewählte Zitate aus ihrem Brief veröffentlichen darf, bedankt sie sich: "Für mich ist es wichtig zu sehen, dass man in der von uns abgeschnittenen Welt versteht, dass wir nicht alle blutrünstige Mörder sind, obwohl die Schuld natürlich bei uns liegt und sich mit jedem Tag des Krieges vergrößert."

Auch ein anderer Student aus Russland, der sich gerade in Deutschland aufhält, beschreibt sein tiefes Gefühl von Verlorenheit: "Ich hatte Angst, dass ich als Russe in der ganzen Welt gehasst werde, weil ich diesen Krieg zugelassen habe. Die Unmöglichkeit, ihn anzuhalten, legte sich wie ein Stein auf meiner Seele. Tatsächlich hat mir unser gemeinsames Projekt geholfen. Mir hat einer der Teilnehmer aus der Ukraine geschrieben, sich für meine Position bedankt, dass dies Krieg ist, dass die Führung der Russischen Föderation Kriegsverbrecher sind. Dann habe ich verstanden, dass die allgemeinmenschlichen Werte weiter gelten, dass es also auch Sinn hat, weiter für sie zu kämpfen. – Mein Vater sagt nun, dass er 'keinen Sohn mehr hat', weil er überzeugt ist, dass es keinen Krieg gibt. Ich habe die Propagandamaschine, die mir meinen Vater genommen hat, noch nie so sehr gehasst wie jetzt." Nun wisse er nicht, ob er zurückkehren und sein Studium an seiner Universität beenden werde, deren Leitung den Krieg erklärtermaßen unterstütze. Und formuliert zugleich seine Zerrissenheit: "Ich befinde mich in Westeuropa, auf mich fallen keine Bomben, ich wache nicht von den Sirenen des Fliegeralarms auf – alle meine Nöte sind ja nur innere."

Eine Studentin ist gegenwärtig mit einem Stipendium in Berlin und beschreibt einen ähnlichen Zwiespalt: "Ich bin in Sicherheit und physisch geht es mir gut." Auch sie muss darüber nachdenken, ob sie in der gegenwärtigen politischen Situation nach Russland zurückkehrt und ihr Studium an einer russischen Universität beendet. Ihre Freunde dort raten ihr ab. Auf meine Frage, ob ich ihre Zeilen an alle anderen Projektteilnehmer*innen weiterleiten darf, fragt sie vorsichtig, ob das angebracht sei, wenn doch die Zukunft der ukrainischen Studierenden viel bedrohter sei. In Berlin engagiert sie sich für die ankommenden Flüchtlinge aus der Ukraine, ist regelmäßig am Hauptbahnhof und übersetzt. "Das hilft mir sehr, in der Spur zu bleiben, nicht den Kontakt mit der Realität zu verlieren und weiter an die menschliche Liebe zu glauben. Und manchmal denke ich auch an unser Projekt zurück – das sind schöne Erinnerungen wie an das Picknick in Bremen, die Diskussionen spätabends über die Politik in unseren Ländern, oder wenn wir plötzlich gemeinsame Interessen festgestellt haben, die gleiche Musik, das gleiche Buch oder die gleichen Serien mögen. Ich erinnere mich, wie die ukrainischen Studies ihren Schmerz über den Krieg im Donbass mit uns geteilt haben – ich konnte damals kaum Worte finden, wie ich auch jetzt keine finde. Das ist aber das, was ich den anderen auch mitteilen möchte: dass die Achtung und die Liebe jedes einzelnen Menschen auf der persönlichen Ebene, nicht von Seiten einer großen oder kleinen Gruppe bestehen bleibt, bleiben muss. Wir konnten diese Verbindung und das Interesse füreinander unabhängig von unserer nationalen Zugehörigkeit erleben. Ich würde mir wünschen, dies nicht zu verlieren, dem Hass, der Verletzung, der Angst, der Bitterkeit, der Verzweiflung, die uns alle in dieser Zeit niederdrücken, zu erlauben, uns diese Liebe und den Glauben an die Menschen zu nehmen."

Wie die ukrainischen Projektteilnehmer*innen diese Bitte und meine Rundmail mit diesen Stimmen aufnehmen, kann ich in diesen Tagen nicht erfahren. Ich kann nur vermuten, dass die Männer in der ukrainischen Armee kämpfen, die Frauen vielleicht versuchen, die Stadt zu verlassen oder schon verlassen haben, die Luftangriffe in den Luftschutzkellern überstehen. Dass sie alle auf ein Ende des Krieges hoffen, um ihr Leben bangen und zugleich dafür kämpfen, in einem selbstbestimmten demokratischen Land zu leben. Und sie diese Stimmen aus dem Land des Aggressors von Menschen, die sie persönlich kennengelernt haben, vielleicht doch erreichen.

