von Rebecca Wegmann

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30. März 2023

125 Jahre nach ihrer Ermordung ist Sisi, Kaiserin von Österreich und Königin von Ungarn (1837-1898), omnipräsent in der deutschsprachigen Medienlandschaft: Bücher, Dokumentationen, Filme und Serien erzählen ihre Lebensgeschichte nach. Sisi dient seit über einem Jahrhundert als mythische Kultfigur für zahlreiche Adaptionen. Erstmals kam der Sisi-Mythos 1921 mit dem Film Kaiserin Elisabeth von Österreich in die Lichtspielhäuser. In dem Stummfilm des Münchner Regisseurs Rolf Raffé (1895-1978), bei dem auch die Nichte der Kaiserin, Marie Louise Gräfin von Larisch-Wallersee (1858-1940) mitwirkte, spielte Carla Nelsen die Titelfigur. Bis heute interpretierten dutzende Schauspielerinnen die Rolle der Kaiserin von Österreich: Stummfilmschauspielerin Lil Dagover (1931 in Aldof Trotz Elisabeth von Österreich), Opernsängerin Grace Moore (1936 in Josef von Sternbergs The King Steps Out) und natürlich Romy Schneider (in den 50er-Jahren in Ernst Marischkas Sissi-Trilogie). Seit 2021 verkörpert die schweizerisch-amerikanische Schauspielerin Dominique Devenport die Kaiserin von Österreich in der Fernsehserie SISI des TV-Senders RTL, die nun in die dritte Staffel geht. In dem 2022 erschienenen Historiendrama Corsage von Marie Kreutzer interpretiert Vicky Krieps die vierzigjährige Kaiserin Elisabeth im engen Korsett zwischen Schönheitswahn und ihrem eigenen Älterwerden. Für ihre Interpretation der Sisi-Rolle erhielt Krieps renommierte Preise, darunter den Europäischen Filmpreis 2022 als Beste Darstellerin.

Der Sisi-Boom ist mittlerweile sogar in den Streamingdiensten angekommen. Netflix nahm die beliebte Romy-Schneider-Sissi-Trilogie, die jedes Jahr an Weihnachten – Elisabeth Amalie Eugenie von Wittelsbach, Herzogin in Bayern, wurde am 24. Dezember 1837 geboren – die Herzen erwärmt, in sein Programm auf. Ferner produzierte Netflix die deutschsprachige Miniserie Die Kaiserin, die am 29. September 2022 beim Streamingdienst erschien. Die Kaiserin verkörpert die deutsche Jungschauspielerin Devrim Lingnau. In den ersten Wochen nach der Veröffentlichung brach die Miniserie vor allem international Rekorde.[1] Ende des Jahres platzierte der Streamingdienst Die Kaiserin mit fünf Wochen in den Global Top 10 auf Rang 7 der Most Popular Non-English Netflix Series of 2022.[2] So fanden sich im letzten Drittel des vergangenen Jahres in jeder deutschen Stadt Werbeplakate, die Lingnau als junge Kaiserin inszenierten. An der Berliner Friedrichstraße hing ein kolossales Porträt der Kaiserin, deren Kleid aus echtem, Meter langem dunkelblauen Stoff über den Köpfen der Berliner Passant:innen herab wehte. Sisi ist überall. Nun fand sich die mythische Kultfigur auch auf den 73. Berliner Filmfestspielen.

 

Sisi & Ich auf der Berlinale – Eine Erwartungshaltung

Auf den 73. Berliner Filmfestspielen 2023 versammelte die Sektion Panorama, die seit 2019 von Michael Stütz geleitet wird, unter dem Motto Tracking the Unseen. Filme als Werkzeuge des Widerstands anhand von dreißig Filmen, eine breitgefächerte Palette an Sujets: Krieg, Revolution, queere Identitäten und weibliche Selbstermächtigung standen im Mittelpunkt. Letzteres thematisiert Frauke Finsterwalders zweiter Spielfilm Sisi & Ich, der im Rahmen der diesjährigen Berlinale Premiere feierte. Nach dem Studienabschluss in Regie an der Hochschule für Fernsehen und Film in München begann Finsterwalder ihre Filmkarriere mit dem Kurzfilm 0.003 km, darauf folgten die Dokumentationen Weil der Mensch ein Mensch ist (2007) und Die große Pyramide (2010). Im Jahr 2013 debütierte Finsterwalder mit Finsterworld im Spielfilm-Genre. Finsterwalder lebt mit ihrem Ehemann, dem Schweizer Schriftsteller Christian Kracht, und der gemeinsamen Tochter in Los Angeles. Um ihrer im Ausland aufwachsenden Tochter die deutsche Sprache näher zu bringen, schauten Mutter und Tochter gemeinsam die Romy-Schneider-Sissi-Trilogie an, wonach Finsterwalders Tochter sie mit Fragen zur österreichischen Kaiserin löcherte. Dies inspirierte die deutsche Regisseurin und Drehbuchautorin zu ihrem fünften Film, in dem sie den Mythos um Kaiserin Sisi neu interpretiert.

