von Lisa Städtler

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2. August 2016

„Ostalgie ist so ein dämlicher Begriff. Das ist doch Vergangenheit, warum wird da immer noch so viel drüber geredet?“

Mit diesen frei zitierten Worten händigte mir eine Bibliotheksmitarbeiterin kürzlich das Buch Ostalgie von Thomas Ahbe aus. Ihre entrüstete Aussage verdeutlicht die Vieldeutigkeit und gleichzeitig die emotionale Aufgeladenheit dieses problematischen Begriffs. Und sie weist auf seine nach wie vor bestehende aktuelle Relevanz hin.

Die historische Forschung fasst unter dem Begriff Ostalgie ganz grundsätzlich eine Form der Nostalgie für die DDR, die die sozialistische Vergangenheit romantisiert und in ihrer extremsten Form sogar das repressive System des SED-Staates verleugnet.[1] Die Kunsthistorikerin Elaine Kelly definiert Ostalgie als „an escapist and uncritical engagement with the past”.[2] Ebenfalls aus einer historischen Perspektive schreibt Claire Hyland in ihrem Aufsatz Ostalgie doesn’t fit!, dass sich Ostalgie vor allem um Produkte der Populärkultur ranke. Die ostdeutsche Aktfotografie spielt in diesem Zusammenhang derzeit eine besondere Rolle. In den letzten Jahren erschienen drei Sammelbände, die den aktfotografischen Arbeiten von bis zu 24 ostdeutschen Künstlerinnen und Künstlern gewidmet sind: Schön nackt. Aktfotografie in der DDR (2009), Schöne Akte. Fotografien aus der DDR (2011) und Akt in der DDR. Eine Retrospektive (2014). Auf den Fotografien in den Sammelbänden sind zumeist nackte oder nur leicht bekleidete Frauen zu sehen, abgelichtet in der Natur, am Strand, in den Dünen, im Wald oder auch in Wohnhäusern. Kurze Texte, Geleitworte, Einleitungen oder abschließende Bemerkungen rahmen die Sammelbände. Die Aktbilder werden in ihrem Entstehungszusammenhang in der DDR verortet und erscheinen gerade aus diesem Grunde publizierungswürdig. Die Texte erfüllen also eine Deutungsfunktion hinsichtlich der DDR-Vergangenheit und sollen eine bestimmte Art der Erinnerung evozieren.

Dass diese Erinnerung als nostalgisch beschrieben werden kann, lässt sich beispielsweise am Vorwort von Schöne Akte veranschaulichen: „Nacktheit war Teil eines Lebensgefühls und bedeutete Freiheit, Ungezwungenheit und Selbstbestimmtheit“.[3] Und „Aktfotografie in der DDR war kein Aufreger […]. Wie das Nacktbaden und der FKK-Strand gehörte sie zum ungezwungenen ostdeutschen Alltag“.[4] Auch in Akt in der DDR wird davon gesprochen, dass die Aktfotografie viel von der Lebenswirklichkeit der Ostdeutschen verrate. In einem Artikel, der die Bilder des ostdeutschen Fotografen Eberhard Gabe vorstellt, wird außerdem betont, wie anders ostdeutsche Aktfotografie gewesen sei: Die Aktmodelle seien in „naturbelassener Schönheit, die ohne Rasur, Piercings oder Tätowierungen und erst recht ohne Silikon“ auskam, fotografiert worden.[5]

Beim Verständnis und der Analyse dieser Aussagen helfen Martin Sabrows Erinnerungslandschaften. Der Direktor des Zentrums für Zeithistorische Forschung in Potsdam verortet Ostalgie auf der Ebene des Arrangementgedächtnisses. Sabrow zufolge bestimmt das Arrangementgedächtnis neben dem Diktaturgedächtnis und dem Fortschrittsgedächtnis das aktuelle Erinnern an die DDR. Dabei ist es wichtig einzubeziehen, dass dieses Erinnern an die DDR ebenso weitläufig, verzweigt und umstritten ist, wie die historische Erinnerungsforschung und die Idee der Erinnerungsorte selbst.[6] Doch bietet Sabrows Konzept zumindest einen ersten methodischen Ansatzpunkt, um einer Form des Erinnerns, dem ostalgischen Erinnern an die DDR, auf die Spur zu kommen. Er verortet das Diktaturgedächtnis, das vor allem „auf den Unterdrückungscharakter der SED-Herrschaft und ihre mutige Überwindung in der friedlich gebliebenen Revolution von 1989/90“ abhebe, im Zentrum des öffentlichen Gedenkens. In Abgrenzung dazu beschreibt er als charakteristisch für das Arrangementgedächtnis, dass es Lebenswelt und Machtsphäre in der Retrospektive verknüpfe und einen „Stolz auf das in der DDR Erreichte“ pflege.

