von Julius Redzinski

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20. März 2023

Auf der diesjährigen Berlinale war die in El Salvador geborene und in Mexiko aufgewachsene Dokumentarfilmerin Tatiana Huezo gleich doppelt erfolgreich: Ihr Film El eco wurde als bester Dokumentarfilm des Festivals ausgezeichnet. Zudem erhielt sie den Preis als beste Regisseurin in der Festival-Sektion Encounters, die sich im dritten Jahr unter der Leitung Carlo Chatrians und Mariëtte Rissenbeeks fest etabliert hat.[1] Und dies vollkommen zu Recht. Huezo ist eine routinierte, sichere Dokumentarfilmerin, der es immer wieder gelingt, mit starken Bildern starke Geschichten zu erzählen.

Nach ihren Filmen zur Traumabewältigung mit El lugar más pequeño (2011), in dem sie sich den Auswirkungen des Bürgerkriegs widmete, und Tempestad (2017) über den Menschenhandel und die Gewalt in Mexiko wendet sich Huezo diesmal dem Leben im Dorf El eco im Norden Mexikos zu. Es handelt sich um einen Ort, der durch die Abwesenheit der Männer, die in der Stadt arbeiten, und die ihn umgebende Natur geprägt ist. Die Frauen und Kinder halten das Leben auf dem Land, das Huezo immer wieder mit impressionistischen Landschafts- und Tieraufnahmen markiert, am Laufen. So eilen bereits in der Eröffnungssequenz eine Schäferin und deren beide Kinder einem Schaf, das zu ertrinken droht, zur Hilfe und zerren es gemeinsam an das rettende Ufer.

Preisverleihung der 73. Berlinale: Die salvadorianisch-mexikanische Regisseurin Tatiana Huezo wurde für ihren neuesten Film El eco mit zwei Preisen ausgezeichnet. © Richard Hübner/Berlinale 2023

Für ihr neues Projekt suchte die Filmemacherin nach einer Schule auf dem Land, in der sie die Kinder einer Klasse mit der Kamera begleiten konnte. Über eineinhalb Jahre besuchte sie regelmäßig drei Familien, deren Leben im Zentrum des Films stehen. Dabei stehen insbesondere die Kinder im Fokus. Der etwas älteren Montse wird zu Beginn des Films die Pflege ihrer gebrechlichen Großmutter, die wenig später verstirbt, übertragen. Eine Aufgabe, der sie mit Hingabe und Zartheit nachgeht, während sie – wie sie ihrer Freundin gesteht – davon träumt, ins Militär einzutreten, um aus El eco fortgehen zu können. Am Ende des Films hat Montse das Dorf tatsächlich hinter sich gelassen, nachdem sie eines Nachts nach einem Konflikt mit ihrer Mutter das Haus verlassen und sich in die nächste Stadt aufgemacht hat. Die jüngere Luz Mar hat hingegen eine Leidenschaft fürs Lehren, spielt mit ihren Puppen und anderem Spielzeug sowie ihren Geschwistern Schule. Gerade in diesen Situationen scheint ein kindlicher Humor durch – etwa als ihr kleiner Bruder behauptet, die Ehefrau des Revolutionsführers Emiliano Zapata sei eine Spionin gewesen –, der in Huezos vorherigen Filmen als Tonart vollkommen fehlte.

