von Andrii Portnov

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24. März 2022

Die moderne westliche Welt bekennt sich bewusst zu Toleranz, zur Achtung lokaler Stimmen, zur Demonstration der Ideale der Gleichheit, auch auf sprachlicher Ebene. Wichtige Elemente dieses Prozesses sind das konsequente ‘Gendering‘, die Betonung der Tatsache, dass der gewählte Begriff die Gruppenidentität nicht verletzt und keine koloniale Optik reproduziert. Wie sieht die deutsche Terminologie in diesem Zusammenhang in Bezug auf die Länder Osteuropas aus?
Bis vor kurzem wurde Belarus durchgängig als „Weißrussland“ bezeichnet. In dieser Verwendung des Wortes wird auf die mittelalterliche Rus' Bezug genommen. Es ist zugleich das deutlichste Beispiel dafür, wie eine scheinbar unschuldige Begriffswahl die Bedeutung der Geschichte vereinfacht und verzerrt. Denn die mittelalterliche Rus' wird heute oft ausschließlich mit dem modernen Russland identifiziert. Sie ist aber nicht identisch mit dem heutigen Russland, Belarus oder der Ukraine; sie ist ein eigenständiges historisches Phänomen, das direkt mit der Geschichte der drei ostslawischen Völker verbunden ist, aber nicht lediglich einem von ihnen gehört.

In den folgenden Ausführungen geht es nicht um die Nationalisierung der Geschichte, sondern um die Gefahr von Doppelstandards bei der Wahl der Terminologie und die Bedeutung einer angemessenen Darstellung der historischen Vergangenheit und Gegenwart. Eine Darstellung, die allen historischen Akteuren Respekt zollt. Und die Komplexität der Geschichte Osteuropas vermitteln und nicht ausblenden will.

 

Kyjiw oder Kiew?

Die Etymologie des Namens der ukrainischen Hauptstadt ist unter Historikerinnen und Historiker immer noch umstritten. Ab dem zehnten Jahrhundert wird die Stadt in byzantinischen Quellen als „Kyjoaba“ bezeichnet, während arabische Autoren die gleiche Siedlung als „Kujaba“ dargestellt. Die ukrainische Lautschrift des Wortes „Kyjiw“ ist (auf den ersten Blick) vielleicht etwas schwieriger auszusprechen als die russische „Kiew“. Aber lässt sich die „Leichtigkeit“ damit erklären, dass sich in der deutschen Sprache immer noch die russische Lautschrift des Namens der ukrainischen Hauptstadt durchgesetzt hat?

Versuche, den ukrainischen Namen „Kyjiw“ im Deutschen zu etablieren, wurden in den 1920er und 30er Jahren in akademischen Zeitschriften unternommen, setzten sich aber zu dieser Zeit nicht durch. Aus irgendeinem Grund erwies sich die deutsche Sprache in dieser Hinsicht als konservativer als das Englische, wo sich die ukrainische Form viel leichter durchsetzte. Die Macht der Gewohnheit ist immer groß. Aber warum soll die Hauptstadt der Ukraine, die sich gegen Putins Aggression wehrt, im Deutschen immer noch in der russischen Umschrift ausgesprochen und geschrieben werden?

 

Dnipro oder Dnjepr?

Der Fluss Dnipro ist die wichtigste Wasserstraße der Ukraine und der bedeutsame Faktor in der Geschichte des Landes. Sowohl geografisch als auch historisch. Bis zur Fertigstellung des Wasserkraftwerkes bei Saporischschja in den 1930er Jahren erschwerten Stromschnellen im Unterlauf des Dnipro die Schifffahrt erheblich. Dort, in der in der Steppe jenseits der Stromschnellen, tauchte Mitte des 16. Jahrhunderts das Phänomen der ukrainischen Kosaken auf. Dieses Gebiet kann als Kontaktzone zwischen Christentum und Islam, zwischen der Polnisch-Litauische Republik und dem Osmanischen Reich bezeichnet werden. Am Unterlauf des Dnipro entstanden kosakische Siedlungen. Und dort begann 1648 der mächtigste Aufstand unter der Führung von Bohdan Chmelnyckyj. Die Kosakenkriege sind zu einem wesentlichen Bestandteil der ukrainischen Kulturmythologie geworden, in der das Bild vom Kosaken als Wortführer der freiheitsliebenden Menschen bis heute fest etabliert ist.

An diesem Fluss liegt meine Heimatstadt, die in ihrer Geschichte viele verschiedene Namen trug. Die Stadt wurde im Rahmen der Erschließung der südlichen Steppe des Russländischen Reiches im Jahr 1776 gegründet und von Fürst Potemkin als südliches Zentrum des gesamten Imperiums konzipiert. Sie wurde nach der Zarin Katharina der Zweiten benannt – Jekaterinoslaw (wörtlich: die Herrlichkeit Katharinas). In der frühen Sowjetära, im Jahr 1926 erhielt die Stadt den Namen ‚Dnipropetrovsk‘, nach dem Fluss und dem Bolschewik Hryhorij Petrowski. Zuletzt wurde sie im Rahmen des Dekommunisierungsgesetztes im Mai 2016 von „Dnipropetrovsk“ in „Dnipro“ umbenannt.[1] Das heißt, dass nur noch der Fluss übrigblieb.

