von Henrik Bispinck

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18. November 2016

Wer sich mit der Aufarbeitung der Geschichte der DDR befasst hat, für den ist Mario Röllig mit hoher Wahrscheinlichkeit kein Unbekannter. Er hat an zahlreichen TV-Dokumentationen und Dokumentarfilmen als Zeitzeuge mitgewirkt, er führt Besuchergruppen durch die Gedenkstätte in der ehemaligen Stasi-Untersuchungshaftanstalt Hohenschönhausen, tritt vor Schulklassen auf, sogar ein dokumentarisches Theaterstück gibt es über ihn. Dass Röllig als Zeitzeuge so präsent ist, hängt wohl auch damit zusammen, dass seine Geschichte auf den ersten Blick sehr ungewöhnlich ist. Im Gegensatz zu vielen anderen Opfern der DDR-Diktatur, die öffentlich auftreten, ist er weder Bürgerrechtler noch Intellektueller, er ist weder Kirchenmann noch Künstler. Mario Röllig, Jahrgang 1967, von Beruf Kellner, lernte als 17-Jähriger bei einem Ungarn-Urlaub einen West-Berliner Politiker kennen und verliebte sich in ihn. Über mehrere Jahre trafen sich die beiden in Ostberlin oder in Ungarn. Im Sommer 1987 versuchte Röllig, über Ungarn nach Jugoslawien zu fliehen, um bei dem geliebten Mann zu leben. Doch wurde er von der ungarischen Grenzpolizei verhaftet und landete in der MfS-Untersuchungshaftanstalt Hohenschönhausen, aus der er drei Monate später im Zuge einer Amnestie entlassen wurde. Ein halbes Jahr darauf durfte er durch Freikauf, wie er in dem Film schildert, aus der DDR ausreisen.

In West-Berlin erlebte er dann allerdings eine große Enttäuschung: Er hatte von einer gemeinsamen Zukunft mit seinem Freund geträumt, doch stellte sich heraus, dass dieser ein verheirateter Familienvater war, der nichts mehr von ihm wissen wollte. Es folgten der Fall der Berliner Mauer, ein längerer Aufenthalt in den USA und die Rückkehr nach Berlin. Im Jahr 1999 wurde Röllig von der Vergangenheit eingeholt: Während seiner Arbeit im KaDeWe traf er zufällig auf seinen früheren Stasi-Vernehmer. Diese Begegnung führte zu einem mentalen Zusammenbruch, in dessen Folge er sich in psychiatrische Behandlung begab und arbeitsunfähig wurde. Seit einigen Jahren engagiert er sich für die Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit, unter anderem in der Vereinigung der Opfer des Stalinismus (VOS).

Jochen Hick, der bereits mit mehreren Dokumentarfilmen zu schwul-lesbischen Themen bekannt geworden ist, darunter „Ich kenn keinen – Allein unter Heteros" (2003) über Schwule in der Provinz oder „Out in Ost-Berlin – Lesben und Schwule in der DDR“ (2013), widmet sich in „Der Ost-Komplex“ weniger der bereits bekannten Geschichte von Mario Röllig. Vielmehr geht es ihm, gleichsam auf einer Metaebene, um dessen Umgang mit seiner Vergangenheit.

Er begleitet Röllig zu Demonstrationen der VOS, bei politischen Veranstaltungen und Podiumsdiskussionen, zu Vorträgen vor Schulklassen, die ihn bis in die USA führen, aber auch zu den Orten seiner Vergangenheit: an die ungarisch-jugoslawische Grenze, in das Hotel, in dem er seinen Westberliner Freund kennenlernte, und in die Gedenkstätte Hohenschönhausen. Dabei ist viel von dem zu sehen, was man aus anderen Dokumentationen zum Thema DDR-Aufarbeitung kennt: Schüler, die pflichtschuldig Fragen stellen und sich am Ende artig für die „authentischen“ Erzählungen des Zeitzeugen bedanken, ein Kapuzenpulliträger von der Antifa, der Marx verteidigt, der Zeitzeuge, der „am Ort des Geschehens“ seine Erinnerungen und seine Gefühle schildert und sich beklagt, dass die Gedenkorte (in diesem Fall die Haftanstalt in Budapest) nicht mehr die Bedrücktheit von damals ausstrahlen, sondern „aufgehübscht" seien, schließlich die Ewiggestrigen, die sich gegen die nachträgliche „Delegitimierung“ der DDR wehren. Hinzu kommen Gespräche mit den Eltern, die SED-Mitglieder waren, aber mit ihrem jetzigen Leben in der Bundesrepublik zufrieden sind, mit der Schwester und mit einer früheren Kollegin.

