von Manuela Bauche

  |  

16. Februar 2021

Ab 2016 wurden in der Bundesrepublik Forderungen von Politiker:innen laut, in der Strafverfolgung erweiterte DNA-Analysen zuzulassen. Würden an einem Tatort DNA-Spuren gefunden, sollten diese nicht mehr allein genutzt werden dürfen, um zu überprüfen, ob sie mit einem Eintrag in der DNA-Datenbank des BKA übereinstimmen oder um das chromosomale Geschlecht der Person zu bestimmen. Durch das neue Verfahren sollten auch Erkenntnisse über die „biogeographische Herkunft“ und über die Augen-, Haar- und Hautfarbe der unbekannten Person (sogenannte „Phänotypisierung“) gewonnen werden können. Gegen diese Forderungen gab es erhebliche Kritik. Wissenschaftsforscher:innen und Minderheitenverbände wiesen u.a. darauf hin, dass mit dem Verfahren keineswegs individuelle äußerliche Merkmale aus der DNA direkt „abgelesen“ würden. Es handelt sich hingegen um ein statistisches Verfahren, das durch den Abgleich vorgefundenen Erbmaterials mit genetischen Datenbanken lediglich Wahrscheinlichkeiten aufstellt. Zudem ergäben sich die ermittelten Herkunftskategorien keineswegs aus genetischen Fakten, sondern seien Ergebnis historisch gewachsener gesellschaftspolitischer Konstruktionen darüber, welche Menschen eine Gruppe bilden. Eindeutige Aussagen über die „Herkunft“ einer Person oder gar über deren Aussehen ließen sich dadurch jedenfalls nur selten machen.[1] Dennoch stimmte der Bundestag im Mai 2019 der Einführung zumindest der Phänotypisierung zu. Was diese verspricht, kommt der alten Sehnsucht entgegen, eine eindeutige Verbindung zwischen Erbgut einerseits und Aussehen und „Herkunft“ von Menschen andererseits herzustellen.

 

Das Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik

Diese Sehnsucht prägte auch die Arbeit des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik (KWI-A).[2] Das KWI-A wurde am 17. September 1927 in Berlin-Dahlem eingeweiht und hatte bis 1945 Bestand, wenn auch einzelne Abteilungen an anderen Orten weitergeführt wurden. Heute wird das schlichte Gebäude in der Ihnestraße 22 vom Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft der Freien Universität Berlin genutzt. Lediglich eine schwer zu lesende Tafel neben dem Eingang weist darauf hin, dass das Haus als Hauptgebäude des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik (KWI-A) errichtet wurde und ein Standort rassistischer und behindertenfeindlicher Forschungen war. Am KWI-A sollte zu Fragen geforscht werden, die wir heute als Fragen der Humangenetik beschreiben. Was Forschende vor allem interessierte war, welche Faktoren über körperliche und geistige Merkmale, aber auch über Krankheiten beim Menschen bestimmten. Waren es Umwelteinflüsse oder war es das Erbgut? Mitarbeiter:innen des KWI-A forschten aber nicht nur. Sie waren auch an der Konzeption und Begleitung von Maßnahmen beteiligt, die auf „eine Verbesserung der erblichen Gesundheit und Kraft des Volkes“[3] zielten, kurz: an eugenischen Politiken. Hermann Muckermann, erster Leiter der Abteilung für Eugenik, bereitete bereits in der Weimarer Republik ein Sterilisierungsgesetz mit vor, das unter den Nationalsozialisten in verschärfter Form umgesetzt wurde. Gründungsdirektor Eugen Fischer und andere fungierten als Gutachter und als sogenannte Erbgesundheitsrichter in Verfahren, die darüber entschieden, ob Personen zwangssterilisiert wurden. Das KWI-A war damit in die entmenschlichende Verfolgungs- und Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten eingebunden. Zugleich profitierte es von ihr – auf besonders drastische Weise als die Biologin Karin Magnussen sich aus dem Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau Körperteile von Mitgliedern der dort ermordeten Sinti-Familie Mechau für ihre Forschung zusenden ließ.[4]

 

Das Hauptgebäude des KWI für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik in den 1930ern (Quelle: Archiv der Max-Planck-Gesellschaft, Berlin-Dahlem).