Vor dem Hintergrund zahlreicher Auserzählungen der Lebensgeschichte von Sisi, haben Zuschauer:innen eine geformte Erwartungshaltung an einen Film über die österreichische Kaiserin: Eine strahlende Hauptdarstellerin à la Romy Schneider – wobei diese für viele, die einzig wahre Sissi ist und bleibt –, daneben erwarten wir prunkvolle Kulissen, königlich pompöse Paläste à la Louis Quatorze, kitschig ausladend, prächtige und luxuriöse Ballkleider in allen vorstellbaren Farben und die Habsburger Dekadenz in Hülle und Fülle. Finsterwalders Films eröffnet ein stetiges Spiel zwischen Bruch und Erfüllung der Erwartungen der Zuschauer:innen. Und trotzdem, vielleicht deshalb überzeugt Sisi & Ich.

 

Mutter-Tochter-Konflikt: Ein Eignungstest

Sisi & Ich inszeniert die Kaiserin aus einem ungewöhnlichen Blickwinkel. Anhand der Perspektive einer ihrer Hofdamen erzählt der Film die letzten Lebensjahre der österreichischen Kaiserin: Die Ankunft von Irma Gräfin Sztáray von Sztára und Nagy-Mihály an der Wiener Hofburg ist der Startpunkt des Films. Irma, die von Sandra Hüller gespielt wird, führt der Film über eine Szene ein, in der die unverheiratete 42-jährige Gräfin gemeinsam mit ihrer Mutter Maria Gräfin von Sztáray, gespielt von Sibylle Canonica, in einer Kutsche unterwegs ist. Mutter und Tochter diskutieren über die Zukunft der Tochter. Das Anliegen der Mutter ist es, die unliebsame Tochter Irma als Hofdame der Kaiserin Sisi abzuschieben. Sie spricht ein Machtwort an ihre erwachsene Tochter: „Es ist entweder das oder das Kloster!“[3] Nach der Ankunft bei Hofe werden die beiden Damen in einen prunkvollen, jedoch beinahe leerstehenden Saal geführt. Während sie auf etwas – die Zuschauer:innen wissen nicht genau auf wen oder was – warten, wird die Diskussion zwischen der strengen Mutter und der trotzigen Tochter immer hitziger. Als Irma sich schließlich an einem Spiegel an der Wand Mitesser auf ihrer Nase ausdrückt, rügt ihre Mutter sie dafür mit einem Schlag ins Gesicht. Aus Irmas Nase tropft Blut auf ihr rosafarbenes Mädchenkleid mit aufgeblasenen Puffärmeln. Genau in diesem Augenblick tritt Johanna Wokalek als Gräfin Festetics, eine Hofdame der Kaiserin, herein: Die Musterung beginnt.

Behind the Scenes von Sisi & Ich: Mutter Maria (Sibylle Canonica), angehende Hofdame Irma (Sandra Hüller) und Regisseurin Frauke Finsterwalder. Regie von Frauke Finsterwalder; Deutschland, Schweiz, Österreich 2023 © DCM / Bernd Spauke

Irma wird auf ein kleines Podest in der Mitte des lichtdurchfluteten Prunksaals gestellt und durch Gräfin Festetics hinsichtlich ihrer Tauglichkeit inspiziert. Während sie bei Irma eine volle Leibesvisitation vollzieht, befragt die Inspizientin die Mutter über die Physis ihrer Tochter, ihre Essgewohnheiten und jedes kleine Detail ihrer Lebensführung. Die Inspizientin sucht nach einer geeigneten Nachfolgerin, da sie sich dem körperlich strapazierenden Lebensstil der Kaiserin nicht mehr gewachsen fühlt: „Sie wird nie müde.“ Weil Irma keine Heiratspläne wälzt und nach Eigenaussage „bei Männern immer an Tischtücher“ denken muss, besteht sie die erste Musterung. Auf Irmas Frage, was denn ihre Aufgabe sei, antwortet die Gräfin Festetics: „Sie werden dafür verantwortlich sein, dass die Dinge nicht aus dem Ruder laufen.“ Irma darf allein ohne die Begleitung ihrer Mutter zu Kaiserin Sisi nach Korfu reisen.

