Hg. von Annette Schuhmann

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8. November 2018

Eine Mauergeschichte 

Wir wohnten an der Mauer in Kreuzberg. Vom Fenster aus konnte man sie sehen, Fluchtversuche beobachten und sogar Schüsse hören, berichtete mein Vater. Ich wurde im Jahr des Mauerfalls geboren. Der ehemalige Grenzstreifen wurde zu meinem großen Spielplatz und der ehemalige Wachturm mein Geheimversteck. Der Todesstreifen wurde zu einem Ort der Freiheit, wo sich Frauen aus der Nachbarschaft zum gemeinsamen Tee trinken und häkeln trafen. 
Mir gaben allerdings alle zu verstehen, dass unser Bewegungsraum direkt an der Heinrich-Heine-Straße zu enden habe, da im Osten die „dazlak's“ seien. Mit dem Fall der Mauer stellten Rechtsradikale eine zunehmende Bedrohung für die türkischen Communities des ehemaligen West-Berlins dar. Die Polizei verkannte die Situation. So existierte durch die Angst vor rassistischen Übergriffen die Mauer in unseren Köpfen fort, auch wenn mit der Zeit die tatsächliche Gefahr abnahm. 

Daher war meine Mutter zehn Jahre nach dem Mauerfall noch immer nicht in der Lage, sich in der unmittelbaren Umgebung ihres langjährigen Wohnorts zu orientieren. Als sie einen Parkplatz suchte, fuhr sie weiter auf die Heinrich-Heine-Straße und verfuhr sich über 15 Minuten lang. Ich erinnere mich, dass ich hinten saß und große Angst bekam, nicht weil wir uns verfahren hatten, sondern, weil wir im gefürchteten Osten gelandet waren.
Etwa zwanzig Jahre nach dem Mauerfall spazierte ich mit meinem Bruder vom Alexanderplatz zu unserer ehemaligen Wohngegend. Er war schockiert, als er erkannte, dass wir fußläufig zum Alexanderplatz gewohnt hatten.

Nun knapp 30 Jahre nach dem Mauerfall ist von meiner ehemaligen Nachbarschaft durch die Gentrifizierung nichts übrig geblieben. Alle Menschen wurden verdrängt und mit ihnen auch die ortsansässige Erinnerung an die Mauer. 
Was von der DDR bleibt, ist die Geschichte der „Gastarbeiter“, die momentan noch durchsichtig ist für die Geschichtsschreibung und -aufarbeitung.

Anonym

Fernsehturm, Berlin,Quelle: Wikimedia Commons. Lizenz: CC BY 2.0.

 

Die Erinnerungen meiner Mutter 

Wenn ich an die DDR denke, ist meine erste Assoziation die Geschichten meiner Mutter über ihren Vater: Mein Großvater war gebürtiger Berliner und ist drei Monate vor dem Mauerfall gestorben. 

Mein Opa hat Berlin in den 1960er Jahren aus privaten Gründen verlassen und ist nach Schleswig-Holstein gezogen. Seine Familie ist in Ostberlin geblieben. In der Folge des Mauerbaus hat er den Kontakt zu seiner Familie verloren. Meine Mutter spricht oft davon, wie sehr ihn der fehlende Kontakt, besonders zu seinem Zwillingsbruder, bedrückt hat und wie gerne er seine gesamte Familie beisammen gehabt hätte. 

Wenn bei uns über die DDR gesprochen wird, dann betont meine Mutter oft, wie sehr sie bedauert, dass er nicht mehr erleben konnte, dass die Mauer gefallen ist. Insbesondere, weil sein Bruder ihn unmittelbar nach dem Fall der Mauer ausfindig gemacht hat. Für meine Mutter bedeutet die DDR das Leid ihres Vaters. Diese Erinnerung hat sie, bewusst oder unbewusst, an mich und meine Schwester weitergegeben.

Berit Pohns

Foto: Juggling on the Berlin Wall on 16. November 1989. Quelle: Wikimedia Commons. Lizenz: CC BY-SA 3.0.

