von Ulrich Mählert

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18. März 2019

Die Friedliche Revolution des Jahres 1989 rückte die Geschichte der SED-Diktatur und der deutschen Teilung auf die Agenda der bald darauf gesamtdeutschen Erinnerungskultur. Dreißig Jahre später ist die Geschichte der kommunistischen Diktatur selbstverständliches Thema von Museen und Gedenkstätten, Lehrplänen, der Belletristik und TV-Produktionen. Einschlägige Jahrestage werden gleichermaßen im Osten wie im Westen Deutschlands begangen. Wissenschaftliche Studien füllen ganze Bibliotheken. Zeitweilig hieß es sogar, die DDR sei überforscht — eine These, die mehr über den Überdruss ihrer Urhebern als über den Forschungsgegenstand aussagte. Welches Forschungspotential im Thema steckt, zeigt der 2016 erschienene Sammelband „Die DDR als Chance“ auf.[1]

 

Aufbruch von der Insel

Seit Jürgen Kocka im Jahr 2003 der DDR-Forschung selbstreferentielle „Verinselung“ vorgeworfen hatte[2], sehen sich die Vertretern und Vertreterinnen dieses Feldes mit der Forderung konfrontiert, die Geschichte der DDR sowohl in den langen Linien des 20. Jahrhunderts als auch mindestens in der europäischen Zeitgeschichte nach 1945 zu verorten. Die DDR als Teil einer asymmetrisch-verflochtenen Parallelgeschichte Nachkriegsdeutschlands zu betrachten, geht auf ein Konzept des Historikers Christoph Kleßmann zurück.[3] Insbesondere jüngere Historikerinnen und Historiker haben diesen Forschungsansatz in den vergangenen zwei Jahrzehnten aufgegriffen und umgesetzt. Wesentlich schwieriger lässt sich der Anspruch erfüllen, die SED-Diktatur in die Geschichte der ostmitteleuropäischen Nachkriegsdiktaturen einzuordnen. Hierzu fehlt es in der in der einschlägigen Forschungslandschaft zumeist schlicht an Sprachkunde. Und nach wie vor setzen Forschungen zur DDR in aller Regel nach 1945/1949 ein.

Nach wie vor defizitär sind Lokalstudien, die die Alltagsgeschichte der SED-Herrschaft nachzeichnen. Der anhaltende Fokus auf die zentrale Ebene, auf die Durchsetzung und den Erhalt der Diktatur, auf Opposition und Repression spiegelt sich auch in der historisch-politischen Bildungsarbeit wider. In der Folge hat sich bereits in den 1990er Jahren eine Kluft zwischen der vermittelten und der erlebten Geschichte aufgetan, die durch die zurückhaltende Beschäftigung mit dem DDR-Alltag noch vertieft wurde.

 

Ein gesamtdeutscher Dialog

Im Februar 2018 waren ebenso viele Jahre und Tage seit dem Mauerfall vergangen, wie zwischen dem Mauerbau und dem 9. November 1989 lagen. Die deutsche Einheit seit 1990 ist somit zu einem Teil unserer Geschichte geworden. Die treibt heutige Zeitgenössinnen und Zeigenossen oft mehr um, als die vorausgegangenen Jahre der deutschen Teilung. Bislang klammern unsere Erinnerungskultur und historische Bildung die Jahre seit 1990 weitgehend aus. Dabei ist seit einiger Zeit der Deutungskampf über die Folgen der deutschen Einheit für Ostdeutschland neu entbrannt, den die Postkommunisten in den 1990er Jahren so virtuos geführt hatten. An deren Stelle sind nun die Rechtspopulisten getreten, die im Osten erfolgreich das Gefühl des zu kurz gekommen seins schüren. Zugleich usurpieren sie nicht nur die Slogans der Friedlichen Revolution, sondern stellen ihren politischen Kampf gegen die demokratische Ordnung der Bundesrepublik dem Widerstand gegen die SED-Diktatur im Jahre 1989 gleich.