 

Das Ende der Begegnung? Stipendien für ukrainische Wissenschaftler*innen auf der Flucht, Kooperationsverbot mit russischen Universitäten

Welche Perspektiven kann es nun gegenwärtig für Begegnungsprojekte zwischen Studierenden in der Ukraine, in Russland und in Deutschland geben?

Für die Ukraine hängt das wesentlich vom weiteren Kriegsverlauf ab. Gegenwärtig drückt sich die Solidarität mit ukrainischen Partnern derzeit vor allem in zahlreichen, sofort aufgelegten Stipendienprogrammen für Wissenschaftler*innen und Studierende aus, die vor dem Krieg aus dem Land geflohen sind. Aufgrund der Ausreisebeschränkungen für Männer im wehrpflichtigen Alter aus der Ukraine sind dies in erster Linie Frauen. Der DAAD unterstützt außerdem die "Bereitstellung von digitalen Angeboten für ihre ukrainischen Partnerhochschulen, solange diese ihren Betrieb aufrechterhalten können."[2]

Für Russland wurden sämtliche Kooperationen unmittelbar nach dem 24. Februar eingefroren. Bereits am 25. Februar 2022 verkündete die Allianz der führenden Wissenschaftsorganisationen in Deutschland, dem neben der Hochschulrektorenkonferenz u.a. die Fraunhofer Gesellschaft, die Leibniz-Gemeinschaft und die Deutsche Forschungsgemeinschaft angehören, sowohl die uneingeschränkte Solidarität mit der Ukraine als auch die Empfehlung, alle wissenschaftlichen Kooperationen mit staatlichen Institutionen in Russland auf Eis zu legen.[3] Der Präsident des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) ergänzte in seiner eigenen Pressemitteilung: "Wir wissen, dass dieser Schritt auch Ungerechtigkeiten schafft und zahlreiche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie Studierende trifft, die sich für friedliche und rechtsstaatliche Verhältnisse sowie gutnachbarschaftliche Beziehungen einsetzen" und "den Feldzug gegen die Ukraine aus tiefstem Herzen ablehnen."[4] Der DAAD fördert aber weiter individuell Stipendiat*innen aus der Russischen Föderation und ist damit eine der ersten Institutionen, die ein Pauschalboykott aufgehoben haben.

In Russland selbst reagierten mutige Wissenschaftler*innen ebenfalls sofort mit verschiedenen offenen Briefen gegen den Krieg mit der Ukraine. Auf der anderen Seite hat sich die russische Union der Hochschulrektoren explizit hinter Putin gestellt. Präsident*innen und Rektor*innen der Universitäten von Kaliningrad bis Kamtschatka, insgesamt 287 Amtsträger, unterzeichneten ein Bekenntnis zu der "Entscheidung Russlands, (…) die Demilitarisierung und Entnazifizierung der Ukraine durchzusetzen und sich damit vor der wachsenden Kriegsgefahr zu schützen." Universitäten seien, so heißt es in diesem offenen Brief weiter, "immer eine Stütze des Staates" gewesen, und so sei es eine ihrer besonderen Verpflichtungen, "die Jugend zum Patriotismus zu erziehen."[5]

Direkten Begegnungen, fachlichem Austausch und studentischen Austauschprogrammen mit russischen Partnern ist damit ein Ende gesetzt. Unterstützung gibt es zur Zeit nur noch für russische Wissenschaftler*innen und für einzelne Studierende, die aufgrund ihrer politischen Positionierung unmittelbar bedroht sind und das Land verlassen müssen, um einer Verhaftung zu entgehen.

 

Eine verlorene Generation? Überlegungen zu möglichen Begegnungsformaten für die nahe Zukunft

Wissenschaftsfunktionäre auf deutscher Seite rufen nun dazu auf, den Kontakt mit der – stark fragmentierten und bedrohten – russischen Zivilgesellschaft zu halten. Allerdings ist klar, dass der Kontakt zu Nichtregierungsorganisationen den Austausch mit Universitäten nicht ersetzen kann, auch angesichts des Drucks, unter dem NGOs als potentielle „ausländische Agenten“ in Russland stehen.