In Bezug auf die ostdeutsche Aktfotografie als Erinnerungsmedium wird ein Teil der DDR-Lebenswelt, die Freikörperkultur, wiederholt als Kausalargument angeführt. Nudismus kann dabei historisch zwar als ein integraler Bestandteil der sexuellen Revolution in der DDR beschrieben werden. Doch weist etwa die britische Historikerin Josie McLellan in ihrer paradigmatischen Studie Love in the time of communism darauf hin, dass sich seit den 1990er Jahren die vermeintliche Allgegenwärtigkeit des Nudismus zu einem festen Bestandteil der Mystifikation der DDR und zu einem Symbol für die Unterschiede zwischen Ost und West wandelte. Diese Tendenz ist in sämtlichen Texten, die die oben vorgestellten Sammelbände rahmen, festzustellen.

Nacktheit wird in Bezug auf die Deutung ostdeutscher Aktfotografie zu einem doppelt aufgeladenen Symbol. Einerseits ist sie verbunden mit Erinnerungen an den Einsatz gegen ein staatliches Verbot der Freikörperkultur in den 1950er Jahren und einer Massenkultur, die sich vor allem in den 1970er und 1980er Jahren in der DDR etablierte.[7] Hier wird die oben zitierte Lebenswirklichkeit evident, wenn in den Texten von Nacktheit als Alltag gesprochen wird. Andererseits wird der Konflikt um das FKK-Baden ebenso als aktuell erlebt, was etwa mit dem Beitrag Die Ostsee von Christopher Görlich in Sabrows Erinnerungsorte der DDR illustriert werden kann. Görlich beschreibt das FKK-Baden als einen bedeutenden Bestandteil eines freiheitsorientierten und selbstbewussten ostdeutschen Selbstverständnisses, wenn er schreibt: „Die Konflikte um das FKK-Baden trugen zur Herausbildung einer Erinnerung an die DDR bei, vor deren Hintergrund weniger die SED-Diktatur als vielmehr die Bundesrepublik Züge eines repressiven Staates annahm.“[8] Im Rahmen dieses Selbstverständnisses wird Nacktheit mit Natürlichkeit assoziiert, wobei Natürlichkeit sehr spezifisch im Sinne von nicht rasiert, nicht tätowiert usw. verwendet wird. Zusätzlich wird Nacktheit mit Protest in Verbindung gebracht, zuerst mit dem Auflehnen gegen staatliche Obrigkeiten in der DDR und dann später gegenüber dominanten öffentlichen Diskursen in der Bundesrepublik. An dieser Stelle werden Arrangement- und Diktaturgedächtnis verschränkt. Die symbolische Aufladung der vermeintlich natürlichen Nacktheit wird politisch. Sie wird zu einer Versicherung eines Ringens um einen (öffentlichen) Raum, in dem die Freikörperkultur ausgelebt werden konnte, sowohl in der DDR als auch nach 1990. Die vermeintlich lebensweltliche Sphäre wird sprachlich mit dem normativen Täter-Opfer-Gegensatz des Diktaturgedächtnisses (vereinfacht: die ostdeutschen FKKler erst gegen den SED-Staat, dann später gegen die BRD) verbunden und somit – zumindest in Bezug auf die Aktfotografie – legitimiert.

