Der Topos der jüdischen Rache als Reaktion auf nationalsozialistische Verbrechen ist bereits seit Jahrzehnten ein populäres Thema in Kunst und Literatur und hat spätestens seit Hollywoodfilmen wie Inglourious Basterds (2009) die Aufmerksamkeit einer breiten Öffentlichkeit auf sich gezogen. Quentin Tarantinos Darstellung der jüdischen Nazijäger ist dabei nur eines der bekanntesten Beispiele für ein ganzes Genre von kontrafaktischen Erzählungen, die imaginieren, wie jüdische Überlebende oder ihre Nachfahren Rache an NS Täter*innen nehmen.[1] Vor dem Hintergrund der Gewaltverherrlichung zeigen diese medialen Erzählungen die Bedeutung jüdischer Rache für die Verfolgten auf. Denn sie thematisieren, wie die Vergeltung erlittenen Unrechts das bestehende Machtgefälle zwischen Opfern und Täter*innen umkehren kann und damit zum Ausgangspunkt der Selbstermächtigung der Opfer wird. Darüber hinaus befriedigen Figuren jüdischer Rächer*innen ein kollektives Bedürfnis nach Strafe für die extreme Gewalt des Nationalsozialismus, die in der Realität nur selten geahndet wurde.[2]
Rache als Forschungsgegenstand
Im Gegensatz zu den fiktionalen Darstellungen jüdischer Rächer*innen ist das Thema der unversöhnlichen Holocaustüberlebenden in der geschichtswissenschaftlichen Forschung noch nicht ausreichend betrachtet worden. Dafür gibt es verschiedene Gründe. Die Entstehung der Geschichte der Gefühle als historische Disziplin wird zwar von vielen Historiker*innen bereits mit den Vertretern der Annales-Schule auf den Anfang des 20. Jahrhunderts datiert, aber von einem „emotional turn“ lässt sich insbesondere im deutschsprachigen Raum erst mit Beginn des 21. Jahrhunderts sprechen.[3] Durch die graduelle Etablierung der Untersuchung von Gefühlen aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive, sind auch Racheakte und -gefühle zu einem relevanten Forschungsgegenstand avanciert.
Es handelt es sich bei der Geschichte der Gefühle um eine ‚relativ‘ junge Disziplin der Geschichtswissenschaft und der Umgang mit Quellen, die die Racheakte und -gefühle jüdischer Holocaustüberlebender bezeugen, bringt zusätzliche Schwierigkeiten mit sich. Während den jüdischen Überlebenden des Holocausts heute sowohl in der erinnerungspolitischen Wahrnehmung als auch in der Forschung eine wichtige Rolle als mahnende Autorität und Zeug*innen zukommt, wurden sie lange Zeit in beiden Bereichen marginalisiert.[4] Bis in die 1990er Jahre bezogen sich sowohl in Deutschland als auch international die meisten geschichtlichen Werke über den Nationalsozialismus und den Holocaust nicht auf die Erfahrungen und Aussagen von Opfern, sondern auf die schriftlichen Zeugnisse der Täter*innen.[5] Wenn wir nun an einem Punkt angelangt sind, an dem Politiker*innen und Gedenkstätten auf das Sterben der letzten Holocaust-Überlebenden aufmerksam machen, so muss dabei auch angeführt werden, dass es sowohl Politiker*innen als auch Historiker*innen Jahrzehnte lang versäumt haben diesen zuzuhören und dass eine starke gesellschaftliche Abgrenzung von der persönlichen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus stattgefunden hat .[6]