 

Durch die Augen meiner Eltern 

 

Als im November 1989 in Berlin die Mauer fiel, die knapp 30 Jahre nicht nur eine Stadt, sondern eine ganze Nation räumlich, politisch und gesellschaftlich voneinander getrennt hatte, waren meine Eltern gerade volljährig. Von einem auf den anderen Tag fanden sie sich in einer unbekannten Umgebung wieder: Das Russisch-Abitur meiner Mutter ließ im vereinten Deutschland kein Hochschulstudium mehr zu, und sie orientierte sich beruflich noch einmal völlig neu. Mein Vater beendete seinen Wehrdienst in der NVA bis in den April 1990 hinein, um daraufhin in eine vorerst unbekannte Karriere zu starten.

Während ich mich mit meinem 19. Lebensjahr freiwillig entschied, ein weitestgehend fremdes Land zu erkunden, war meinen Eltern diese Entscheidungsmöglichkeit nie gegeben. Jener Umstand und vor allem ihre Art, damit umzugehen, beeindrucken mich heute sehr. Aufgewachsen und zur Schule gegangen im Ostteil der Hauptstadt war ich stets von unterschiedlichen Seiten mit der Vergangenheit des geteilten Deutschlands konfrontiert. Zuhause konnte ich dabei all meine Fragen loswerden, bekam aber auch Freiraum, das Leben meiner Eltern in der DDR als das zu erfahren, was es war: eine Kindheit und Jugendzeit mit den damit verbundenen Höhen und Tiefen. Wenn ich die beiden heute frage, was für sie von der DDR geblieben ist, bekomme ich Antworten wie der Fernsehturm, eine weniger materialistische Lebensart oder deine „Ossi“-Eltern. Für mich ist dies reichlich unbefriedigend, vor allem weil ich mit diesen Dingen nicht die DDR assoziiere, sondern eher meine Heimatstadt Berlin, mein Zuhause und meine Familie. Die Frage, was in meiner Lebenswelt von der DDR geblieben ist, bleibt also vorerst bestehen – aber zumindest die Feststellung, dass etwas geblieben ist, kann ich nun getrost bejahen.

von Josephine Kuban

 

Was (in den Köpfen) geblieben ist?

Was ist von der Deutschen Demokratischen Republik geblieben? Woran denke ich, wenn ich an die DDR denke? Was erinnert mich heute noch an sie? Diese Fragen ließen mich, da ich die deutsche Teilung nicht bewusst erlebt habe, schnell in abstrakte Kategorien abdriften. Dabei macht sich die DDR heute (oder vielmehr das, was ich dafür halte) tagtäglich in vielen kleinen Nuancen zwischenmenschlicher Kommunikation bemerkbar.
Bevor ich an dieser Stelle weiter über ein Thema monologisieren wollte, dass sich gerade von mir kaum zufriedenstellend erschließen lässt (und weil ich auch der Überzeugung bin, das GeisteswissenschaftlerInnen von Natur aus faul sind), habe ich diese Fragen unvermittelt Menschen in meinem Bekanntenkreis gestellt, um zu sehen, inwiefern ich deren Eindrücke nachvollziehen kann oder sogar teile. Hier habe ich die Antworten, unkommentiert und ungeschönt, mit Alter und Herkunft der Personen aufgelistet. Selbstverständlich ist die Auswahl keinesfalls repräsentativ, sondern setzt sich schlicht aus den Personen zusammen, mit denen ich die meiste Zeit interagiere.

