von Tano F. Gerke

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1. Oktober 2015

Am Vorabend des Monsters of Rock-Festivals, den 27. August 1988, kommt es in der Schweinfurter Innenstadt und in der Nähe des Festivalgeländes im beschaulichen Kurort Bad Kissingen auf dem fränkischen Land zu Ausschreitungen durch stark alkoholisierte Festivalteilnehmer. Dies sorgt für negative Schlagzeilen, wobei die Berichterstattungen stark polarisieren. Zugleich dokumentieren die Besucherzahlen, die ungebrochene Beliebtheit von Rockfestivals sowohl bei den jüngeren als auch bei den älteren Teilnehmern.

Das Monsters of Rock-Festival findet 1988 bereits zum fünften Mal in Folge in der BRD statt – dieses Jahr sogar in zwei Städten: eine kleinere Version mit 20.000 Besuchern im Bochumer Ruhrstadion, die größere, mit rund 40.000 Besuchern, auf den Mainwiesen in der Nähe von Schweinfurt. Zum Eintrittspreis von 44,- DM sind Rockgrößen wie Iron Maiden, Kiss oder Anthrax zu hören[1] – durchweg Bands, die seit Beginn der 1980er Jahre in Deutschland durch Chartplatzierungen und hohe Tonträgerverkaufszahlen zu den echten Größen der Musikszene zählen. Die Dimension des diesjährigen Festivals lassen die 80 Meter breite Bühne und die 17 Meter hohen Verstärkeranlagen erahnen.[2] Die immensen Besucherzahlen, das kaum überschaubare Gelände und die weltbekannten Bands ließen das Festival zu einem echten Massen- und Medienereignis werden.[3] Seinen Ursprung hat es allerdings in Großbritannien, wo es seit 1980 alljährlich bei Castle Donington in Leicestershire stattfindet.[4]

Doch für Schlagzeilen sorgen im Jahr 1988 in Bad Kissingen, das weniger Einwohner hat als Festivalbesucher, primär die Ausschreitungen.[5] Die Medien ziehen schließlich Bilanz: Ein US-Soldat wurde durch Messerstiche schwer verletzt, Fensterscheiben gingen zu Bruch, Straßenzüge waren mit Glasscherben übersät, Autos wurden demoliert, Ladentüren zertrümmert, Brände mit Hilfe von Gartenzäunen gelegt.[6] Insgesamt wurden 78 Festivalbesucher von der Polizei wegen Sachbeschädigung, Verstößen gegen das Waffengesetz oder Drogenbesitz festgenommen.[7] Für Unmut sorgte im angrenzenden Ort zudem das flegelhafte Benehmen der Besucher.[8] Doch Angriffe auf oder größere Kollisionen mit den Polizeibeamten blieben aus. Selbst der Polizeisprecher betonte, es habe keine Übergriffe gegen seine Beamten gegeben.[9] Dieser Befund ist insofern interessant, weil die britischen Behörden (das Festival fand dort eine Woche zuvor statt) vor Ausschreitungen warnten. Dort kam es während des Festivals zu Todesfällen, zahlreiche Menschen wurden verletzt.[10] Dass das Festival in Deutschland in den vorausgegangenen Jahren stets friedlich und ohne größere Eskapaden veranstaltet wurde, fand indes in den Medien kaum Beachtung. Stattdessen wurde die Musik für das anstößige Verhalten einiger Festivalbesucher verantwortlich gemacht. Die Besucher hingegen beschwerten sich über die schlechte Organisation des Festivals und miserable Infrastrukturen, und schließlich über die unfreundlichen Anwohner.