Diese Erinnerungsverbindung überdeckt allerdings die Tatsache, dass es – insbesondere in den 1950er und 1960er Jahren – ebendiese sogenannte Natürlichkeit war, welche die Aktfotografien für die SED ideologisch zulässig machte. Josie McLellan zitiert dazu den ostdeutschen Fotografen Klaus Ender, der darauf hinweist, dass bis in die 1970er Jahre Bilder von rauchenden oder stark geschminkten Frauen zur Veröffentlichung nicht akzeptiert worden wären. Er beschreibt das ideale Aktmodell dabei als „a nice girl; this was after all a GDR girl and GDR citizens had to be nice”.[9] In den Sammelbänden finden sich nur insgesamt vier Frauen und ein Mann, die offensichtlich rauchen. Stark geschminkte Frauen sind die Ausnahme. Diese Beobachtung wurde bereits im Titelzitat aufgegriffen: In Schön nackt werden die ostdeutschen Aktmodelle als „ungeschminkt“, also natürlich beschrieben.[10] Enders Bemerkung verweist auch auf einen weiteren Punkt, nämlich darauf, dass Natürlichkeit in Bezug auf Aktfotografie, anders als in Bezug auf FKK, zuerst einmal rein weiblich konnotiert war – und es auch in den untersuchten Texten ist. Fotografien von männlichen Aktmodellen sind in allen drei untersuchten Bänden äußerst selten zu finden. In Schön nackt sind auf zwei Fotos unbekleidete Männer zu sehen, wobei einer der beiden lediglich im Hintergrund unscharf zu erkennen ist. Ein einziger ebenso im Hintergrund liegender Mann findet sich in Akt in der DDR. In Schöne Akte sind auf den knapp 190 Seiten insgesamt fünf nackte Männer zu sehen. Auch dieser Befund spiegelt eine ideologische Norm des SED-Staates der 1950er und 1960er Jahre wider, der offensichtlich immer noch in den Aktbänden Rechnung getragen wird. In diese Vorstellung konnten (und können) männliche Akte schlichtweg nicht integriert werden. So schreibt etwa Josie McLellan in Love in time of communism:  

„Male nudes – rather than photographs of naked men – rarely existed because they were difficult to fit into the photographic conventions of the nude: passive, sexualised, in thrall to the camera and the spectator. Portraying men in this way was fraught with difficulty, not least due to the spectre of homoeroticism.”[11]

 

Auch wenn Aktfotografie für die DDR – und auch heute – zumeist als weiblich konnotiert beschrieben werden kann, lässt sich für die DDR ein Bewusstsein dieser einseitigen Assoziation und somit eine Leerstelle in den untersuchten Sammelbänden nachweisen. Dies zeigt etwa der Kommentar einer Leserin, die auf die Veröffentlichung des ersten männlichen Aktes in der Dezemberausgabe der populären DDR-Zeitschrift Das Magazin 1974 Bezug nimmt:

„Oh, wie lange warten wir armen Frauen auf Gleichberechtigung auch im ‚Magazin‘. Die Herren der Schöpfung bekommen allmonatlich ihre nackte Frau plus zahlreiche halbnackte plus noch zahlreiche angezogene serviert. Wir dürfen ab und an einen gutangezogenen Schauspieler unserer Breitengrade bewundern. […] Warum nicht öfter Bilder von attraktiven Männern?“[12]

Entscheidend ist also, dass die Sammelbände nicht nur einen Fokus auf weibliche Nacktheit erkennen lassen, sondern eine bestimmte Form der weiblichen Nacktheit in den Blick nehmen. Um es in Klaus Enders Worten – hier wieder zitiert nach Josie McLellan – zu sagen: eine, die „aesthetically pleasing“ ist.[13] Sämtliche andere fotografischen Tendenzen werden ausgeklammert. Etwa die sozialkritisch angelegten Arbeiten Gundula Schulze-Eldowys. Sie fotografierte sehr alte, sehr junge, arme, übergewichtige oder amputierte Modelle mit dem Anspruch, auf Aktbildern die gelebte Realität abzubilden, da sie das Bedürfnis der Menschen verspürt habe „to be how they are and not to be ruled by an idealised picture which makes them feel inferior“.[14] Auch homoerotische Aktfotografien etwa von Andreas Fux finden keinen Eingang in die Sammelbände.[15] Die Frauen auf den Bildern in allen drei Fotobänden sind mit wenigen Ausnahmen jung, schlank und schön. Hier wird die Wirkmacht von Text in Bezug auf Bilder evident. Die Fotografien schaffen in Verbindung mit den sie umgebenden Texten eine Deutung historischer Realität, die sprachlich durch eine Verschränkung des Diktatur- und des Arrangementgedächtnisses plausibel wird.[16] Dass etwa mit der sogenannten Natürlichkeit ein sehr eng umrissenes Konzept verbunden ist, erschließt sich dabei nicht durch die alleinige Rezeption der Fotografien. Die Bilder werden schließlich zu Repräsentationen der Geschichten, in die sie eingebettet werden. Sie werden zu einer kommunizierbaren Information. Sie verwandeln sich in Wissen, in dem Moment, in dem sie verarbeitet, also angeschaut und in einen Zusammenhang gesetzt werden.[17]