Also aus der Sicht des Wessis: die Mauer. Und Pioniere. Und ich habe die Bernauer Straße hierzu im Kopf. Da kommen einem fast die Tränen, wenn man sieht, wie verzweifelt manche Menschen waren und aus dem Fenster sprangen, nur um aus diesem Leben ohne Bananen und nennenswerte Höhepunkte zu flüchten.
(32, leitende Büroangestellte, aufgewachsen in Wittlich, Rheinland-Pfalz und (West-Berlin)

Die U5.
(29, Fotograf, aufgewachsen in (West-Berlin)

Was erinnert mich jetzt noch an die DDR? Die Linke, Gregor Gysi und Sahra Wagenknecht. Oder was fällt mir ein, wenn ich an die DDR denke? Diktatur, Staatsbürgerunterricht, Montagsdemos.
(47, Beamtin beim Jugendamt Steglitz-Zehlendorf, aufgewachsen in Sachsen)

Foto: Gregor Gysi am Rednerpult bei der Alexanderplatz-Demonstration am 4. November 1989. Quelle: Wikimedia Commons. Lizenz: CC BY-SA 3.0.

 

SED, StaSi… Und der Liedermacher Wolf Biermann.
(60, Zahnarzthelferin, aufgewachsen in (West-Berlin)

Also im Sinne von: 'Woran ich da denke?', dann: Jahrelanges Warten auf Autos, Anstehen für Kaffee. Und Bananen und Stasi. Und wenn die Frage in dem Sinne gemeint ist, wann ich an die DDR denke, dann: bei Nudossi-Brotaufstrich, Möbel der 50er und 60er Jahre, DEFA-Märchenfilmen, bei der Tatsache, dass im Westen Berlins Straßenbahnen fehlen, und weil es immer noch eine Gehaltsungleichheit zwischen Ost und West gibt.
(30, Studierende der Asienwissenschaften, aufgewachsen in (Ost-Berlin)

Leider nur Negatives. Sehr viele Ängste. Angst an den Grenzübergängen: Kommt man noch rechtzeitig wieder rüber nach West-Berlin, vor 24 Uhr? Die Kontrollen, filzen und so weiter.
(58, Angestellte im öffentlichen Dienst, aufgewachsen in (West-Berlin)

Jägerschnitzel und Würstchengulasch. Ossis lieben das, und wir finden es komisch. Und das Sandmännchen. Das Ost-Sandmännchen ist besser als unseres. Und Frankfurt/Oder. Und Fruchtschale
(29, Kulturwissenschaftlerin, aufgewachsen in (West-Berlin)

Leider immer: Die Mauer.
(55, Steuerprüfer, aufgewachsen in (West-Berlin)

Schwierig für mich, weil ich damit ja eigentlich nichts wirklich zu tun hatte. Ich weiß ja nicht, wie die DDR schmeckte, roch, sich anfühlte et cetera. Aber spontan würde ich sagen, der Sandmann.
(29, Kulturwissenschaftlerin, aufgewachsen in Lübben)

So zwischen Tür und Angel, jetzt?! Bananen!
(25, Hotelfachfrau und Eventmanagerin, aufgewachsen in (West-Berlin)

Ausflüge in das Gebiet der ehemaligen DDR nachdem die Mauer gefallen war. Und bis heute noch der Gedanke daran, dass wir da so lange nie hinkonnten. An den Mauerfall muss ich oft denken. Wie ich mit meinem Mann, meiner Tochter und meinem ganz kleinen Enkel dabei war und wir alle gerufen haben, dass die Mauer endlich kaputt sei und Sekt direkt aus der Flasche getrunken haben. Und es ärgert mich, wenn ich in den Nachrichten höre, dass es derzeit keinen vernünftigen Umgang mit den architektonischen und kulturellen Hinterlassenschaften der DDR zu geben scheint oder sie alles abreißen wollen.“ (80, ehemalige Telefonistin im Auslandsfernamt, aufgewachsen in Pommern und Berlin)

Absolute Pünktlichkeit der Nahrungsaufnahme und der Unterschied bei der Vergütung zwischen Ost und West.
(28, Erzieher, aufgewachsen in (Ost-Berlin)