Eine Haltung zu seinem Protagonisten entwickelt der Film allerdings nicht. Dabei liegt in der gewissen Unbedarftheit Rölligs gerade das Interessante, das, was ihn von vielen Protagonisten ähnlicher Dokumentarfilme unterscheidet:

Warum er sich ausgerechnet bei seinem Fluchtversuch so auffällig gekleidet habe, will der Regisseur wissen. Weil er „cool“ aussehen wollte, wenn er im Westen ankomme, entgegnet Röllig strahlend. Dass das naiv war, ist ihm heute natürlich bewusst, aber es ist diese Unbedarftheit, die ihn auch heute Dinge sagen lässt, die wohl kaum einem früheren DDR-Oppositionellen je über die Lippen kommen würden: „Ich finde den Kapitalismus ganz toll“ ist etwa so ein Satz, geäußert auf einer Veranstaltung der NRW-CDU zum Tag der deutschen Einheit in Recklinghausen. Röllig ist CDU-Mitglied, weil diese Partei sich als einzige glaubwürdig mit der DDR-Vergangenheit auseinandersetze, wie er sagt. Hieraus ergeben sich in Verbindung mit seiner Homosexualität natürlich Widersprüche, die Jochen Hick leider nur selten in den Blick nimmt. Etwa, wenn der Regisseur im Anschluss an Rölligs Festrede auf besagter CDU-Veranstaltung, in der dieser weder aus seiner Homosexualität noch aus dem Grund für seinen Fluchtversuch einen Hehl macht, das Publikum zur Homo-Ehe befragt. Ein älteres Ehepaar druckst lange herum, bis der Mann schließlich ein „(...) man sollte da nichts überstürzen“ herauspresst.

Oder eine Szene, in der Röllig mit anderen VOS-Mitgliedern gegen die Luxemburg-Liebknecht-Demonstration am 15. Januar protestiert. Der Berliner Linken-Vorsitzende Klaus Lederer, den Röllig auf einer Podiumsdiskussion kennen gelernt hat, geht bei dieser Gelegenheit freundlich lächelnd auf ihn zu, und die beiden geben sich die Hand. Wegen dieser Geste wird Röllig später von seinen VOS-Kollegen kritisiert. Auch mit seiner Haltung zur aktuellen Flüchtlingsfrage sitzt Röllig zwischen den Stühlen. Vor dem Hintergrund seiner eigenen Geschichte plädiert er für eine humane Aufnahmepolitik. Dass viele seiner konservativen politischen Freunde einen Unterschied sehen zwischen ihm, der als „Deutscher nach Deutschland“ geflohen sei, und den Flüchtlingen, die derzeit in die Bundesrepublik kommen, kann er nicht verstehen.

Ebenfalls konträr zum CDU-Mainstream liegt seine Aussage, am 9. November 1989 habe er vor Wut geheult – weil das ganze „Gesindel" und „Lumpenpack" nun herübergekommen wäre und er die Stasi- und SED-Leute habe wiedersehen müssen. Warum er trotzdem für die CDU zum Tag der Einheit spricht und sogar eine Einladung aus den USA zum 25. Jahrestag des Mauerfalls annimmt, bleibt offen. An dieser Stelle hakt der Regisseur leider nicht nach. Stattdessen konfrontiert er Röllig mit dem scheinbaren Widerspruch, sich einerseits für Kapitalismus und Wettbewerb auszusprechen und andererseits von Transferleistungen zu leben, was vor dem Hintergrund der Ursachen für dessen Arbeitsunfähigkeit einigermaßen geschmacklos anmutet. Die Szenen aus den USA, genauer aus Charlotte in North Carolina und dem nahe gelegenen Davidson College, gehören zu den interessantesten des Films. Zum einen kann man hier History Reenactment in amerikanischer Manier in Reinkultur erleben: Schüler basteln Plakate und Banner mit Schriftzügen und stellen damit die Montagsdemonstrationen nach, um anschließend eine aus Pappkartons gebaute Mauer zum Einsturz zu bringen. Besonders bizarr wirkt ein Laienchor, der mit hörbarer Mühe die deutsche Nationalhymne einstudiert. Zum anderen erlebt man die Selbstdemontage des ehemaligen deutschen Spitzenpolitikers Kurt Biedenkopf, der sich in einer Podiumsdiskussion weigert, über das von Röllig angeschnittene Thema Rechtsextremismus in Ostdeutschland zu sprechen. Den gäbe es zwar, so Biedenkopf, aber er sei politisch unbedeutend, und wenn überhaupt solle man darüber nur in Deutschland und nicht in den USA diskutieren. Stattdessen drängt der Politiker ungeniert, zum Essen aufzubrechen.

Überhaupt zählen die kleinen, eher beiläufigen Geschichten am Rande zu den aufschlussreichsten des Films, etwa wenn RTL-Journalist Michael Ortmann sich nicht entblödet, Röllig für eine TV-Dokumentation über Hohenschönhausen dazu aufzufordern, sich auf die für Häftlinge vorgeschriebene Weise auf die Liege in einer Haftzelle zu legen. Der ehemalige Häftling weist dieses Ansinnen fast schüchtern zurück.

Trotz solcher interessanter Einblicke lässt der Film den Zuschauer eher ratlos zurück. Inhaltlich bietet er kaum etwas Neues. Der nahe liegenden Frage, ob Röllig von Opferverbänden bzw. von der CDU auch ein Stück weit instrumentalisiert wird, geht der Regisseur nicht nach. Die einzelnen Szenen sind - mit Ausnahme von Übergangssequenzen  aus collageartigen, sich überlappenden O-Tönen des Protagonisten - konventionell gefilmt und zusammengeschnitten. Ein Spannungsbogen, eine Dramaturgie oder ein roter Faden sind nicht erkennbar. Kinotauglich ist dieser Film nicht.

 

Der Ost-Komplex. Die Geschichte des Mario Röllig

Ein Dokumentarfilm von Jochen Hick (Deutschland 2016)