 

Sehnsucht nach genetischer Eindeutigkeit

Zwar untersuchen Mitarbeiter:innen des KWI-A, welchen Einfluss Umweltbedingungen und welchen Erbanlagen auf den Menschen haben. Die meisten aus dem Institut hervorgehenden Arbeiten behaupteten aber, dass das Erbgut den wesentlichen Faktor darstelle. So brachte die Zwillingsforschung, die vom Leiter der Abteilung für menschliche Erblehre Otmar von Verschuer als zentrale Untersuchungsmethode am KWI-A eingeführt wurde, Arbeiten hervor, die die These aufstellten, dass „Übungsfähigkeit“ erblich bedingt sei; ebenso das Vorkommen von Totgeburten, Hernien und anderer als Missbildungen gewerteter Merkmale; oder auch dass die Disposition zu Tuberkulose vererbt würde. Wie Hans-Walter Schmuhl es formuliert: Am KWI-A wurde in der Regel von einem „Primat der Vererbung“ ausgegangen.[5]

Einige Forschungsprojekte versuchten auch, Körperteile und Körpersubstanzen zu identifizieren, die als „Marker“ für bestimmte Merkmale dienen könnten. Wolfgang Abel stellte einen Zusammenhang zwischen dem per Fingerabdruck ermittelten Verlauf von Hautlinien und einer vermeintlichen Neigung zu Kriminalität her und interessierte sich dafür, ob Vergleichbares für Behinderungen feststellbar sei. Verschuer wiederum, der 1942 Eugen Fischer als Direktor ablöste, erprobte ab 1943 eine vom Hallenser Biochemiker Emil Abderhalden entwickelte biochemische Methode weiter, mit der er hoffte, die „Rassenzugehörigkeit“ von Menschen bestimmen zu können. Er sorgte dafür, dass sein wissenschaftlicher Zögling Josef Mengele, der als „Arzt“ in Auschwitz-Birkenau eingesetzt war, Blutpräparate von „den verschiedensten Rassengruppen dieses Konzentrationslagers“[6] nach Berlin schickte. Über 200 Inhaftierten wurde für die Versuche Blut abgenommen. In Berlin sollte es dann mit der „Abderhalden-Reaktion“ getestet werden. Die Versuche wurden 1945 kriegsbedingt abgebrochen. Bereits die „Abderhalden-Reaktion“ erwies sich als unhaltbar, Verschuers Annahme einer „rassenspezifischen“ biochemischen Reaktion entsprechend auch.[7]

 

„Rasse“

Eine Vorbedingung für Forschungen wie die Verschuers war die Annahme, dass die Menschheit in genetisch distinkte Gruppen aufgefächert werden könne – die Idee von „Rasse“. Das Konzept spielte in den Forschungen des KWI-A eine wesentliche Rolle. So baute Fischers Renommee auf einer Forschung auf, die die Frage zu beantworten suchte, wie die Vererbung von Merkmalen wie Körpergröße, Kopf-, Nasen-, Ohren-Form, Haut-, Augen- und Haarfarbe und vielen anderen „bei der Kreuzung der Rassen“[8] funktioniert. Um diese Frage zu beantworten, vermaß, fotografierte und befragte er 1908 in der Stadt Rehoboth, im deutsch kolonisierten Namibia zwei Monate lang rund 300 Nachfahr:innen von weißen Siedlern und Khoi Khoi. Fünf Jahre später veröffentlichte er die Ergebnisse seiner Arbeit unter dem Titel „Die Rehobother Bastards und das Bastardisierungsproblem beim Menschen“. Darin behauptete er den Nachweis erbracht zu haben, dass Merkmale, die beim Menschen als spezifisch für ihre „Rasse“ identifiziert werden könnten, nach den Regeln der Mendelschen Gesetze vererbt werden, also nach einem spezifischen mathematischen Prinzip. Diese Annahme ist heute klar widerlegt – schon deshalb weil es keine genetischen Merkmale gibt, anhand derer sich die Menschheit in „Rassen“ einteilen lässt. Durch Fischer angeregt entstanden am KWI-A Forschungen mit einem vergleichbaren Ansatz: über „Chinesen-Europäerinnen-Kreuzung[en]“, über „Europäer-Marokkaner-Kreuzungen“, über „I. und I.-Europäer-Mischlinge“, „Chinesen-N.-Kreuzungen“ usw.[9]