Ja mich erinnert hier spontan nichts an die DDR. Außer das eine Denkmal am Rhein zur deutschen Einheit, dass da mitten auf der Wiese platziert ist, auf der man so abhängt. Essen, fühlen, schmecken… keine Ahnung. Was das angeht, ist die DDR ein reines entferntes Historikum für mich.
(29, Studierende der Anglistik, aufgewachsen in Mainz und Umgebung)

Erinnerungen, vor allem schlechte, gibt es genug. Nervige, immer wiederkehrende Fragen nach dem Grund der Ein- oder Durchreise. 1:1 Zwangsumtausch von 25,00 DM pro Person bei Einreise, für die man sich nicht mal etwas kaufen konnte. Patzige beziehungsweise keine Bedienungen in Lokalen. Passierscheinbeschaffung für die Einreise und so weiter. Heute werde ich kaum noch von Erinnerungen ‚geplagt‘ und wenn, dann nur wegen der Leute, die immer noch meinen, dass das ‚gelobte Land‘ untergegangen sei.
(84, Fachangestellter für Elektrik, aufgewachsen in (West-Berlin)

Viele der Antworten und Assoziationen kann ich nachvollziehen, und sie könnten genauso gut von mir kommen. Dies mag natürlich in erster Linie damit zusammenhängen, dass die meisten der befragten Personen einen ähnlichen Sozialisierungshintergrund wie ich haben, was die deutsche Teilung anbelangt („West-Berlin“). Aber auch das kann ich an dieser Stelle als eine, wenn nicht neue, dann aber in dieser Form bisher noch nicht schriftlich festgehaltene Erkenntnis für mich verbuchen, auf der ich in den nächsten Monaten aufbauen kann, wenn es darum geht, was nach dreißig Jahren von der DDR (in den Köpfen) geblieben ist.

von Felix Alexander Neumann

Foto: Drei junge Pioniere schreiben gemeinsam eine Dorfchronik. Quelle: Wikimedia Commons. Lizenz: CC BY-SA 3.0 de.

 

 

Eine Frage der Perspektive

Wie sicherlich viele Kursteilnehmer*innen bin ich nach dem Mauerfall geboren. Ein geteiltes Deutschland, in dem es nicht möglich war, mit Menschen aus einem anderen Landesteil zu arbeiten, frei zu kommunizieren und zu leben, habe ich nie erlebt. Die Alltäglichkeit der globalisierten Kommunikation ist ein Faktor, der meine Generation in doppelter Weise von jenen unterscheidet, die die DDR noch bewusst miterlebt haben, denn für mich ist es leicht, mit Mitmenschen aus anderen Kontexten in Kontakt zu treten, auch wenn sie sich geographisch nicht in meiner Nähe befinden. Der Zustand der Trennung ist dadurch schwer nachvollziehbar.

Mir ist aber ebenso klar, dass die DDR sowohl räumlich als auch zeitlich die unmittelbare Nachbarschaft meiner eigenen Erfahrung darstellt und dass es Berührungspunkte gibt, zu mir und zu meiner Familie. Tatsächlich wohne ich seit einem Jahr in einem Haus direkt am Verlauf der Berliner Mauer. Infotafeln und die Pflastersteine auf der Straße erinnern an die ehemalige Trennung. Meine Urgroßeltern lebten in Halle, während ihre Tochter in Nordrhein-Westfalen eine Familie gründete. Mein Vater erzählte von den Fahrten in die DDR, auch alte Postkarten dokumentieren diese Zeit. In gleicher Weise erinnern mich diese beiden Dinge aber auch daran, dass es vor der Teilung ein „einziges Ganzes“ gegeben hatte: eine Familie, eine Stadt.