Musik in der Opposition

Funk-, Soul- und Jazzmusik entwickelten sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einer gesellschaftlichen Gegenbewegung, dies setzte sich in den 1960er und 70er Jahren fort.[11] Eine ganze Generation fand schließlich ein zentrales Identifikationsmerkmal in der Rockmusik. Die Gründe für diese Hinwendung sind verschiedene: Nations- und Religionsgemeinschaft verloren, verursacht durch zwei Weltkriege, zunehmend an Attraktivität; althergebrachte Lebensmodelle der Eltern- und Großelterngeneration büßten an Gültigkeit ein. Auch die voranschreitende Ausdifferenzierung der Gesellschaft führte zu einer intensiven Suche nach neuen Identitäten. Dabei spielten die zunehmende Internationalisierung und transnationale kulturelle Einflüsse ebenfalls eine große Rolle. In der Musik fand sich etwas, worauf eine ganze Generation gewartet hatte. Gerade in den westlichen Industriegesellschaften ist diese Entwicklung nicht zu übersehen, übernimmt doch dort die Musik zunehmend auch eine politische Funktion und wird zum Ausdruck des Protests.[12] Damit trägt sie maßgeblich dazu bei Gegen- und Subkulturen zu bilden, die auf einem bestimmten Musikstil gründen. Diese Entwicklung findet meist in wenig kontrollierten Räumen statt, beziehungsweise entzieht sich bewusst gesellschaftlicher Kontrolle. Diese Unkontrollierbarkeit ist schließlich die Bedingung, für die Entwicklung einer Subkultur zur Gegenkultur.[13] Distinktionsmerkmale, wie Herkunft, Nationalität, Hautfarbe oder Religion rücken dabei meist in den Hintergrund.[14] Ein bestimmter Habitus verleiht diesen Gruppen einen symbolischen Ausdruck, beispielsweise durch einen einheitlichen Kleidungs- und Lebensstil. Nach außen signalisieren diese Stilformen ein Nicht-dazu-gehören wollen.[15] Darauf fokussiert meist die öffentliche Kritik: Musik und Habitus würden von den wichtigen Dingen des Lebens ablenken. Ob unbewusst oder intendiert – allein damit wohnt den meisten subkulturellen Erscheinungen ein politisches Element inne: die Abwendung vom Mainstream und Entziehen der gesellschaftlichen Kontrolle. Dieses Phänomen kann nicht allein auf die westlichen Staaten reduziert werden, sondern findet auch im sogenannten Ostblock seinen Ausdruck.

Die auf musikalischen Stilen gründenden Sub- und Gegenkulturen erfahren im Verlauf der 1970er Jahre einen noch nie dagewesenen Popularisierungsschub – vor allem die Rockmusik. Rockkonzerte nehmen immer größere Dimensionen an, verbuchen immer höhere Zuschauerzahlen und werden zu Massenveranstaltungen, deren Wahrnehmung sich keineswegs nur auf einen kleinen Teil der Gesellschaft reduzieren lässt. Auch wenn der gesellschaftliche Etablierungsprozess musikalischer Massenevents bereits deutlich vorher einsetzt,[16] ist 1988 in der Bundesrepublik das „Rekordjahr an Freiluft-Konzerten“.[17] Zu den Höhepunkten gehören die Konzerte von Pink Floyd oder Michael Jackson vor dem Berliner Reichstag.
Einen interessanten Untersuchungsgegenstand bildet das Jahr aufgrund der Kontroversen, die durch die Veranstaltungen ausgelöst wurden. Gegenwind schlug Rockkonzerten – trotz oder gerade aufgrund ihrer großen Popularität; vor allem wurde Kritik an der stetigen Kommerzialisierung der Rockmusik geübt.

Das Monsters of Rock-Festival bietet sich aus drei Gründen dafür an, den Stellenwert der Rockmusik in der Bundesrepublik im Jahr 1988 zu skizzieren. Erstens spielte das Festival aufgrund der hohen Besucherzahlen (insgesamt rund 60.000) als „größtes Europäisches Rock-Fest des Jahres“[18] eine zentrale Rolle. Die Beliebtheit des Festivals lässt sich folglich nicht von der Hand weisen. Da das Festival zudem seit mehreren Jahren in Deutschland stattfindet, haben wir es nicht mit einer völlig neuartigen Entwicklung zu tun. Zweitens weist das Festival einen internationalen Charakter auf. Zu dieser Internationalität gehört zum einen das englische Vorbild und der Export des Festivals in andere europäische Länder, zum anderen gehören die überwiegend ausländischen Bands und der damit verbundenen Import subkultureller Einflüsse. Und schließlich sorgte das Festival für einen ungeheuren medialen Hype und damit einhergehende Kontroversen innerhalb der bundesdeutschen Öffentlichkeit.