Nach einer beschwerlichen Reise kommt die Seekranke Irma schließlich mit dem Boot auf der griechischen Insel an, doch wieder muss sich die angehende Hofdame im Eignungstest beweisen: Bei Irmas Ankunft an den Toren des Achilleions, einem von 1890 bis 1892 für die österreichische Kaiserin erbauten Palast auf Korfu, wird der angehenden Hofdame ein erfrischendes Getränk in der gleißenden Hitze der griechischen Sonne verweigert. Im Gegenteil: Irma wird sogar von Sisis Bediensteten, Graf Berzeviczy (Stefan Kurt), befohlen, Hürden zu laufen: „Die Kaiserin möchte sehen, wie schnell sie laufen können.“ Während Irma vollkommen erschöpft das anstrengende Sportprogramm zu absolvieren versucht und aufgrund der Hitze fast kollabiert, beobachtet die Kaiserin dieses Szenario vom Fenster des Palastes aus. Der Szenerie wohnt eine gewisse Komik inne, der Kinosaal lacht. Auch der weitere Hofstaat Sisis, Fritzi (Sophie Hutter) und Marie (Maresi Riegner), begutachtet den Neuankömmling. Schließlich ist es Irma endlich erlaubt, das Achilleion zu betreten, sich frisch zu machen und endlich die Kaiserin kennenzulernen.

Film still: Kaiserin Sisi (Susanne Wolff) und Fritzi (Sophie Hutter), im Hintergrund Hofdame Irma (Sandra Hüller) in Sisi & Ich. Regie von Frauke Finsterwalder; Deutschland, Schweiz, Österreich 2023. © Bernd Spauke

In einer Art Wintergarten begegnet Irma Kaiserin Sisi, gespielt von Susanne Wolff zum ersten Mal. Ein Bruch mit der Erwartungshaltung: Susanne Wolff als Kaiserin Sisi wird nicht mit stilvoller Hochfrisur in prunkvollen, ausladenden Kleid, sondern mit langen, offenen Haaren in einem hellen, weiten und wallenden Gewand vorgestellt. Sie fordert Irma als erstes dazu auf, Klimmzüge zu machen. Sanft, liebevoll, aber gleichzeitig bestimmt spricht die Kaiserin mit ihrem Neuzugang: „Ich überlege mir genau, wem ich erlaube, bei mir zu leben.“ Sie wolle „jedenfalls keine dicken Menschen und keine Männer“ in ihrer Umgebung haben. Deshalb bietet die Kaiserin Irma eine Tasse Abführtee an. Als Irma sagt, dass sie sich schäme, antwortet Sisi kokett: „Schämen tut sich nur die Bourgeoisie.“ Das Pendel entscheidet, ob Irma als Hofdame der Kaiserin bleiben darf. Irma darf auf Korfu bleiben, keine selbstbestimmte Entscheidung: „Da wird sich meine Mutter sehr freuen“. „Lustig ist sie“, bemerkt die Kaiserin und lacht gemeinsam mit Fritzi und Marie über Irma.

 