Für mich war die Schlüsselszene des Films eine Unterrichtssituation in der Dorfschule. Wie es gerade für die Schulen auf dem Land in Mexiko üblich ist, vermitteln die Kinder untereinander Wissen, das sie sich zuvor angeeignet haben. Das Thema ist die Übertragung von Schall. Luz Mar erzählt dabei, dass die ersten Astronauten auf dem Mond nicht miteinander hätten kommunizieren können, weil dort die Luft für die Übertragungen der Schallwellen gefehlt habe. Deshalb hätten sie für die zweite Mission Funk gehabt. Mir erschien diese Szene als Meta-Kommentar der Regisseurin über ihr eigenes Schaffen, da sowohl in El lugar más pequeño als auch Tempestad Bild und Tonspur mit Interview-Kommentaren aus dem Off getrennt waren: Die bildlich gegebene Gegenwart der Filme blieb in gewisser Weise sprachlos, die sprachlich-narrativen Elemente wurden technisch im Produktionsprozess hinaufmontiert, funktionierten im Grunde als ein Echo aus der Vergangenheit, welches die erlittenen Traumata in Erinnerung ruft. Hingegen ist in El eco die Synchronität von Bild und Ton gegeben, was eine gänzlich andere Stimmung erzeugt.
Im Podiumsgespräch nach der Premiere wollte Huezo nicht so weit gehen, diesen Meta-Kommentar als intendiert zu bestätigen, gab aber an, das Thema der Übertragung von Schall der Lehrerin vorgeschlagen zu haben. Der sonst übliche Modus von Huezos Dokumentarfilmen taucht nur einmal auf, nachdem Montse von zu Hause weggelaufen ist und die Mutter in einer Interviewsituation ihre Gefühle in Hinblick darauf und die Sorgen um ihre Tochter schildert. Aber auch in diesem Fall ist durch die Synchronität von Bild und Ton ein anderes Gefühl gegeben als in den früheren Filmen, wo die Stimmen körperlos über den Bildern schwebten.

Das Echo, das als Topos bereits im Ortsnamen angelegt war, der zum Titel des Filmes wurde, verortet Huezo selbst zwischen den Generationen. So führen Luz Mar und ihre Mutter ein Gespräch in der Küche, bei dem sie diese fragt, warum sie bereits mit 14 geheiratet hat. Die Mutter beteuert zwar, dass es eine Hochzeit aus Liebe gewesen sei, rät ihrer Tochter aber, unbedingt die Schule abzuschließen, um ihr Berufsziel, Tierärztin zu werden, verfolgen zu können. Zum Ende des Films ist es aber nicht sicher, ob Luz Mar die weiterführende Schule besuchen wird – was sie dann aber, wie uns die Regisseurin versicherte, letztendlich tun konnte. Der Film schafft es in solchen Momenten, die Wünsche und Sehnsüchte der Landbevölkerung im Verhältnis zur Lebenswirklichkeit und den daraus resultierenden Herausforderungen offen zu legen. Ebenso werden gegenderte Vorstellungen und daraus resultierende Konflikte sichtbar gemacht, was ein besonderes Anliegen Huezos war. So räumte der junge Sohn in einer der Familien immer seinen Teller vom Tisch ab, wenn der Vater aufgrund seiner Arbeit in der Stadt abwesend war, als dieser jedoch da ist, besteht er darauf, dass sein Sohn den Teller auf dem Tisch lässt, da Abräumen und Abwaschen Frauensache seien. Wenig später erleben die Zuschauer:innen mit, wie das Ehepaar über die An- und Abwesenheit und damit einhergehende Rollenverteilung in der Familie streitet. In beiden Fällen entfalten sich die Konfliktlinien vor der Kamera, ohne dass diese invasiv ist und so ein unangenehmes Gefühl des Voyeurismus beim Publikum aufkommen könnte. Es wird spürbar, wie nah die Regisseurin im Verlauf der Dreharbeiten den Protagonisten gekommen ist. Der Umstand wird wohl auch dadurch belegt, dass der Vater, der offensichtlich dem verbreiteten patriarchalen Rollenverständnis seiner Umgebung verhaftet ist, die Verwendung dieses Materials im Film dennoch gestattet hat.

Alles in allem zeigt El eco, dass Tatiana Huezo ein filmisches Repertoire entwickelt hat, das sich nicht bloß für das Verhandeln großer gesellschaftlicher Traumata einer über Jahrzehnte von Gewalt geprägten Region eignet, sondern ebenso einfühlsam das Alltagsleben der Landbevölkerung mit den dort vorliegenden Konfliktlinien schildern kann. Narrativ stark, visuell einnehmend, zum Teil extrem berührend: Tatiana Huezo ist es mit El eco wieder einmal gelungen, dem Publikum das Beste des Genres Dokumentarfilm zu präsentieren.


[1] Vgl. O.A., Director Tatiana Huezo Wins Two Awards at the Berlinale, in: cinematropical.com, 25. Februar 2023, [zuletzt abgerufen 20. März 2023].