Auf der anderen Seite droht gerade auf studentischer Seite auch angesichts der Corona-Pandemie seit zwei Jahren währenden Einschränkungen von Austauschmöglichkeiten eine „lost generation“, die keine eigenen Einblicke in ausländische Universitäten gewinnen und Kontakte knüpfen konnten. Für den Austausch mit Russland und der Ukraine stellt der Krieg eine zusätzliche Hürde dar, die wohl umso schwerer überwindbar sein wird.

Ich sehe gegenwärtig folgende Möglichkeiten:

Eine Chance für Begegnungen nach Russland bieten die in den letzten zwei Jahren entwickelten digitalen Begegnungsräume im Internet. Auch wenn es angesichts des Kooperationsverbots keine offiziell angebotenen gemeinsamen Seminare und Lehrveranstaltungen geben kann, könnten da, wo es auf Dozentenebene persönliche Kontakte und gewachsenes Vertrauen gibt, aus auf beiden Seiten unabhängig voneinander laufenden Seminaren heraus gemeinsame Seminareinheiten angeboten werden. Klar ist, dass dabei auch Sicherheitsfragen im digitalen Raum geklärt werden müssen. Und dass der analoge persönliche Austausch beim Grillen oder dem Kaffee nach der Seminarsitzung im digitalen Raum nur sehr schwer zu ersetzen ist – dennoch geht es hier darum, überhaupt Kontaktmöglichkeiten herzustellen.

Eine andere Möglichkeit besteht darin, in der kommenden Zeit Begegnungen zwischen russischen und ukrainischen Studierenden anzubieten, die zur Zeit in Deutschland sind. Das wären also einerseits vor allem junge Frauen aus der Ukraine, die vor dem Krieg geflohen sind und hier ihr Studium fortsetzen oder aufnehmen sowie Studierende aus Russland, die bewusst ihre Heimatuniversitäten in Russland verlassen haben. Oft begegnen sich diese Studierenden in ihrem Alltag in Deutschland sowieso. Als Teil einer russischsprachigen Community und weil jene Russen und Belarusen, die gegen den Krieg sind, ihre Sprach- und Landeskenntnisse nun oftmals für Geflüchtete aus der Ukraine einsetzen. Eigene geschützte Räume der Begegnung zu schaffen, könnte aber auch eine Chance sein, mit der jungen Generation bereits an eine Zukunft beider Länder für eine Zeit nach Putin zu denken und auf einer persönlichen Ebene Vertrauen aufzubauen.

Klar ist, dass diese Begegnungen und Seminare auch die Organisator*innen vor neue Herausforderungen stellen und Kenntnisse von Konfliktbearbeitung und Mediation verlangen. Die Granaten- und Bombenangriffe auf Städte in der Ukraine, Fluchterfahrungen, die Toten, Verwundeten und Traumatisierten des Krieges stellen für den direkten Austausch eine enorme Belastung da. Wer in Universitäten und Forschungseinrichtungen in Deutschland dennoch diesen Weg von Dialog und Verständigung unterstützen will, kann dabei von der jahrelangen Expertise und dem Erfahrungsschatz von zivilgesellschaftlichen Vereinen wie etwa der Mobilen Akademie für Geschlechterdemokratie und Friedensförderung e.V. oder das Forum Ziviler Friedensdienst e.V. profitieren, die bereits in vielen Projekten in Osteuropa und im Kaukasus tätig sind.[6]

Der Ruf von universitären Kolleg*innen und Studierenden in der Ukraine wie Russland sowie aus der extrem bedrängten russischen Zivilgesellschaft jedenfalls lautet: Lasst uns nicht allein!

 

[1] Ausführlicher Bericht zum Projekt Ulrike Huhn, Der Krieg der Vergangenheit, der Krieg der Gegenwart. Erfahrungen einer ukrainisch-russisch-deutschen Studierendenbegegnung, 13.9.2019.

[2] Der Deutsche Akademische Austauschdienst (DAAD) mahnt ein Unterstützungsprogramm für die deutschen Hochschulen zur Integration von Studierenden, Forschenden und Lehrenden aus der Ukraine an. Pressemitteilung vom 02.03.2022.

[3] Stellungnahme der Allianz der Wissenschaftsorganisationen: Solidarität mit Partnern in der Ukraine - Konsequenzen für die Wissenschaft vom 25. Februar 2022.

[4] Nach Angriff auf Ukraine. DAAD schränkt wissenschaftlichen Austausch mit Russland ein. Pressemitteilung vom 25. Februar 2022.

[5] Обращение Российского Союза ректоров. 04.03.2022.

[6] OWEN - Mobile Akademie für Geschlechterdemokratie und Friedensförderung e.V und Forum ZFD