Ein lebender Mythos: Gefangen im Schönheitswahn

Von nun an muss Irma im Kosmos der Kaiserin leben. Die Transformation beginnt: Irmas mitgebrachten Kleider werden verbrannt und auch sie wird in weite, wallende, pastellfarbene Roben gekleidet. Irma wird auf eine strikte Diät, Kokaintropfen und Brennnesselsaft, gesetzt, sie wird regelmäßig gewogen und sie muss Gymnastik machen. Irma findet dies alles zunächst befremdlich. Das Frühstück fällt aus, weil die Kaiserin wandern gehen möchte. Während der anstrengenden Wanderung entlang der idyllischen Felsenküste Korfus sprechen die beiden Frauen über ihre gemeinsame Abneigung gegenüber Männern, den Wunsch nach Freiheit, dem Wunsch, aus dem Patriarchat auszubrechen. Sisi sagt: „Kinder sind der Fluch der Frau.“ Am Nachmittag sitzt der exzentrische Hofstaat im Schatten in den Gärten des Achilleions. Fritzi bürstet die Haare der Kaiserin, während Irma vorliest: „Und darf nur heimlich lösen mein Haar, / Und lassen es flattern im Winde!“ Dies sind die letzten Zeilen des Gedichtes Am Turme von Annette von Droste-Hülshoff, welches Ruth Klüger 1995 als „das erste und vielleicht das beste feministische Gedicht in deutscher Sprache“[4] in die Literaturgeschichte einschrieb. Das lose Haar interpretiert Klüger ebenfalls als Zeichen der Freiheit[5] - nach der sich sowohl Sisi, als auch Irma sehnen.

Für die Pflege von Sisis langem Haar ist Fritzi zuständig – die die in der Bürste steckenbleibenden Haare ihrer Herrin heimlich in ihrer Schürze versteckt, damit die Kaiserin keinen Wutanfall bekommt: „Elisabeth fürchtet das Alter wie den Teufel“, erklärt Berzeviczy. Irma sieht es als ihre Aufgabe, Fritzi die Haare abzunehmen und bewahrt das Haarbündel gemeinsam mit anderen Andenken in einer Schatulle. Sie ist der Kaiserin und ihrem Schönheitswahn schon verfallen. Nur ihr Hungergefühl rebelliert noch. Hier versucht Irma ein Stück Butter zu essen, dort heimlich ein Stück Salami zu stibitzen. Immer wieder wird sie entdeckt und bekommt zu hören: „Die Butter wird sich auf der Waage bemerkbar machen,“ oder, „jedes Gramm Salami geht auf die Schenkel.“ Glaubenssätze, die fast jede Frau auch heute noch internalisiert hat. Demgegenüber beobachtet Irma des Nachts eine heimliche Fressattacke der Kaiserin, die sich schließlich in einer Bulimie entlädt.

Die beiden Frauen verbindet vieles: die Liebe zur Lyrik der Droste-Hülshoff oder auch die Passion für das Reiten. Scheinbar freunden sie sich an. An einem verspielten Nachmittag in den Gärten des Achilleions finden sie eine kleine Eidechse. Mit dieser auf der Hand erzählt Irma, dass man Eidechsen nicht lange gefangen halten könne, da sie einfach ihren Schwanz abschmeißen und entkommen würden. Sie lassen sie wieder laufen. Die Eierschale, aus der die kleine Eidechse geschlüpft war, verwahrt Irma in ihrer Schatulle gemeinsam mit Sisis Haaren. Die Eidechse wird zum Symbol des Ausbruchs in die selbstbestimmte Freiheit. Irma konkurriert mit der ehemaligen Favoritin Fritzi um den Platz der engsten Vertrauten der Kaiserin. Sie buhlen um Sisis Aufmerksamkeit.

 

Spiegelbilder: Männer als Kryptonit der Frauenfreundschaft

In einer Gewitternacht, geängstigt durch „eine riesige Spinne”, sucht die Kaiserin Irmas Gemach im Palast auf und kriecht zu ihr ins Bett. Sisi erzählt Irma das Märchen von Dornröschen, eine Geschichte über ein freies Mädchen aus Bayern, dem von einer Seherin vorhergesagt wurde, Kaiserin zu werden und das schließlich an einem kleinen, spitzen Gegenstand zu Grunde gehen soll. Die beiden Frauen werden immer enger miteinander. Irma liebt die Kaiserin. Sie liebt Sisi und gleicht sich vollkommen ihrem Lebensstil an. Als Sisi bei einem Spaziergang ins Meer gefallen zu sein scheint, springt Irma beherzt hinterher – um festzustellen, dass Sisi nur um sie zu testen gesprungen ist. Sie reisen nach Algerien, werden zurück nach Österreich geholt, entfliehen nach England, müssen zurück nach Ungarn. Als Nomadinnen streifen die beiden allein durch die algerische Wüste oder reiten wie Bibi und Tina durch eine englische Grafschaft. Sie genießen die „Freiheiten“, solange sie da sind. Immer wieder werden sie zurück in die Realität des strikten Habsburger Hofes gezogen. Sisis Mutter, Ludovika von Bayern (Angela Winkler) und Irmas Mutter kommen nach Ungarn und besuchen ihre Töchter. Sie beschweren sich über das schlechte Essen und das schlechte Aussehen ihrer „abgemagerten“ Töchter. Die Spannung wächst, als Sisis Mutter diese auffordert, ihr zuliebe etwas zu essen und ihr eine Gabel Fleisch in den Mund schiebt. Sisi reagiert mit einem Essanfall. Nach der Ess-Ekstase erbrechen sich Irma und Sisi simultan – Irma ist ein Spiegelbild Sisis geworden. Sie eifert der Kaiserin in fast allem nach, imitiert sie mehrfach. Die Frauen – obwohl in der Realität siebenundzwanzig Jahre Altersunterschied zwischen Kaiserin Sisi und Gräfin Irma lagen – erscheinen immer wieder als Spiegelbilder. Irma soll sogar an ihrer Stelle bei einem Bankett in Bad Kissingen ihren Platz neben dem Kaiser einnehmen. Bei einer After-Dinner-Zigarette kommen Irma und Baronin Julie Rothschild (Anne Müller) sich näher. Doch Irma flüchtet – und schaut sich ihre Sisi-Erinnerungsstücke an. Sie isst sogar ein paar von Sisis Haaren.