Diese Umbenennungen folgten also immer den politischen Entwicklungen. Aber auch hier geht es um Konsistenz im deutschen Sprachgebrauch: Auf modernen deutschen Karten der Ukraine heißt die Stadt oft „Dnipro“ und der Fluss immer noch „Dnjepr“, was den Eindruck erwecken kann, es handele sich um zwei verschiedene Wörter und Namen. Die Namen sind jedoch identisch. Für den Fluss sollte also dieselbe Bezeichnung verwendet werden, zumindest was seinen Verlauf auf ukrainischem Staatsgebiet angeht.

 

Lviv oder Lemberg?

Im Deutschen hat es sich eingebürgert – vor allem wenn es um die Gegenwart und nicht um die historische Vergangenheit geht – polnische Städte nach der polnischen Phonetik zu benennen. Gdańsk, nicht Danzig. Wrocław, nicht Breslau. Dennoch wird im Zusammenhang mit dem ukrainischen Lviv häufig der deutsche Name „Lemberg“ verwendet. Warum funktioniert in diesem Fall nicht derselbe Mechanismus wie in Wrocław oder Poznań? Liegt es nur daran, dass Lviv etwas mehr als ein Jahrhundert lang Teil des österreichischen und nicht des preußischen Kaiserreichs war und sein deutscher Name daher österreichische Wurzeln hat?

Ich möchte noch einmal betonen, dass es mir in erster Linie um die Wahl des Namens geht, wenn es um die Beschreibung aktueller Ereignisse geht. Wenn es um historische Texte geht, bin ich dafür, die multinationale Geschichte der Stadt so weit wie möglich widerzuspiegeln und sowohl den polnischen (Lwów) als auch den jüdischen (Lvov) Namen zu verwenden.

 

Russisch und Russländisch

Im Russischen gibt es mehrere Wörter für Phänomene, die in der englischen Übersetzung einfach „Russian“ heißen. Im Deutschen kann man jedoch zwischen „Russisch“ und „Russländisch“ unterscheiden. Warum wird sie dann so selten genutzt? Hier ist das offensichtlichste Beispiel. Der heutige Staat wird richtigerweise nicht als „Russische“, sondern als „Russländische“ Föderation übersetzt. Vereinfacht ausgedrückt, handelt es sich um eine Unterscheidung, die mit dem Wortgebrauch von „Englisch“ und „Britisch“ vergleichbar ist. „Russisch“ ist in erster Linie ein ethnischer, kultureller Begriff. „Russländisch“ ist ein territorialer Begriff, der alle Bürger des Landes einschließt (also nicht nur ethnische Russ*innen, sondern alle Staatsbürger*innen). In der modernen Sprache sind diese Wörter manchmal klar abgegrenzt, manchmal vermischt. Wenn wir die Nuancen spüren und die Themen verstehen wollen, lohnt es sich, sie in der Übersetzung zu unterscheiden. Und immer den Kontext zu berücksichtigen.

 

Und wieder Rus

Die Ursprünge des mittelalterlichen Konzepts der Rus' bleiben für Historiker*innen ein Rätsel. Und die politische Manipulation des Begriffs, die ihn ausschließlich mit Russland in Verbindung bringt, ist kein besonderes Geheimnis. Der ukrainische Historiker Dmytro Dorosсhenko schrieb in der Emigration schon in den 1930er Jahren darüber in der Zeitschrift für osteuropäische Geschichte.[2] Sein Aufruf, Verantwortung für die Terminologie zu übernehmen und den Ukrainer*innen und Belarus*innen die historische Subjektivität nicht abzusprechen, ist aber auch heute aktuell. Ich möchte noch einmal betonen, dass es mir nicht darum geht, die Geschichte zu „nationalisieren“, sondern die Aufmerksamkeit unserer akademischen Gemeinschaft auf die Bedeutung der historischen Kontextualisierung, der Achtung lokaler Traditionen und einer kritischen Haltung gegenüber den vorherrschenden Erzählungen zu lenken, die mich zu den obigen Ausführungen veranlasst haben.

 

[1] Vgl. hierzu auch den Beitrag von Tanja Penter in unserem Dossier "Die Wirklichkeit ist angekommen" 
[2] D. Dorošenko, Was ist osteuropäische Geschichte? (Zur Abgrenzung der ukrainischen und russischen Geschichte), Zeitschrift für osteuropäische Geschichte. 1935. Band V. S. 21–67.