„Dumpf, stampfend, gleichmachend, aggressiv“ – Die Suche nach dem Sündenbock

In der Musikgeschichte der Bundesrepublik riefen nur wenige Musikrichtungen einen gesellschaftlichen Aufschrei hervor. Selbst jene, die noch Jahre zuvor um gesellschaftliche Akzeptanz kämpfen mussten, gehörten 1988 längst zum öffentlichen Mainstream – dazu gehört vor allem die Musik der „68er-Generation“.
Nicht zum gesellschaftlich akzeptierten Musikrepertoire zählten dagegen Bands wie die Böhsen Onkelz, Gruppen aus der Punk-Rock Szene wie etwa Slime, die neu aufkommende Techno-Szene sowie die Black und Heavy Metal-Szene mit ihren verschiedenen Unterkategorien. Die Toten Hosen wiederum, die ebenfalls bis zum Ende der 1980er Jahre zu den Untergrundbands der Punk-Szene gehörten, schafften langsam den Sprung in eine größere Öffentlichkeit.[19] Eine Verschiebung der öffentlichen Wahrnehmung gegenüber unkonventioneller Musik ist unübersehbar.[20] Dennoch, was gehört und was nicht gehört werden durfte, darüber stimmten die Musikfans zwar mit den Füßen ab, doch zeichneten die etablierten Medien, trotz steigender CD-Verkäufe der Metal-Szene, häufig ein anderes Bild.

Eine bundesweite Berichterstattung über das Festival setzte bereits am Samstag, den 27. August ein. Jeder Bundesbürger, so er denn wollte, konnte sich über die Vorfälle informieren. So berichtete die Süddeutsche Zeitung: „Die Invasion [der Metal-Anhänger, T.G.] hatte vor allem in der Nacht vor dem Konzert – mit einigen der bekanntesten Bands der von besonderer Lautstärke gekennzeichneten Stilrichtung ,Heavy-Metal‘ – deutliche Spuren hinterlassen.“[21] Deutlich weniger nüchtern hieß es in der Tagesschau am selben Abend: „In Schweinfurt ist es im Vorfeld eines Hard-Rock Festivals zu schweren Ausschreitungen gekommen. Bis in die Morgenstunden randalierten zweitausend meist betrunkene Fans in der Schweinfurter Innenstadt.“[22] Die Bild-Zeitung wiederum tönte erwartungsgemäß: „Erst dröhnte Rock durch die Stadt, dann lärmte Gewalt durch die Straßen. […] [N]och nie löste Musik in Deutschland so viel Gewalt aus.“[23] Überraschenderweise verstärkte ausgerechnet die linksalternative TAZ diesen Blickwinkel: „Jugendliche Anhänger der lautstarken Heavy-Metal-Musik haben wieder einmal ihren Aggressionen Luft gemacht“.[24] Auch die Abendzeitung schlug in die gleiche Kerbe: „Vor diesen Gästen hatte Schweinfurt Angst: Grölende und pöbelnde Heavy-Metal-Fans“.[25]

Keines der großen bundesrepublikanischen Medien versäumte dabei zu erwähnen, in welchem Kontext diese Ausschreitungen stattfanden. Die Ursachenforschung stützte sich primär auf zwei Faktoren: den starken Alkoholkonsum der Festivalbesucher und die Musik selbst. Entsprechend stellte die Süddeutsche Zeitung fest, dass erst eine „durch starken Alkoholgenuß gesteigerte Aggressivität“ die Besucher zum Vandalismus trieb, wenngleich sie im gleichen Satz betont, es habe sich dabei um eine Minderheit gehandelt.[26] Auch die Polizei hob in ihren Stellungnahmen hervor, es seien meist angetrunkene Fans gewesen, die randaliert hätten. Dass Alkohol mehr als nur eine Nebenrolle spielte, bestätigten Anhänger des Heavy Metal und Festivalteilnehmer sogar selbst. Heißt es doch in Edgar Klüseners Bericht für den Metal Hammer, eine der großen Metal-Zeitschriften der 1980er Jahre: „[E]inige Alkoholleichen kündigten an, was später in der Nacht fernsehgerecht eskalieren sollte.“[27]