Was genau in solchen Forschungen mit „Rasse“ gemeint war, blieb stets unscharf: Autor:innen hielten den Begriff meist nicht für erläuterungswürdig, Fischer blieb in seinem Buch selbst in dem Unterkapitel „Der Begriff Rasse“ eine Definition schuldig. Gleichzeitig wurde „Rasse“ wahlweise synonym mit „Lokalvarietät“ oder „Herkunft“ verwendet. Er benannte zudem mal einen nationalen und kulturellen „Container“ („Chinesen“), mal einen transnationalen („Europäer“), mal einen phänotypischen („N“). Diese Unschärfe schadete dem Begriff allerdings nicht. Im Gegenteil ist sie sein Erfolgsrezept. Laut Christine Hanke ermöglicht gerade diese Unschärfe, dass „Rasse“ „durch viele Wissensbereiche bzw. Diskurse“ geistere und dabei eine „bemerkenswert hartnäckige Evidenz“ aufweise, nämlich dass „rassische“ Differenzen „als selbstverständlich und als am Körper sicht- und messbar“ angenommen werden.[10]

 

Physische Anthropologie und Human Remains

„Rasse“ interessierte auch bei jenen Forschungen, die Mitarbeiter:innen des KWI-A ausgehend von der anthropologischen Sammlung des Instituts durchführten. Sie wurde im Dachgeschoss des Gebäudes Ihnestraße 22 verwahrt. Das größte Konvolut, die sogenannte „S-Sammlung“ hatte Felix von Luschan am Museum für Völkerkunde zusammengetragen. Die „S-Sammlung“ umfasst heute Gebeine von mehr als 5.300 Menschen aller Kontinente. Die meisten hatten während der deutschen Kolonialzeit Militärs, Forschungsreisende, Missionare und Kolonialbeamte angeeignet und geliefert – fast immer ohne Zustimmung von Angehörigen. Nach Luschans Tod 1924 gelangte die Sammlung über Umwege an den Anthropologie-Lehrstuhl der Friedrich-Wilhelms-Universität (heute Humboldt Universität) zu Berlin. Als Fischer 1927 den Lehrstuhl übernahm, kamen die Gebeine in die Ihnestraße.

Die Sammlungen des Instituts wurden aktiv beforscht und laufend erweitert. Die indische Anthropologin Irawati Karvé etwa, die in den 1920er Jahren am KWI-A promovierte, verglich Schädel von Menschen, die unterschiedlichen „Rassen“ zugeordnet wurden. Sie konnte dabei allerdings keine Merkmale identifizieren, die sie als „Rassenunterschiede“ hätte werten können. Laut Thiago Barbosa könnte dies ein Grund dafür gewesen sein, dass ihre Forschung am KWI-A nicht weitergeführt wurde.[11]

Zu den Gebeinen, die in der Ihnestraße 22 verwahrt wurden, gehören auch jene von Uikabis und ihrer Tochter Nabnas – wie Holger Stoecker rekonstruierte. Die beiden Frauen lebten in der Kolonie Deutsch-Südwestafrika (heute Namibia) und wurden 1906 im Auftrag ihres Arbeitgebers, eines deutschen Landwirts, brutal ermordet. Ihre Gebeine wurden in Berlin für Forschungen zur Evolutionsgeschichte des Menschen missbraucht. Im März 2014 wurden sie mit 19 weiteren Gebeinen nach Namibia restituiert.[12]

Viele Teile der KWI-A-Sammlungen sind verschollen. Die „S-Sammlung“ allerdings befindet sich – bis auf einige restituierte Gebeine – nach wie vor in Berlin. Lange wurde sie an der Humboldt-Universität, am Museum für Naturkunde und von der Charité verwahrt. 2011 wurde sie von der Stiftung Preußischer Kulturbesitz (SPK) übernommen.

 

Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus am 27.1.2020 vor dem Haupteingang des ehemaligen KWI für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik (Quelle: Christine Boldt).

 

Andauernde Wissenszirkulation nach 1945

Obwohl nach 1945 einige Wissenschaftler:innen begannen, sich kritisch zu jenem Wissen zu verhalten, das die Vernichtungspolitik des NS-Staats legitimiert hatte – die Idee menschlicher „Rassen“ verschwand keineswegs. Das Konzept „menschlicher Populationen“ etwa, das Humangenetiker:innen in den späten 1940er Jahren als Alternative zum politisch diskreditierten Begriff „Rasse“ entwickelten, räumte mitnichten mit früheren Annahmen von „Rasse“ auf, wie Wissenschaftshistoriker:innen gezeigt haben: Auch der Begriff der „Population“ fußt auf der Annahme, dass Menschengruppen existierten, die eine gewisse genetische Homogenität aufweisen; auch „Populations“-Forscher:innen sehen diese „endogamous groups“ als besonders wertvoll für ihre Forschung an; und auch in ihren Arbeiten spielt das Vergleichen dieser „Gruppen“ eine zentrale Rolle.[13]

Humangenetik war immer schon „ein hybrider Diskurs“, „der neben der Vererbung von Merkmalen auch um die Zugehörigkeit von Individuen zu Gruppen und um die Definition und um die Herkunft dieser Gruppen kreiste“,[14] stellen Hans-Jörg Rheinberger und Staffan Müller-Wille fest. Hier mag ein Grund dafür liegen, dass diese Forschung so breit fasziniert.

