"Lange Wellen treiben schräg gegen den Strand, wölben Buckel mit Muskelsträngen, heben zitternde Kämme, die im grünsten Stand kippen."
So beginnen die "Jahrestage", jener vierbändige Roman Uwe Johnsons, der schon deshalb als sein Lebenswerk bezeichnet werden kann, weil er die längste Zeit seines Lebens daran gearbeitet hat – von 1970 bis 1983.
Wenn einer das Meer so verlebendigt beschreibt, dann ist anzunehmen, dass es auf den folgenden knapp 2000 Seiten um mehr geht als um die Betrachtung von Ebbe und Flut. Der Filmemacher Volker Koepp nimmt Johnson aber erst einmal wörtlich oder genauer gesagt: bildlich. Als wolle er die Sprache Johnsons in Bilder rückübersetzen, richtet er die Kamera wiederholt minutenlang auf bewegtes Wasser.
Nun ist Volker Koepp bekannt für seine ausufernden Filme über Landschaften und die sie beherbergenden Menschen. Porträtiert hat er bereits u.a. die "Kurische Nehrung" (2001), "Pommerland" (2005), "Memelland" (2008) und zuletzt die Ostsee in "Seestück (2018), weshalb sein Filmverleih für ihn die filmische Gattung "Geobiografie" erfunden hat.
In „Gehen und Bleiben“, der auf der Berlinale seine Welturaufführung erlebt, sucht Volker Koepp nun die inneren und äußeren Landschaften des Schriftstellers Uwe Johnson auf. Auf den ersten Blick scheint es schwierig, den Autor geographisch verorten zu wollen. Geboren 1934 an der Ostsee ganz im Nordwesten des heutigen Polens, wuchs Uwe Johnson in Anklam und Güstrow auf, studierte in Rostock und Leipzig, zog 1959 nach Westberlin, lebte zeitweise in New York und dann, ab 1974, in Sheerness on Sea, einer Küstenstadt in England, wo er 1984 starb. So gesehen, könnte man ihn als Globetrotter beschreiben, oder aber, wie es Johnson selbst tat – als jemanden, der einem bestimmten Typus Landschaft verhaftet war: "Am Ende könnte man mir nachsagen", notiert er 1977, "ich sei jemand, der hat es mit Flüssen. Es ist wahr, aufgewachsen bin ich an der Peene von Anklam, durch Güstrow fließt die Nebel, auf der Warnow bin ich nach und in Rostock gereist, Leipzig bot mir Pleisse und Elster, Manhattan ist umschlossen von Hudson und East und North, ich gedenke auch eines Flusses Hackensack, und seit drei Jahren bedient mich vor dem Fenster die Themse, wo sie die Nordsee wird. Aber wohin ich in Wahrheit gehöre, das ist die dicht umwaldete Seenplatte Mecklenburgs von Plau bis Templin, entlang der Elde und der Havel …".
"Das Wasser ist tief unter der Straße versteckt, wo sie über einen Felsbuckel muß, chlorgrünes, laues, pralles Wasser in einem Fliesenkasten unter dem Hotel Marseille an der West End Avenue, Manhattan..." ("Jahrestage", Beginn des 2. Bandes)
Vor der Kameralinse Uwe Manns, mit dem Volker Koepp bereits sein „Seestück“ und 1996 den Film „Fremde Ufer“ realisiert hat, sehen all diese Orte tatsächlich verwandt aus. Nun genügen Landschaftsaufnahmen aber gemeinhin nicht, um einen Menschen zu charakterisieren, zumal nicht einen Wortmenschen wie Johnson. Also lässt Volker Koepp auch Menschen zu Wort kommen, die ihrerseits in den Landschaften leben, die Johnson prägten. Er befragt sie überwiegend außerhalb von schützenden vier Wänden, was sie wie Gäste wirken lässt, die nur vorübergehend in den Landschaften anwesend sind.