Alkohol spielte demnach in den Leiterzählungen eine zentrale Rolle. Ein 16-jähriger Festivalteilnehmer kritisierte ebenfalls, dass sich „einige mit Alkohol zulaufen haben lassen“.[28] Die Bild-Zeitung gab sich in ihrer Analyse damit allerdings nicht zufrieden und suchte den auslösenden Moment in der Musik selbst: „Was ist die Triebfeder für die blutige Randale? Die Antwort: Heavy Metal.“ Apodiktisch wird dieser denn auch als „brüllend lauter Hochgeschwindigkeits-Sound“ betitelt.[29] Diese Argumentation stützt sich auf Aussagen des Heidelberger Psychologen Ulrich Beer, demzufolge die Ursache für die Aggressivität gegen sich und andere aus der Musik selbst komme: „Der unmelodische Metal-Rhythmus schaltet das Bewusstsein der Zuhörer aus. Es kommt zu einem Massenreflex.“[30] Auch die Schweinfurter Volkszeitung bezeichnete die Heavy-Metal-Musik als „dumpf, stampfend, gleichmachend, aggressiv“.[31] Der ortsansässige Jugendpfarrer Hasso von Winning war über den Zustand der Jugendlichen zutiefst erschüttert, denn „nie zuvor habe er in so vielen Augen eine solche Leere gesehen und so viele sich selbst entwürdigende Menschen“.[32] Es scheint für Teile der kleinstädtischen Bevölkerung ein Kulturschock gewesen zu sein, mit Vertretern einer Subkultur in Kontakt gekommen zu sein. Die Ausschreitungen des Festivals boten dabei offenbar nur einen (willkommenen) Anlass, die Musik als Auslöser zu sehen und einen allgemeinen Sittenverfall der Jugend zu postulieren – und dies obgleich im politischen Establishment mitunter sogar Verständnis geäußert wurde. So vertrat das Schweinfurter Stadtratsmitglied Kurt Vogel (CSU) die Ansicht, dass „diese Art von Musik ein Teil ihrer Lebensqualität sei“.[33]

Lokalpolitiker in Aufruhr

Auf lokaler Ebene sorgte das Festival ebenfalls für großen Aufruhr und entfachte innerhalb der bayerischen Landesparteien und Bevölkerung eine lebhafte Debatte, die überraschenderweise nicht ausschließlich an parteiliche Grenzen gekoppelt war. Musik wurde zur politischen Herausforderung, denn bereits im Vorfeld wurde gegen das Festival opponiert. Da es ursprünglich in Nürnberg stattfinden sollte, dort aber keine Genehmigung erhielt – die Säuberung des Festivalgeländes im vorausgehenden Jahr kostete rund 10.000 DM –, wurde es nun in Schweinfurt veranstaltet. Zeitgleich wurde in Nürnberg ein generelles Verbot von Open-Air-Konzerten diskutiert.[34] Wohl auch daher betitelte der CSU-Fraktionschef Edmund Hornung die für Schweinfurt erteilte Genehmigung als „Dummheit“. Sein Parteikollege, der Kreisvorsitzende Hans-Gerhard Stockinger, polarisierte weiter: „Die Summe, die die Stadt als Genehmigungsgebühr kassiert hat, ist der Judaslohn für den Verrat der berechtigten Interessen der Schweinfurter Bürger.“[35] Gerd Ludwig, CSU-Ortsvorsitzender in Deutschhof, ging noch einen Schritt weiter und kritisierte die SPD, die mit dem Festival „etwas Schlechtes, Abträgliches und Nachteiliges“ vorsätzlich angeboten hätte und somit die Jugend negativ beeinflusse. Kurt Vogel (CSU) hingegen stellte sich gegen diese Position und betonte gar, eine Reinigung der Grundstücke der Anwohner durch diese selbst durchführen zu lassen, sei „eigentlich für das eine mal zumutbar“.[36] Da Heavy Metal Fans ebenfalls nicht den besten Ruf in der Gesellschaft genossen, stellte sich die Bevölkerung entsprechend auf das Festival ein:

„Folglich wurde alles verbarrikadiert, die Besucher konnten nichts kaufen oder irgendwo übernachten. Deshalb pennten viele in Grünanlagen oder Parks. Passiert ist nicht viel, sagt Lothar Meder, der damalige Einsatzleiter der Polizei im Nachhinein.“[37]

Rainer Wickermann (SPD) stellte sich auf die Seite der Festivalbesucher und nannte das Denken des CSU-Politikers Hans-Gerhard Stockinger schlichtweg „pervers“.[38] Da allein aus der näheren Umgebung etwa 12.000 Fans anreisten, verteidigte er die erteilte Genehmigung des Festivals guten Gewissens. Selbst der damalige Schweinfurter Bürgermeister (SPD) stellte sich nicht offen gegen das Festival und deren Besucher. Er wolle die Dinge nicht bagatellisieren, doch das Bild, das in den Print- und Rundfunkmedien gezeichnet worden ist, sei stark überspitzt. Man hätte „den Eindruck gewinnen können, als herrsche hier offene[r] Aufruhr“.[39] Doch auch hier äußerte sich schon bald eine Gegenstimme aus den eigenen Reihen. Stadtrat Bernd Köppel (SPD) verteidigte die Berichterstattung in einem Leserbrief und „wies den Vorwurf der Panikmache zurück“. Dabei erinnerte er daran, dass er sich von vornherein gegen diese Veranstaltung ausgesprochen und vor den Auswüchsen gewarnt habe.[40] Es ist auffällig, dass sich der Konflikt über die Beurteilung des Festivals über Parteigrenzen hinaus vollstreckte und letztlich in eine Debatte über Dekadenz und die Selbstbestimmung der Jugend mündete.