Die Rolle der Holocaustüberlebenden in der Erinnerungskultur und Forschung hat schlussendlich auch Einfluss darauf, welche Quellen Historiker*innen jetzt zur Verfügung stehen. In seiner gefühlsgeschichtlichen Betrachtung der Bundesrepublik weist Frank Biess darauf hin, dass eine durch die antisemitische Propaganda im Nationalsozialismus geschürte Angst vor jüdischer Rache in der Vorstellung nichtjüdischer Deutscher nach dem Krieg eine reale Bedrohung darstellte und in einigen Fällen sogar zu antisemitischen Angriffen führte.[7] Im Laufe der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde diese Angst allmählich durch ein anderes Narrativ ersetzt. An seine Stelle trat im Fall der Bundesrepublik die sogenannte „Vergangenheitsbewältigung“ – ein spezifisch deutsches Modell der vorgeblich erfolgreichen Aufarbeitung der Verbrechen des Nationalsozialismus, das von Historiker*innen und Aktivist*innen zu Recht kritisiert wird.[8] Weder die Projektionen antisemitischer Vergeltung, noch die darauffolgende erinnerungspolitische Fiktion von Versöhnung zwischen Täter*innen und Opfern, gaben jüdischen Überlebenden Raum um Gefühle der Unversöhnlichkeit offen zu äußern. Das beeinflusste in der Folge auch die Zeugnisse, die Holocaustüberlebende in der unmittelbaren Nachkriegszeit ablegten und trug dazu bei, dass Juden und Jüdinnen oft als passive Opfer dargestellt wurden.[9]
Jüdische Rache als Antwort auf nationalsozialistische Verbrechen
Trotz der angeführten Problematik der Quellenlage gibt es bereits einschlägige Beispiele dafür, dass die Erforschung jüdischer Rache einen wichtigen Beitrag zu einer kritischen Auseinandersetzung mit der kollektiven Erinnerungskultur leisten kann. Hier lässt sich vor allem der spektakuläre – wenn auch letztlich nicht erfolgreiche – Versuch der Nakam Gruppe nennen, die in den Jahren 1945-1946 das Ziel verfolgte, sechs Millionen Deutsche mit Gift zu ermorden.[10] Die Gruppe jüdischer Überlebender plante zunächst in Anlehnung an den antisemitischen Stereotyp der Brunnenvergiftung die Verunreinigung der Trinkwasserversorgung mehrerer deutscher Großstädte. Als dieser erste – Plan A – scheiterte, manipulierte Nakam die Brotlieferung eines Gefangenenlagers nahe Nürnberg mit Arsen und vergiftete so zweitausend der dort inhaftierten deutschen Gefangenen.[11] Obwohl es der Gruppe nicht gelang, die Ermordung von sechs Millionen Jüdinnen und Juden mit dem Tod ebenso vieler Deutscher zu vergelten, sind die Bestrebungen der Nakam Mitglieder ein Beweis dafür, dass Akte jüdischer Rache Teil des Spektrums der Reaktionen der Überlebenden auf die Verbrechen des Nationalsozialismus waren.
Eine deutlich größere Herausforderung ist das Sichtbarmachen von anderen Formen jüdischer Rache, die Laura Jockusch unter dem Begriff „symbolische Rache“ zusammenfasst.[12] Darunter sind zum Beispiel Boykotte deutscher Produkte, der Kampf um justizielle Aufarbeitung, oder auch das Gründen großer, kinderreicher Familien zu verstehen. Einige Überlebende konfrontierten das Tür-an-Tür-Leben mit ehemaligen Täter*innen aber auch dadurch, dass sie intensive Racheszenarien fantasierten, die selbst unausgelebt eine wichtige Strategie waren, um sich in der Nachkriegsgesellschaft zurechtzufinden.[13] Es ist anzunehmen, dass der Großteil jüdischer Rache im Privaten und im alltäglichen Umgang mit nichtjüdischen Deutschen stattfand. Analog dazu lässt sich das Feld der Widerstandsforschung gegen den NS heranziehen, das beweist, dass die Untersuchung vermeintlich kleiner, alltäglicher Akte der Widerständigkeit unser Gesamtverständnis für das Leben während des Nationalsozialismus entscheidend verändern kann.
Was kann die Erforschung von jüdischer Rache zu einer kritischen Auseinandersetzung mit Erinnerungskultur beitragen?