Wenig verrät es mir darüber, wie das Leben in der DDR gewesen sein könnte. Mir fällt es schwer, die Konzepte „Ossi“ und „Wessi“ mit konkreten und wirklich aussagekräftigen Inhalten zu füllen. Ich denke, es muss Unterschiede in den Einstellungen und Mentalitäten der Menschen geben, denn Staat und Gesellschaft entwickelten sich mehr als 40 Jahre in sehr unterschiedliche Richtungen. Auch die materielle Kultur ist, trotz der globalisierten Wirtschaft und der westlich geprägten Konsumkultur, in den neuen Bundesländern heute noch eine andere. Für alles Weitere muss ich mich auf sicherlich stereotype Darstellungen aus dem Schulunterricht, aus Büchern, oder auch Filmen berufen. FDJ-Uniformen, Bruderkuss, 5-Jahresplan, Mustertapete. Ich weiß, es gibt mehr, was an die DDR erinnert, als das Sandmännchen und den Abbiegepfeil an der Ampel. Aber ich muss schon genau hinschauen, es fällt mir nicht bei jedem Schritt ins Auge. Ist das jetzt die Perspektive eines Nachgeborenen oder eines Wessis?

von Jahn Benesch

 

Foto: Gerhard Behrendt mit Sandmännchenpuppe, 1979. Quelle: Wikimedia Commons. Lizenz: CC BY-SA 3.0 de.

 

Was ist für mich von der DDR geblieben?

Diese Frage ist für mich nicht einfach zu beantworten. Wenn ich versuche, sie unabhängig von meinem jetzigen Kenntnisstand zu beantworten, der hauptsächlich auf Informationen aus dem Geschichtsunterricht oder dem Geschichtsstudium besteht, fällt mir das zunächst sehr schwer.
Das einzig Greifbare, was mir sofort in dem Sinn kommt, sind die Geschichten und beiläufigen Erzählungen meiner damaligen Kinderfrau. Wenn ich mich nicht irre, müsste sie heute fast 75 Jahre alt sein. Sie wuchs im Osten auf, lebte seit ihrem zwanzigsten Lebensjahr in Hennigsdorf, arbeitete dort lange Zeit als Kindergärtnerin, hat einen Sohn und erlebte die DDR vom ersten Tag ihres Bestehens an.

Ich erinnere mich gerne an meine Kinderfrau zurück. Sie war unglaublich lieb und konnte wunderbaren Linseneintopf kochen. Ein Gericht, das ihren Erzählungen nach auch häufig in der DDR gekocht wurde. Während sie auf meine Schwester und mich aufpasste, gab es einige Begebenheiten, in denen sie von ihren beruflichen Erfahrungen aus dem „Kita-Alltag“ erzählte. Ein Wort, das meine Schwester und ich bis dahin nicht kannten. Und so erinnere ich mich noch genau – wie sie uns erklärte, dass in der DDR ein Kindergarten nicht als Kindergarten, sondern als Kindertagesstätte bezeichnet wurde. Wenn sie mit uns bastelte oder wir zusammen irgendwelche Blumenmuster bestickten, erwähnte sie das ein oder andere Mal, dass Sticken für Mädchen in der DDR eines der wichtigsten Schulfächer gewesen sei.
Der Platz reicht leider nicht aus, und womöglich wäre es auch nicht angebracht, all ihre persönlichen Erlebnisse, die sie uns erzählte, hier aufzulisten. Mir war es dennoch wichtig, wenigstens oberflächlich ihre Erzählungen anzureißen, weil sie für mich auf irgendeine Art und Weise greifbar machen, was von der DDR geblieben sein könnte. Beruhend auf den Erzählungen meiner Kinderfrau: ein System mit klaren Strukturen, Ordnung und Gemeinschaftsgefühl.

Anonym

 

Kindergärtnerin mit Kleinkindern in Schwerin am 5. Juli 1983. Quelle: Wikimedia Commons. Lizenz: CC BY-SA 3.0 de.

 

Brüche 

Ich erinnere mich an eine Situation in meiner Schulzeit in Potsdam. Für eine ostdeutsche Stadt war der Anteil der Schüler*innen mit Eltern aus der BRD bei uns recht hoch. Wessen Eltern von wo kamen, war unter uns ein Thema, auch wenn es für diejenigen, deren Eltern in der DDR aufgewachsen waren, immer eine größere Rolle spielte. 