Die Berichterstattung hatte weitreichende Folgen und sorgte dafür, dass nur einen Tag später, als das Festival in Bochum stattfand, nahezu die gesamte Innenstadt der Ruhrgebietsstadt abgesperrt wurde. So berichtete das Rock-Hard-Magazin:

Die Folge: Bochum glich am 27. u. 28. August einer Geisterstadt. Fast sämtliche Kneipen hatten aus Angst um ihre Schaufensterscheiben und Inneneinrichtungen geschlossen, wenn nicht sogar die Fassade mit Brettern vernagelt. Die City war wie ausgestorben. Jeder Kuttenträger [wird hier als Synonym für HM-Fans verwendet, T.G.], der auf der Suche nach etwas Eßbarem durch die Stadt pilgerte, wurde von der Polizei durchsucht.“[41]

Im Nachhinein sollten sich die Kneipiers und Gasthausbesitzer über die unnötige Panikmache beschweren, da das Festival in Bochum gänzlich reibungslos verlief. Doch das zuvor von den überregionalen Medien vermittelte Bild des Heavy-Metal-Fans hatte sich bereits fest etabliert. Gegen dieses Negativ-Image suchte sich die Metal-Szene fortan zur Wehr zu setzen – alle großen Sprachorgane der Szene reagierten mit entsprechenden Artikeln.

„Gibt es in diesem Provinznest überhaupt ein Hotel?“

Dass Alkohol einer der Gründe war, warum es am Vorabend des Festivals zu Ausschreitungen gekommen ist, wurde auch von den Metal-Fans nicht übersehen. „[Ü]berall Unmengen von Fans, Deutsche, Amerikaner, Idioten und Besoffene, alles wild durcheinander“,[42] hebt auch Klüsener in seinem Festivalbericht für den Metal Hammer hervor. Die Musikzeitschrift erlebte in der Bundesrepublik zum Ende der 1980er Jahre mit einer Auflage von bis zu 300.000 Stück pro Monat ihren Höhepunkt.[43] Das Schweinfurter Tageblatt verschaffte einer anderen Fan-Stimme Gehör: „Wir hören zwar gerne extreme Musik, aber das geht auch ohne Gewalt“.[44]

Bereits diese Aussagen machen deutlich, dass sich die Szene als weniger homogen verstand, als sie von außen charakterisiert wurde. Mit größtmöglicher Distanz führt Klüsener weiter aus: „besoffene Idioten (Fans wäre wohl das falsche Wort!) machen in der Innenstadt mobil“. Nur wenig später verunglimpft er diese gar als „besoffene Hohlköpfe“. Auch die Autoren aus der Szene versuchten demnach keinesfalls die Geschehnisse zu rechtfertigen, waren jedoch darum bemüht, die aus Sicht der Fans richtigen Ursachen hervorzuheben. Mindestens ebenso große Schuld wie den „Trunkenbolden“ weist Klüsener in seinem Bericht auch dem Veranstalter zu, seien doch offensichtlich weder Festivalgelände noch Ortschaft auf ein solches Massenereignis vorbereitet gewesen. Es sei bereits schwer gewesen, allein das Festivalgelände ausfindig zu machen – „wo zum Teufel ist das gottverdammte Festivalgelände???“ Bereits aufgrund der komplizierten Anfahrt sei auf dem Gelände ein kleines Chaos entstanden. Auch andere Metal-Fans monierten die Organisation des Veranstalters. So kritisierte beispielsweise ein Besucher „daß man hier nicht mehr von dem Gelände [dem Festival-Bereich, Anm. T.G.] runter durfte, wenn man erstmal drauf war“. Eine junge Frau, die bereits mehrere Monsters of Rock besucht hatte, zeigte sich enttäuscht, denn „so mies war es noch nie organisiert“. Ein weiterer Festivalteilnehmer äußerte, als er über den Zustand vor der Bühne befragt wurde, sogar: „ich hatte echt Angst, zusammengedrückt zu werden“.[45]