 


Ich danke Tino Plümecke, Hans-Walter Schmuhl und Holger Stoecker herzlich für wertvolle Kommentare und Hinweise zu diesem Text.

 

[1] U.a.: Veronika Lipphardt, Die Bestimmung der ‚Biogeographischen Herkunft‘ – eine voraussetzungsreiche Methode, in: Tagesspiegel Causa, 21.9.2017 (6.1.2020); Veronika Lipphardt/Anna Lipphardt u.a., Offener Brief zum Umgang mit erweiterten DNA-Analysen in der Forensik, 8.12.2016 (6.1.2020).

[2] Zur Geschichte des KWI-A siehe insb.: Hans-Walter Schmuhl, Grenzüberschreitungen. Das Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik 1927–1945, Göttingen 2005; Hans-Peter Kröner, Von der Rassenhygiene zur Humangenetik. Das Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik nach dem Kriege. Stuttgart 1998.

[3] Handbuch der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften, hg. v. Adolf von Harnack, Berlin 1928, S. 120.

[4] Benoît Massin, Mengele, die Zwillingsforschung und die ‚Auschwitz-Dahlem Connection‘, in: Carola Sachse (Hg.): Die Verbindung nach Auschwitz. Biowissenschaften und Menschenversuche an Kaiser-Wilhelm-Instituten. Dokumentation eines Symposiums. Göttingen 2003, S. 201–254.

[5] Schmuhl, Grenzüberschreitungen, S. 537, auch S. 106–108, 240–242, 250–254; Bernd Gausemeier, Borderlands of Heredity. The Debate About Hereditary Susceptibility to Tuberculosis, 1882–1945, in: Ders./Staffan Müller-Wille/Edmund Ramsden, Human Heredity in the Twentieth Century, London 2013, S. 13–26.

[6] Verschuer zit. nach Schmuhl, Grenzüberschreitungen, S. 505.

[7] Massin, Mengele, S. 229–233; Schmuhl, Grenzüberschreitungen, S. 233–234, 502–510.

[8] Eugen Fischer, Die Rehobother Bastards und das Bastardisierungsproblem beim Menschen. Anthropologische und ethnographische Studien am Rehobother Bastardvolk in Deutsch-Südwest-Afrika. Nachdr. d. Ausg. Jena 1913, Graz 1961, S. VII.

[9] Schmuhl, Grenzüberschreitungen, S. 223. In den Aufsatztiteln wird die Reproduktion der rassistischen Fremdbezeichnungen für Native Americans und Schwarze Menschen bewusst durch Abkürzungen vermieden.

[10] Christine Hanke, Zwischen Auflösung und Fixierung. Zur Konstitution von ‚Rasse‘ und ‚Geschlecht‘ in der physischen Anthropologie um 1900, Bielefeld 2007, S. 15.

[11] Barbosa, Thiago Pinto, Making Human Differences in Berlin and Maharashtra. Considerations on the Production of Physical Anthropological Knowledge by Irawati Karvé, in: Südasien-Chronik – South Asia Chronicle 8/2018, S. 139–162.

[12] Holger Stoecker, Human Remains als historische Quellen zur namibisch-deutschen Geschichte. Ergebnisse und Erfahrungen aus einem interdisziplinären Forschungsprojekt, in: Geert Castryck/Silke Strickrodt/Katja Werthmann (Hg.), Sources and Methods for African History and Culture. Essays in Honour of Adam Jones, Leipzig 2016, S. 469–491.

[13] Veronika Lipphardt, Isolates and Crosses in Human Population Genetics; or, A Contextualization of German Race Science, in: Current Anthropology 2012/53,5, S. S69–S82; Tino Plümecke, Rasse in der Ära der Genetik. Die Ordnung des Menschen in den Lebenswissenschaften. Bielefeld 2013.

[14] Hans-Jörg Rheinberger/Staffan Müller-Wille, Vererbung. Geschichte und Kultur eines biologischen Konzepts, Frankfurt/Main 2009, S. 259.