Im Rahmen des Unterrichts sprachen wir über die Erlebnisse unserer Eltern in Bezug auf die DDR. Die Erzählungen der Schüler*innen mit Eltern aus dem Westen glichen sich meist. Mal war die Rede von aufregenden Grenzkontrollen beim Transit nach Westberlin, mal war die DDR zu Hause gar kein Thema. Die Schüler*innen mit Eltern aus dem Osten hatten ob dieses Faktes mehr zu erzählen. Die Biographien ihrer Eltern verliefen oft weniger geradlinig. Meist gab es ein vor und ein nach dem Fall der Mauer in den Erzählungen.
Auch für meine Eltern stellte die sogenannte Wiedervereinigung einen Bruch in ihren Biographien dar. Beide ergriffen danach völlig andere Berufe. In den typischen Gesprächen beim Abendessen sprachen wir häufig über ihr Leben in der DDR. Eigentlich erzählte ich auch meinen Freund*innen gerne von der Geschichte meiner Familie, doch in der Situation in der Klasse kam ich mit mir ins Hadern. Wie sollte ich darüber sprechen? An manchen Stellen hatte ich den Reflex, Dinge erklären zu wollen, vielleicht auch zu rechtfertigen. Bis heute beobachte ich das bei mir. Muss ich das überhaupt? Kann ich das überhaupt? 

Ich wurde im Jahr geboren, als die Rote Armee aus Potsdam abzog. Das Leben meiner Eltern war damals von Neuorientierung geprägt. Der Bruch in ihren Biographien beeinflusste mich damals also zumindest indirekt. Beschäftigen tut er mich bis heute. 

von Jakob Eichhorn

 

Foto: Verlassenes Gelände der ehemaligen sowjetischen Streitkräfte, 1991 von Joachim F. Thurn. Quelle: Wikimedia Commons. Lizenz: CC BY-SA 3.0 de.

 

 

Rückzug zum Nachtisch

Sigrid war sehr dünn. Und sie war früher Sportlerin gewesen. Sigrid war aus der DDR geflohen. Und sie hatte meinen Onkel geheiratet. Oder mein Onkel sie.

Wie die Dinge zusammenhingen und was die Menschen verband, wurde mir Mitte der Neunziger nicht erklärt. „Zu kompliziert!“ oder: „Später!“ Sigrid sprach laut und lustig. Sie kochte gut, kochte irgendwie anders. Und sie mochte Maggi –  sehr. Ihre Schwiegermutter - meine Großmutter - mochte sie nicht. Sigrid konnte ihre Meinung sagen. Wenn wir zu Besuch waren, verhandelten die Männer meiner Familie nach dem Essen gerne Sigrids Herkunft und die Gründe ihrer Flucht. Sie selbst beteiligte sich kaum oder gar nicht an diesen Gesprächen. Sie machte den Abwasch, obwohl es eine Geschirrspülmaschine gab, oder bereitete den Nachtisch vor. Trotzdem besaß sie gerade dann eine Macht, die ich – etwa fünfjährig – nicht zuordnen konnte.

Viel mehr als diese Erinnerungen sind nicht geblieben. 1996 oder 97 kehrte Sigrid in ihre Heimat zurück. Mein Onkel sprach nicht gerne über sie, heiratete ein zweites und später ein drittes Mal. Sigrid, die ihre Meinung sagen konnte, hatte ihre Meinung zur DDR für sich behalten. Erst später wurde mir bewusst, dass die DDR in der Zeit, in der diese Gespräche stattfanden, ja bereits Geschichte war. Oder, wie für die meisten meiner Familienmitglieder, ein imaginierter Raum der Vergangenheit. Es schien, als habe die DDR für sie erst geendet, als Sigrid zurückkehrte in ein wiedervereinigtes Deutschland.

Anonym

 

Foto: Ost-Berlinerin beim Abwasch, 1951. Quelle: Wikimedia Commons.  Lizenz: CC BY-SA 3.0 de.

 

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