Die Schweinfurter Einwohner wiederum gaben sich am besagten Wochenende offenbar wenig kommunikativ und wollten mit den Musikfans nichts zu tun haben: „Die Monsters of Rock hatte man ausquartiert vom Orte des Geschehens. Kein Hotel in Schweinfurt frei… oder erhältlich… oder bereit, die Helden des nächsten Tages samt Troß und Anhang aufzunehmen.“[46] Folglich mussten die Festivalbesucher in ihren Autos schlafen oder ihre Zelte auf Grünflächen aufschlagen – „weniger begeistert in dieser Nacht war das bürgerliche Schweinfurt“.[47] Sogar ein im Rollstuhl sitzender Heavy-Metal-Fan musste im Freien nächtigen, da er kein Hotel finden konnte. Der Musiker David Lee Roth, der aufgrund nächtlicher Eskapaden in seinem Hotel im Schlafsack neben der Bühne schlief, wunderte sich: „Gibt es in diesem Provinznest überhaupt ein Hotel?“[48] Ein Schweinfurter Bahnhofs-Gastronom bestätigte das genannte Problem: In seiner Gaststätte übernachteten etliche Musik-Fans, die keine Unterkunft gefunden hatten, am Tresen. Da zudem ein falscher Einlasstermin auf der Eintrittskarte vermerkt war und die Eingangstore nur einmalig passiert werden konnten, war rückwirkend schnell ein weiterer entscheidender Grund gefunden, warum die Festivalbesucher in die Ortschaften zogen: „[D]ie wenigsten Besucher wollten sich nicht schon am Vorabend auf dem Areal einschließen lassen.“[49] Diese Probleme wurden ebenfalls von einem leitenden Polizeiführer vermerkt, der daraufhin die Vorbereitung des Veranstalters und die Sauberkeit bemängelte.[50] Dass sich Müll und Glasflaschen überall auf den Straßen fanden, hatte offenbar noch andere Gründe als betrunkene Musikfans: „Allerdings, wo waren denn die Müllcontainer, wo sollten Fans denn ihre Notdurft verrichten, wenn alle Kneipen rund um das Gelände vernagelt sind?“[51] Zwar zeigten sich einige der Metal-Fans durchaus selbstkritisch, doch hob der Konzertbericht der Zeitschrift Rock Hard noch einmal hervor: „Fazit: nicht die Fans, sondern der/die Veranstalter tragen die volle Verantwortung für evtl. aufgetretene Schäden.“[52]

Der derart an den Pranger gestellte Veranstalter Argo-Konzerte zeichnete hingegen ein vollkommen anderes Bild: Das Festival sei zu seiner vollen Zufriedenheit verlaufen, „wir sind der Meinung, daß die Zusammenarbeit mit den Behörden, der Polizei und den Sanitätsdiensten hervorragend geklappt hat“.[53] Für den eigentlichen Tag des Festivals, einen Samstag, findet diese Perspektive auch in der Lokalpresse Bestätigung. Nach Angaben von Manfred Schäflein, dem Verantwortlichen der Rettungsdienste, gab es bezüglich der Zusammenarbeit nichts zu bemängeln: „Alles arbeitete Hand in Hand. Der Zusammenschluss der Schweinfurter Sanitäts- und Rettungsdienste, Booten des Roten Kreuzes und der DLRG, klappte vorzüglich.“[54]

In den überregionalen Medien von Bild bis zur Süddeutschen Zeitung war von solchen Aspekten indes nichts zu lesen. Trotz der genannten Probleme kam es laut Metal-Hammer am nächsten Tag keineswegs zur „viel beredete[n] Katastrophe“. Vielmehr heißt es dort lapidar: „[D]as ländliche Schützenfest ist schon dramatischer verlaufen.“[55] Deutlich weniger Verständnis brachten die Musikfans jedoch dem Urteil entgegen, die Musik sei für die Ausschreitungen verantwortlich. Mochte die Bild-Zeitung auch gegen die Musikrichtung polemisieren und vordergründig psychologische Ursachenforschung betreiben – die Antwort folgte in der Rock-Hard postwendend:

„,Es war wie im Krieg‘ Na bitte, da haben wirs ja, der Vergleich zwischen Soldaten und 40.000 blutrünstigen Rockern ist wieder hergestellt [...]. [S]ieht ganz so aus als wären die blutrünstigen Phantasien der Bild-Redakteure weitaus grausamer, als die Taten der in Schweinfurt wütenden Chaoten. Wer ,Bild‘ und die Machenschaften der Zeitung kennt, wundert sich nicht über diese Berichterstattung.“[56]

Überhaupt hatte die Bild-Zeitung das entscheidende Argument einfach übersehen, kam doch „die Heavy-Metal Musik [...] laut, unmelodisch und treibend erst am nächsten Morgen. Und als sie zigtausendfach verstärkt aus den PA-Boxen dröhnte“, blieben die Ausschreitungen aus.[57] Für Mille Petrozza, Sänger der Band Kreator, die zu den bekanntesten deutschen Thrash-Metal-Bands zählt, stand außer Frage, dass die Musik selbst nicht aggressiv mache, sondern vielmehr ein Ventil sei, um Aggressionen abzubauen. Offenbar befand sich die Heavy-Metal-Szene im Jahre 1988 inmitten eines stetig zunehmenden Popularisierungsprozesses. Dies zeigte sich einerseits in einer wachsenden Zuhörerschaft, die wiederum für eine veränderte öffentliche Wahrnehmung von Musik-Großereignissen sorgte. Andererseits sahen sich die Anhänger dieses Musikstils dadurch zunehmend mit negativen Fremdzuschreibungen konfrontiert.

 