Sich kritisch mit Erinnerungskultur auseinanderzusetzen bedeutet, tradierte Narrative wie das der Vergangenheitsbewältigung“zu hinterfragen und zu dekonstruieren. Es bedeutet auch, ein Spektrum jüdischer Antworten und Reaktionen auf die Verbrechen des Nationalsozialismus abzubilden – insbesondere dann, wenn dies nicht der historischen Erzählung von erfolgreicher Versöhnung und Aufarbeitung der Geschichte entspricht. Die Erforschung jüdischer Rache kann in diesem Sinne dazu beitragen, indem sie die Erfahrungen von Holocaustüberlebenden abseits der identitätsstiftenden Momente der Nachkriegszeit sichtbar macht und Narrative der Passivität und Versöhnlichkeit widerlegt.
[1] So z.B. Hunters (Seattle: Amazon Prime Video, 2020-2023) und Schächten (Wien: Cult-Film, 2022).
[2] Achim Doerfer, “Irgendjemand musste die Täter ja bestrafen“: Die Rache der Juden, das Versagen der deutschen Justiz nach 1945 und das Märchen deutsch-jüdischer Versöhnung (Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2021), 111-112; zur Einordnung des Begriffs „extreme Gewalt“ in Bezug auf den Nationalsozialismus beziehe ich mich auf Janine Fubel, Krieg, Bewegung und extreme Gewalt: Die Auflösung des Konzentrationslagers Sachsenhausen 1945 (Göttingen: Wallstein Verlag, 2025), 16.
[3] Jan Plamper, The History of Emotions: An Introduction (Oxford: OUP, 2015), 59-63.
[4] Carolyn J. Dean, The Moral Witness: Trials and Testimony after Genocide (Ithaca/London: Cornell University Press, 2019), 130.
[5] Laura Jockusch, Collect and Record! Jewish Holocaust Documentation in Early Postwar Europe (Oxford: Oxford University Press, 2012), 196-200.
[6] Diese persönliche Abgrenzung zeigt sich z.B. in den Ergebnissen der MEMO Studie 2020. Hier gaben 67,9% der Befragten an unter ihren Vorfahren keine NS-Täter*innen zu zählen. Michael Papendick, Jonas Rees, Maren Scholz, Andreas Zick, MEMO: Multidimensionaler Erinnerungs Monitor: Studie III 2020(Bielefeld: Institut für Interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung), 16.
[7] Frank Biess schildert z.B. wie eine jüdische Frau und ihr Kind aus einer Straßenbahn geworfen wurden. Siehe Republik der Angst: Eine andere Geschichte der Bundesrepublik (Hamburg: Rowohlt, 2019), 56-57.
[8] Siehe dazu z.B. Max Czollek, Versöhnungstheater (München: Hanser, 2023).
[9] Entgegen dieser Darstellung von angeblicher Passivität stehen viele alltägliche Akte des jüdischen Widerstands. Siehe dazu Wolf Gruner, Resisters: How Ordinary Jews Fought Persecution in Hitler’s Germany (New Haven: Yale University Press, 2023).
[10] Eine Gesamtdarstellung der Nakam Gruppe findet sich bei: Dina Porat, „Die Rache ist mein allein:“ Vergeltung für die Schoa: Abba Kovners Organisation Nakam (Paderborn: Brill/Schöningh, 2021).
[11] Dina Porat, „Die Rache ist mein allein:“ Vergeltung für die Schoa: Abba Kovners Organisation Nakam (Paderborn: Brill/Schöningh, 2021), 236-247.
[12] Laura Jockusch,“Zu viel oder zu wenig? Jüdische Rache nach dem Holocaust,“ in Rache: Geschichte und Fantasie, eds. Max Czollek et al. (München: Hanser, 2022), 122-124.
[13] Anna Günter, „Jewish Revenge in Postwar Vienna“ (MA thesis, Missouri State University, 2023), 89-93.
Zitation
Anna Günter, Jüdische Rache nach dem Holocaust. Kritische Auseinandersetzung mit Erinnerungskultur statt erfolgreicher Versöhnung, in: Zeitgeschichte-online, , URL: https://zeitgeschichte-online.de/themen/juedische-rache-nach-dem-holocaust