Und er stellt seine Gesprächspartner nicht vor. Erst der Abspann verrät, dass die junge Frau, die kurze Zeit in der Straße lebte, in der auch Uwe Johnson einmal wohnte, die Schriftstellerin Judith Zander ist. Peter Kurth, der auch einige Texte von Johnson im Off spricht, ist hingegen aus unzähligen TV-Krimiserien bekannt. Aber das ist hier nicht von Belang. Volker Koepp interessiert sich dafür, warum Menschen "Gehen und Bleiben". Oder wie es Peter Kurth, der von Güstrow aus „in die Welt wollte“ mit Bezug auf Uwe Johnson formuliert: "Man nimmt einen Teil seiner Kraft mit, es ist Teil der Identität. Es ist ja wichtig zu wissen, wo kommst du denn her. Und: Warst Du damit einverstanden – oder nicht?"
Ausgerechnet die fünf jugendlichen Punks, auf die Volker Koepp an der Uferpromenade in Anklam trifft, wollen aber bleiben. Denn "man findet alles, wenn man nur danach sucht." Aus den Fragen des älteren Mannes mit der Kamera rekapituliert einer von ihnen den Inhalt des zu drehenden Films: "Es geht also um Leute, die von hier kommen und um Leute, die von hier auswandern und gleichzeitig um Natur." Worauf eine andere aus der Gruppe kommentiert: "Und wir sind die Natur", was die Ästhetik der Filme von Volker Koepp treffend beschreibt.
"Das Wasser ist schwarz.
Über dem See ist der Himmel niedrig zugezogen, morgendliche Kiefernfinsternis schließt ihn ein, aus dem Schlammgrund steigt Verdunkelung auf." ("Jahrestage", Beginn von Band 3)
"Gehen und Bleiben" ist zwischen 2020 und 2022 entstanden. Die Gegenwart hat sich in die Filmarbeiten eingeschrieben, die toten Flüchtlinge im Mittelmeer wie auch die Trümmer des Krieges gegen die Ukraine. Die aktuellen Ereignisse werden in einen Dialog gesetzt mit Texten von Johnson, die vom Ende der Bomben, nicht abgehängten Hitler-Bildern und dem Untergang der Cap Arcona erzählen, bei dem im Mai 1945 tausende KZ-Häftlinge starben. Entsprechend heißt der Film im Untertitel auch: "Uwe Johnson. Folgen des Krieges", wobei die Folgen des aktuellen Krieges nur erahnt, aber nicht besprochen werden. Die Teilung Deutschlands, die in Johnsons Leben und Büchern eine entscheidende Rolle spielt, wird angesprochen, aber kaum vertieft, so als sei die Natur davon kaum berührt worden.
Die meisten Gesprächspartner:innen kennen die Bücher von Uwe Johnson und teilen mit ihm die Gebundenheit an die mecklenburgische Landschaft, Heinz und Hanna Lehmbäcker waren auch mit ihm befreundet. Sie sind die einzigen, die private Fotos und Anekdoten über Johnson beisteuern. Sie genügen nicht, um ein Porträt des Dichters zu zeichnen, vielmehr lassen sie eine Freundschaft erkennen, die Grenzen, Ozeane und Zeiten überdauern konnte. So bleibt es Johnson in einer der wenigen Archivaufnahmen überlassen, sich in kurzem, ironisch bürokratischem Stil selbst vorzustellen. Fast wirkt die schwarz/weiß-Aufnahme des großen kahlköpfigen Mannes mit der unförmigen Hornbrille wie ein Fremdkörper in dem Film, der die Landschaften seiner Existenz mit großer Zuneigung einfängt.
"Gehen und Bleiben" lädt ein, diese Landschaften selbst zu erkunden. Und dabei Uwe Johnson (wieder) zu lesen: "Beim Gehen an der See gerieten wir ins Wasser. Rasselnde Kiesel um die Knöchel. Wir hielten einander an den Händen: ein Kind; ein Mann unterwegs an den Ort wo die Toten sind; und sie, das Kind das ich war." ("Jahrestage", Ende des 4. Bandes)
Im Datenblatt der Berlinale zum Film finden sich die Credits, der Trailer und sämtliche Spielzeiten.