Film still: Bei einer After-Dinner-Zigarette kommt Baronin Julie Rothschild (Anne Müller) Hofdame Irma näher in Sisi & Ich. Regie von Frauke Finsterwalder; Deutschland, Schweiz, Österreich 2023. © DCM / Bernd Spauke

Während Irma sich mehr als eine platonische Beziehung erhofft, weist die Kaiserin sie immer wieder zurück. Die Beziehungshierarchie ihrer Freundschaft wird immer deutlicher. Sisis Freiheitsdrang reicht so weit, dass sie Irma von einem fahrenden Zug schubst und gleich hinterher springt, um mit ihr durch die Berge zu wandern. Das ist sogar Irma zu viel, sie konfrontiert ihre Herrin mit ihren Gefühlen und verkündet Sisi ihren Abgang. Sisi behauptet daraufhin, so lange die Luft anzuhalten, bis sie tot sei. Als sie in Ohnmacht fällt, kehrt Irma erschrocken zurück.

Das freundschaftliche Band der beiden Frauen erscheint weiter ungebrochen. Es zu erschüttern, vermögen nur die Männer oder Sisis Liebe zu diesen: Für Irma sind Sisis Schwager Erzherzog Viktor, genannt Luzi-Wuzi (Georg Friedrich), ihr Ehemann Kaiser Franz Joseph (Markus Schleinzer) oder auch der englische Stallmeister Captain Smythe (Tom Rhys Harries), mit dem Sisi eine Affäre beginnt, Störenfriede, die die harmonische Zweisamkeit der beiden Freundinnen beschädigen. Es kommt zum Verrat. Schließlich wird Sisi die Gefangenschaft in der Rolle der Kaiserin ihr unerträglich: Sie versucht, sich umzubringen. Die erzkatholische Irma rettet sie, sagt ihr, sie komme in die Hölle, wenn sie Selbstmord begehe. Der Mythos der schönen Kaiserin Sisi wäre zerstört. Luzi-Wuzi, der homosexuelle Erzherzog, eilt herbei und versucht gemeinsam mit Irma, ihrer Herrin treu ergeben, Sisi aus ihrer Depression zu holen. Während Luzi-Wuzi beginnt, Sisi nach ihrem Selbstmordversuch wieder herzurichten, sagt er: „Das ist nicht die schönste Frau der Welt, von der alle sprechen.“ Er macht ihr Haar und Make-up: Der Mythos um Kaiserin Sisi muss aufrechterhalten werden. Während Luzi-Wuzi und Irma die Kaiserin umsorgen, spinnt Sisi das Märchen um ihre Lebensgeschichte weiter: Sie wolle 100 Jahre schlafen, um sich zu erholen.

 

Der Mythos ist tot, es lebe der Mythos!

