von Corinna Kuhr-Korolev

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13. März 2022

Die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg ist im Krieg in der Ukraine allgegenwärtig. Die alten Menschen, die oft nicht mehr fliehen wollen oder können, erinnern sich an ihre Kindheit im Krieg. Sie erinnern sich an die deutsche Besatzung, an die Zerstörung ihrer Städte, an den mühsamen Wiederaufbau und an die Hoffnungen, die sie in die neue Staatlichkeit setzten.
Eine tragische Wiederholung ist auch das Schicksal der Kulturgüter. Vieles wurde während des Zweiten Weltkriegs zerstört, verbrannt oder verschleppt. Noch immer vermissen ukrainische Museen und Bibliotheken große Teile ihrer Sammlungen.[1] Gerade erst konnten Verlustkataloge abgeschlossen werden. Einige wenige Rückgaben von Kunstwerken, Büchern und Dokumenten gab es in den letzten Jahren, aber solche Fälle sind die Ausnahme. Einer deutsch-ukrainischen Forscher*innengruppe gelang es 2019, eine wertvolle handgemalte Urkunde aus der Zeit Peter d. Großen, die sich jahrzehntelang im Institut für Osteuropäische Geschichte und Landeskunde an der Universität Tübingen befunden hatte, an die Kiewer Staatsbibliothek zu restituieren. Sie stammte ursprünglich aus der Sakristei der Sophienkathedrale, befand sich aber seit den 1920er Jahren in der Handschriftenabteilung der Staatsbibliothek, wo sie 1941 von den deutschen Besatzern geraubt wurde.[2] Bei der Rückgabe des seltenen Sammlungsstücks stellte sich heraus, dass von ursprünglich circa 200 Urkunden dieser Bedeutung heute nur drei in Kiew erhalten sind.[3]
 

Erste Zerstörungen durch Kriegshandlungen

Nun droht erneut die Gefahr, dass einzigartiges Kulturerbe zerstört und damit ein Teil der ukrainischen Identität ausgelöscht wird. Folgend auf die Resolution Aggression against Ukraine der UNO-Vollversammlung am 2. März 2022 veröffentlichte die UNESCO eine Bekanntmachung, in der sie ihrer Besorgnis um die Sicherheit des ukrainischen Kulturguts zum Ausdruck brachte und zur Einhaltung der Haager Konvention zum Schutz von Kulturgut bei bewaffneten Konflikten von 1956 und dem Zweiten Protokoll von 1999 mahnte.  Bereits unter Beschuss gekommen ist die historische Altstadt von Tschernihiw, im Norden der Ukraine zwischen Kiew und der Grenze von Belarus, mit ihren Kathedralen aus dem 11. und 12. Jahrhundert. Für Entsetzen hat gesorgt, dass russische Truppen nicht davor zurückschreckten, durch einen Raketenangriff auf den Fernsehturm von Kiew am 2. März auch die Beschädigung der Holocaust-Gedenkstätte Babyn Jar in Kauf zu nehmen. Außerdem ist ein kleines Museum in der Ortschaft Iwankiw in Brand geraten, in dem sich Werke der ukrainischen Volksmalerin Maria Prymatschenko befanden. Glücklicherweise gelang es Anwohnern offenbar, einen größeren Teil der Bilder zu retten.[4]

 

Bedrohung des gemeinsamen kulturellen Erbes

Allergrößte Sorge gilt den bedeutenden Kirchen, Architekturdenkmälern, Museen und Bibliotheken Kiews, die sich im Zentrum der Stadt und oft in unmittelbarer Nähe von Regierungsgebäuden befinden und bei Angriffsgefechten kaum geschützt werden können. So steht die Sophienkathedrale nur einige hundert Meter vom Hauptgebäude des ukrainischen Sicherheitsdienstes SBU entfernt. Diese Kathedrale gehört zum Weltkulturerbe.[5] Ihr Bau, der Hagia Sophia in Konstantinopel nachempfunden, geht auf das 11. Jahrhundert zurück; der heutige Bau im ukrainischen Barock stammt vom Ende des 17. Jahrhunderts. Die Kathedrale bildete das geistliche, politische und kulturelle Zentrum der Kiewer Rus, des ersten ostslawischen Großreichs des Mittelalters. Sie war der Krönungs- und Bestattungsort der Kiewer Fürsten, in ihr fanden wichtige Staatszeremonien statt und die Kiewer Volksversammlung tagte an diesem Ort.
Ebenfalls zum Weltkulturerbe gehört das am südlichen Rand des Stadtzentrums gelegene Kiewer Höhlenkloster, die Kiewer Petscherskaja Lawra. Es ist eines der ältesten und bedeutendsten orthodoxen Klöster der Ukraine und Russlands und trägt den Ehrentitel Lawra, den nur vier weitere Klöster erhalten haben. Die große Klosteranlage besteht aus einer Vielzahl von Kirchen, Klöstern und Museen und beherbergt einige der wertvollsten Museumssammlungen des Landes. Die Lawra und die Sophienkatherale symbolisieren mehr als alle anderen Architekturdenkmäler die historische Größe, den spirituellen und kulturellen Reichtum der Kiewer Rus, die sowohl den Ukrainer*innen als auch den Russ*innen als der Ursprung ihrer Staatlichkeit gilt. Ihre Zerstörung käme der Vernichtung der historischen Wurzeln beider Nationen gleich und verdeutlicht den Irrsinn dieses russischen Angriffskriegs, der mit Verweis auf die geistigen Werte der Orthodoxie geführt wird.