Insofern bedarf es mehr denn je einer gesamtgesellschaftlichen Verständigung über den Charakter der SED-Diktatur und der freiheitlichen Ordnung der Bundesrepublik als auch die Bedeutung der Friedlichen Revolution für die Freiheits- und Demokratiegeschichte.[4] Aber ebenso wichtig ist der Diskurs über die Zeitgeschichte der deutschen Einheit seit 1990. Der muss Misserfolge ebenso offen thematisieren wie er Erfolge benennt. Dabei wird es darauf ankommen, die Jahre 1989/90 nicht mehr als Endpunkt oder Anfangspunkt der historischen Betrachtung zu nehmen. Wer die Entwicklung der deutschen Einheit seit 1990 rekapitulieren und deuten will, muss die Geschichte der DDR und der deutschen Teilung wenigstens seit den 1970er-Jahren kennen und einbeziehen.

 

Gefühltes Wissen infrage stellen

Die Rückschau auf die Ausgestaltung der deutschen Einheit seit 1990 wird von Vorstellungen bestimmt, die sich in den 1990er-Jahren herausgebildet und seitdem konserviert haben. Um das „gefühlte Wissen“ zu hinterfragen und historisch zu grundieren, benötigen wir

  • eine historische Selbstverständigung gleichermaßen über die sozioökonomische Ausgangssituation Ostdeutschlands im Jahre 1989 als auch über die 1990 realiter bestandenen Optionen, was die Ausgestaltung des Wegs zur deutschen Einheit anbelangte.
  • eine Auseinandersetzung mit den ökonomischen Weichenstellungen der 1990er Jahre, insbesondere mit der Rolle der Treuhand, mit deren Auswirkungen auf die ostdeutsche Lebenswirklichkeit, auf den Elitenwandel in Ostdeutschland sowie den verpassten Reformchancen in (West)Deutschland.
  • einen gesamtdeutschen Dialog über die Leistungen wie auch die Härten, die Ostdeutsche nach 1990 erbrachten beziehungsweise erlebten, sowie über den Beitrag, den Ostdeutsche im Westen und Westdeutsche im Osten für das vereinigte Deutschland geleistet haben beziehungsweise leisten.
  • einen differenzierenden Blick auf die unterschiedlichen generationellen Erfahrungen mit dem Umbruch und der Entwicklung seit 1989/90.
  • eine kritische Rückschau auf den Umgang mit der Geschichte der DDR und der deutschen Teilung sowie mit ostdeutscher (Alltags)Kultur seit den 1990er Jahren.
  • mehr Wissen über die langfristigen Folgen jahrzehntelanger Diktaturerfahrungen sowie daran anknüpfender Transformationserfahrungen für Mentalitäten und politisches beziehungsweise gesellschaftliches Handeln.

Eine solche Perspektiverweiterung von Bildungsarbeit und Erinnerungskultur bedarf eines soliden Fundaments, das nur die zeithistorische Forschung liefern kann. Am 3. Oktober 2020 wird die Wiedervereinigung Deutschlands dreißig Jahre zurückliegen. Ab diesem Zeitpunkt wird dann auch sukzessive das Archivgut des Bundes und der Länder zugänglich, das einer 30jährigen Sperrfrist unterliegt. Angesichts der gesellschaftlichen Relevanz zeithistorischer Forschungen zur Geschichte der deutschen Einheit seit 1990 wäre es geboten, für die dafür erforderlichen Aktenbestände die Sperrfrist auf 25 Jahre zu verkürzen.

 


[1] Ulrich Mählert (Hrsg.): Die DDR als Chance. Neue Perspektiven auf ein altes Thema. Berlin: Metropol Verlag 2016.
[2] Jürgen Kocka: Der Blick über den Tellerrand fehlt. In: Frankfurter Rundschau vom 22. 8.2003; ders.: Bilanz und Perspektiven der DDR-Forschung. Hermann Weber zum 75. Geburtstag, in: Deutschland Archiv 36 (2003), S. 764-769.
[3] Christoph Kleßmann: Verflechtung und Abgrenzung. Aspekte der geteilten und zusammengehörigen deutschen Nachkriegsgeschichte, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 29-30/1993, S. 30-41.
[4] Der Autor folgt im Weiteren der Argumentation des von ihm mit verfassten Positionspapiers „Nach 30 Jahren: Wir brauchen einen neuen gesamtdeutschen Dialog! Sozialdemokratische Positionen zur Aufarbeitung (Berlin, 18. Januar 2019)“ [zuletzt abgerufen am 17. März 2019].