Einer Einladung der Baronin Rothschild folgend reisen Sisi und Irma nach Genf. Sie residieren im Hotel Beau-Rivage, verbringen aber den Abend in der Villa der Baronin in Bellevue am Genfersee. Am nächsten Tag, den 10. September 1898, verlassen Irma und die Kaiserin ihr Hotel gegen Mittag, um mit dem Raddampfer Genève über den See zum Kurort Caux zu fahren. Auf dem Weg zum Landesteg des Dampfers passieren Kaiserin Elisabeth und ihre Hofdame Irma Sztáray die Seepromenade Quai Mont Blanc. Plötzlich wird die Kaiserin von einem Mann, dem italienischen Anarchisten Luigi Lucheni, angefallen, der sich auf sie stürzt und ihr eine spitze Feile ins Herz sticht. Die Kaiserin, die durch den Angreifer zu Fall gebracht wurde, steht unversehrt wieder auf, die Gendarmerie ergreift ihn und der Weg wird gemeinsam mit der Hofdame fortgeführt. Erst später bricht Kaiserin Elisabeth zusammen und stirbt.

Karikatur: Zeitgenössische Darstellung des Attentats auf Kaiserin Elisabeth am 10. September 1898, dessen Zeugin Hofdame Irma Sztáray war. Quelle: Wikimedia Commons. Public Domain

So zumindest ist das Attentat auf Kaiserin Sisi überliefert. Finsterwalder erzählt eine andere Geschichte: In der Villa Rothschild essen Sisi und Irma zusammen mit der Baronin. Ungezwungen nimmt Sisi ihr letztes Abendmahl zu sich. Am nächsten Tag gehen Irma und Sisi auf der Seepromenade spazieren. Überall tuscheln Passant:innen: „Das ist die Kaiserin!“ Langsam nähert sich ein verwirrt dreinschauender Mann. Er fällt die Kaiserin an. Doch nicht er, sondern Irma ist es, die die Kaiserin auffängt und ihr dabei ein spitzes Messer in die Brust rammt. Sisi fängt sich wieder, die Gendarmerie nimmt den Angreifer fest und Kaiserin und ihre Hofdame setzen ihren Spaziergang über die Seepromenade fort. Wenig später bricht Sisi in Irmas Armen erneut zusammen und stirbt. Irma wirft einen letzten Blick auf ihre geliebte Sisi, deren Leichnam in weiße Kleider gehüllt aufgebahrt in einem Sarg liegt. Eine kleine Eidechse kriecht aus den Blumen, die Sisi in die gefalteten Hände gelegt wurden.

Foto: Regisseurin Frauke Finsterwalder mit den Hauptdarstellerinnen Susanne Wolff und Sandra Hüller auf der Premiere von Sisi & Ich während der 73. Berlinale © DCM

Finsterwalders Sisi & Ich bricht in vielerlei Hinsicht mit dem Mythos um Kaiserin Sisi: Die patriarchale Erzählung der schönen Kaiserin wird dekonstruiert und durch den Blick einer Frau auf eine Frau ersetzt. Irma begeht den Mord am Mythos, um die Mystifizierte zu erlösen.

Ein frischer Blick auf einen viel erzählten, beinahe verstaubten Mythos um die Kaiserin von Österreich. Immer wieder spiegelt der Film jene Konflikte, die heute aktueller denn je für Frauen sind. Sisi & Ich entwirft Körperbilder und Frauenfiguren, um die damals wie heute nicht nur in feministischen Kreisen gerungen und gekämpft wird. Über eine komische Leichtigkeit, die es schafft, den schmalen Grat des Witzes einzuhalten und nicht zum Klamauk hinübergleitet, bringt Finsterwalder ernste Inhalte in den filmischen Diskurs. Wolff und Hüller fesseln die Zuschauer:innen mit unerwartet tiefgehenden Dialogen und ihrem eindrucksvollen schauspielerischen Zusammenspiel. Der Film ist ein lohnendes Gegenbild zu all den verkitschten, romantisierten Sisi-Darstellungen der letzten Jahre.

 


[1] Vgl. Jacob Robinson: 'The Empress' Season 2: Officially Renewed at Netflix and What We Know So Far. What's on Netflix (9 November 2022), [zuletzt abgerufen am 29. März 2023].
[2] Vgl. Kasey Moore: Netflix Releases List of Most Popular Shows and Movies in 2022. What's on Netlix, (27. December 2022), [zuletzt abgerufen am 29. März 2023].
[3] Wenn nicht anderweitig markiert, stammen die Zitate in dieser Rezension aus dem Film Sisi & Ich.
[4] Ruth Klüger: Ein Mann, mindestens. In: Frankfurter Anthologie. Band 18 (1995). Hrsg. von Marcel Reich-Ranicki. S. 63.
[5] Vgl. ebd. S. 61.