 

Begrenzte Rettungsmöglichkeiten

In Erinnerung ist mir ein Gespräch geblieben, das ich schon vor sechs Jahren, im März 2016 mit der Direktorin des Nationalen Museums der dekorativen ukrainischen Volkskunst führte. Die Kämpfe auf dem Majdan, die Annexion der Krim und der Krieg im Donbass waren zu diesem Zeitpunkt in Kiew äußerst präsent. Nachdenklich bemerkte sie, dass sie sich um mögliche Evakuierungsorte für ihre Sammlung im Falle eines Angriffs auf Kiew sorge. Selbst im Zweiten Weltkrieg sei die Situation hoffnungsvoller gewesen, da es damals die Möglichkeit gab, die Kunstschätze ins sowjetische Hinterland zu bringen. Nun aber reagiere die Stadtadministration kaum auf Anfrage nach Bergungsorten und habe sie auf Metroschächte verwiesen. Ebenso eindrucksvoll waren die Erzählungen einer der Kuratorinnen des Nationalen Kunstmuseums der Ukraine, die berichtete, wie sie mit ihren Kolleginnen während der Ereignisse auf dem Majdan versucht hatten, ihre Sammlungen vor Beschuss, Plünderung und Zerstörung zu retten. Tag und Nacht schoben sie Dienst im Museum und hielten ständig Kontakt mit den davor positionierten Milizen, um ihnen zu vermitteln, dass die Kämpfe vom Museum ferngehalten werden müssten. Nur mit Mühe verhinderten sie, dass Scharfschützen auf dem Dach positioniert wurden.

Diese Berichte verdeutlichen eine Situation, die in Kriegssituationen häufig auftritt: Evakuierungspläne sind nur unzureichend ausgearbeitet, geeignete Bergungsorte stehen nicht zur Verfügung, Museen und Bibliotheken werden bis kurz vor Beginn von Kampfhandlungen offengehalten, um Panik zu verhindern, Bergungen erfolgen teilweise spontan und sind der Rettung von Menschen berechtigterweise nachgeordnet, Transportmittel fehlen und Transportwege geraten zunehmend unter Beschuss. Evakuiert werden kann sowieso immer nur ein kleiner Teil der Sammlungen. In den Depots bleibt vieles zurück. Das Museums- und Bibliothekspersonal hat kaum Handlungsspielraum und Entscheidungsmöglichkeiten. Einige müssen die Sammlungen in Bergungsorte begleiten, die anderen bleiben trotz der Gefahren für ihr Leben vor Ort, um das Schlimmste zu verhindern. Was aber können sie tun? Möglicherweise gelingt es, Kunstgüter vor Plünderungen oder kleinen Bränden zu schützen, aber gegen Raketenbeschuss sind die Mitarbeiter*innen machtlos. Bei Kriegsbeginn schrieb die Direktorin der Staatsbibliothek, sie sei nach wie vor in Kiew, die Depots seien gesichert und sie hoffe, dass alles irgendwie gut ausgehen würde. Wie fatal und sinnlos wäre es, wenn russische Truppen heute das zerstören würden, was durch Glück und Zufall den Zweiten Weltkrieg unbeschädigt überstanden hat.

 

 

Mehr dazu auch:
Sophia Kishkovsky, Museum building heavily damaged in Ukraine's battle-ravaged city of Chernihiv, in: The Art News Paper, 15.3.2022

 


[1] Vgl. Wolfgang Eichwede/Ulrike Hartung (Hg.), „Betr.: Sicherstellung“. NS-Kunstraub in der Sowjetunion, Bremen 1998; Corinna Kuhr-Korolev, Ulrike Schmiegelt-Rietig, Elena Zubkova, Raub und Rettung. Russische Museen im Zweiten Weltkrieg, Köln 2019; Sabine Adler, Verschleppt und versteckt. Nazi-Beutekunst aus der Ukraine, Feature DLF Kultur vom 8.12.2021, (07.03.2022).
[2] Vgl. Corinna Kuhr-Korolev/Katharina Kucher/Tanja Sebta/Nataliia Sinkevych, Kriegsbeute in Tübingen. Eine Urkunde Peters des Großen, Seilschaften der Osteuropaforscher und die Restitution, in: Osteuropa 11-12/2016, S. 149-167.
[3] Vgl. NAN Ukrajiny, Nac. b-ka Ukrajiny im.V. I. Vernads'kogo, uporjad. L. A. Dubrovina, T. I. Arsejenko, Z. K. Šarykova, Povernennja z Nimeččyny v Ukrajinu gramoty Petra I Ioasafu Krokovs'komu 1708 roku. Materialy uročystogo peredannja gramoty ta ukrajins'ko-nimec'kogo kolokviumu 30 travnja 2019 r., prysvjačenogo istoriji unikal'nogo dokumenta Sofijs'koji kolekciji, Kyijv 2019.
[4] Vgl. Geraldine Kendall Adams, Museum community mobilises to help colleagues in Ukraine, in: Museumsjournal der Museumsassoziation vom 1. März 2022, (07.03.2022).
[5] Zur Liste der ukrainischen Weltkulturerbestätten, zu denen auch die historische Altstadt von Lwiw gehört. (04.03.2022).