[1] Frank Schäfer, „Apokalyptische Räumungskommandos“, in: TAZ, vom 14. September 2012. Der Artikel thematisiert die Ereignisse aus dem Jahr 1988.
[2] Elmar Behringer, „Gigantisches Ausmaß“, in: Schweinfurter Volkszeitung, vom 27. August 1988.
[3] Eine Vielzahl der Konzerte wurde aufgezeichnet. So zeigte beispielsweise die Sendung RTL-Mosh einige Ausschnitte und berichtete ausführlich über das Festival. Siehe auch „40.000 bei Rock-Festival“, in: Schweinfurter Tagblatt, vom 29. August 1988.
[4] Siehe dazu den Eintrag „,Monsters of Rock‘ in Europa“, in: Wikipedia. Einige Jahre später nahm die Internationalisierung dieses Großereignisses der Metal-Szene nie gekannte Ausmaße an: Es gab Veranstaltungen in weiten Teilen Europas, den USA, Südamerika und 1991 sogar in der Sowjetunion.
[5] „Die Nacht der kleinen ,Monster‘“, in: Schweinfurter Volkszeitung, vom 29. August 1988.
[6] Tagesschau, vom 27. August 1988. Der Ausschnitt zum Monsters of Rock findet sich auf YouTube. Siehe auch „US-Soldat verletzt“, in: Schweinfurter Volkszeitung, vom 29. August 1988 und „Heavy-Metal-Fan hinter Eisen“, in: TAZ, vom 29. August 1988.
[7] Peter Schmitt, „Rockfans schlugen alles kurz und klein“, in: Süddeutsche Zeitung, vom 28. August 1988 und „Monster-Angst in Schweinfurt“, in: Abendzeitung, vom 29. August 1988.
[8] Karl-Heinz Körblein, „Als die Monster an den Main kamen“, in: Mainpost, vom 25. August 2008 und „Die meisten Fans blieben friedlich“, in: Schweinfurter Tagblatt, vom 29. August 1988.
[9] Holger Stratmann, „Das Monster-Spektakel“, in: Ders. (Hg.), Rock Hard Mania. 20 Jahre Rock und Metal im Überblick. Königswinter 2004, S. 66f. hier S. 67.
[10] Körblein, Als die Monster an den Main kamen (wie Anm. 8).
[11] Hier und im Folgenden Daniel Gäste, Born to be wild. Die 68er und die Musik. Leipzig 2008, S. 18f. und 138.
[12] Ebd, S. 82f.
[13] Albert Scherr, Jugendsoziologie. Einführung in Grundlagen und Theorien. 9. erw. und umfassend überarb. Aufl. Wiesbaden 2009, S. 181.
[14] Sven Reichardt, Authentizität und Gemeinschaft. Linksalternatives Leben in den siebziger und frühen achtziger Jahren. Berlin 2014, S. 572f.
[15] Scherr, Jugendsoziologie (wie Anm. 14), S. 197f.
[16] Wilfried Ferchhoff, „Musikalische Jugendkulturen in den letzten 65 Jahren: 1945–2010“, in: Robert Heyer (Hg.), Handbuch Jugend-Musik-Sozialisation. Wiesbaden 2013, S. 19–127, hier S. 4, 66.
[17] „Picknick im Grünen“, in: Der Spiegel, Nr. 30, vom 25. Juli 1988.
[18] Die Nacht der kleinen „Monster“ (wie Anm. 5).
[19] Pop 2000 – 50 Jahre Popmusik und Jugendkultur in Deutschland, Folge 9 (1983–1989): „Schluss mit lustig“. Die erstmals 1999 ausgestrahlte Musikdokumentation zeichnet die Popularisierung von Pop-Musik und gesellschaftlich unpopulären Musikrichtungen in den 1980er Jahren nach.
[20] Vgl. Wolfgang Müller, Subkultur Westberlin 1979–1989. Hamburg 2013, S. 39. Müller beschreibt, dass auch aus ökonomischer Perspektive gerade zum Ende der 1980er und zu Beginn der 1990er Jahre ein starker Aufschwung in der Musikbranche feststellbar war.
[21] Schmitt, Rockfans schlugen alles kurz und klein (wie Anm. 7).
[22] Tagesschau, vom 27. August 1988 (wie Anm. 6).
[23] Iris Pfeiffer/Rolf Reneschneider, „,Monsters of Rock‘: Gewalt in Schweinfurt“, in: Bild, vom 29. August 1988.
[24] Heavy-Metal-Fan hinter Eisen (wie Anm. 6).
[25] Monster-Angst in Schweinfurt (wie Anm. 7).
[26] Schmitt, Rockfans schlugen alles kurz und klein (wie Anm. 7).
[27] Klüsener, Monsters of Rock (wie Anm. 11).
[28] „Die Randale hat den meisten gestunken“, in: Schweinfurter Tagblatt, vom 30. August 1988.
[29] Pfeiffer/Reneschneider, „Monsters of Rock“: Gewalt in Schweinfurt (wie Anm. 24).
[30] Ebd.
[31] „Ausschreitungen vor Rock-Konzert“, in: Schweinfurter Volkszeitung, vom 29. August 1988.
[32] Ebd.
[33] Zwischen Panikmache und einem Teil Lebensqualität (wie Anm. 11).
[34] Schmitt, Rockfans schlugen alles kurz und klein (wie Anm. 7).
[35] Körblein, Als die Monster an den Main kamen (wie Anm. 8).
[36] Zwischen Panikmache und einem Teil Lebensqualität (wie Anm. 11).
[37] Als Metal noch verängstigte“, in: Das ABC des Franken-Pop (Bayerischer Rundfunk).
[38] Körblein, Als die Monster an den Main kamen (wie Anm. 8).
[39] Stratmann, Das Monster-Spektakel (wie Anm. 9), S. 67.
[40] Zwischen Panikmache und einem Teil Lebensqualität (wie Anm. 11).
[41] Stratmann, Das Monster-Spektakel (wie Anm. 9), S. 67.
[42] Klüsener, Monsters of Rock (wie Anm. 11).
[43] Vgl. Pop 2000 – 50 Jahre Popmusik und Jugendkultur in Deutschland, Folge 9 (1983–1989): „Schluss mit lustig (wie Anm. 20).
[44] „Elf Stunden im Stahlbad der Musik“, in: Schweinfurter Tagblatt, vom 29. August 1988.
[45] Pfeiffer/Reneschneider, „Monsters of Rock“: Gewalt in Schweinfurt (wie Anm. 24).
[46] Hier und im Folgenden „Rock-Splitter“, in: Schweinfurter Tagblatt, vom 29. August 1988.
[47] Ebd.
[48] Hier und im Folgenden ebd.
[49] Stratmann, Das Monster-Spektakel (wie Anm. 9), S. 67.
[50] Die meisten Fans blieben friedlich (wie Anm. 8).
[51] Stratmann, Das Monster-Spektakel (wie Anm. 9), S. 66.
[52] Ebd., S. 67.
[53] Die meisten Fans blieben friedlich (wie Anm. 8).
[54] „Als Frischling unter ,Konzertleichen‘“, in: Schweinfurter Tagblatt, vom 29. September 1988.
[55] Klüsener, Monsters of Rock (wie Anm. 11).
[56] Ebd., S. 67.
[57] Hier und im Folgenden Ebd.