Abschließend kann also resümiert werden, dass der „‚Laien-Diskurs‘ Ostalgie“ nicht der Vergangenheit angehört.[18] Stattdessen lässt sich in den untersuchten Texten eine sehr aktuelle Verschränkung zwei der von Martin Sabrow beschriebenen Erinnerungslandschaften, nämlich dem Diktatur- und dem Arrangementgedächtnis, und somit eine ostalgische Tendenz der Erinnerung an die DDR feststellen. Die Aktfotografien werden in ihrer Deutung durch offizielle Diskurse des SED-Regimes der 1960er und 1970er Jahre präsentiert. Auf sprachlicher Ebene lassen sich die Texte allerdings eher dem Diktaturgedächtnis zuordnen, wodurch ihre Botschaft für den zeitgenössischen öffentlichen Erinnerungsdiskurs legitimiert wird. Die Bilder werden zu einer Art unmittelbaren Verbindung in die ostdeutsche Vergangenheit stilisiert, denn „dem Betrachter werden keine Kulissen vorgeführt, sondern reale, lebendige Räume – bewahrtes Lebensgefühl einer Geschichte gewordenen Epoche“.[19] Dabei weist auf den Fotografien selbst wenig auf ihren Entstehungszusammenhang in der DDR hin. Die Sammelbände präsentieren eine sehr stark beschnittene „Retrospektive“ ostdeutscher Aktfotografie, die vor allem repräsentativ für den Wunsch ist, die DDR als freiheitliche und idealtypische Gesellschaftsordnung zu erinnern. Die Texte sind somit Teil eines lebendigen Diskurses, eines Ringens um die Erinnerung an die DDR.

 

[1] Claire Hyland, ‚Ostalgie doesn’t fit!‘. Individual interpretations of and Interactions with Ostalgie, in: Anna Saunders/ Debbie Pinfold (Hrsg.): Remembering and rethinking the GDR. Multiple perspectives and plural authenticities, Houndmills u.a. 2013, S. 101-115, hier S. 101.
[2] Elaine Kelly, Reflective nostalgia and diasporic memory. Composing East Germany after 1989, in: Anna Saunders/ Debbie Pinfold (Hrsg.): Remembering and rethinking the GDR. Multiple perspectives and plural authenticities, Houndsmill u.a. 2013, S. 116-131, hier S. 121
[3] Hans-Jürgen Horn, Vorwort, in: Ders. (Hrsg.): Schöne Akte. Fotografien aus der DDR, Berlin 2011, S. 7-9, hier S. 7
[4] Ebd., S. 9.
[5] Danaë Simmermacher, Natürlich nackt. FKK und Akt in der DDR, in: Eberhard Garbe (Hrsg.): Natürlich nackt. FKK und Akt in der DDR, S. 81-93, hier S. 84.
[6] Die Vertreterinnen und Vertreter einer „dritten Phase der Erinnerungsforschung“ verstehen Erinnerungsakte als heterogen, dynamisch und deshalb grundsätzlich (miteinander) verschränkt („entangled“). Sie plädieren in diesem Zusammenhang für eine Abkehr vom klassischen Untersuchungsgegenstand der Erinnerungsforschung, dem Nationalstaat: Gregor Feindt/ Félix Krawatzek/ Daniela Mehler/ Friedemann Pestel/ Rieke Trimçev: Entangled memory. Toward a third wave in memory studies, in: "History and Theory", Vol. 53 (Feb. 2014), S. 24-44. Ich danke Gregor Feindt für diesen Hinweis.
[7] Josie McLellan, Love in the time of communism. Intimacy and sexuality in the GDR, Cambridge 2011, S. 144 f.
[8] Christopher Görlich, Die Ostsee, in: Martin Sabrow (Hrsg.): Erinnerungsorte der DDR, München 2009, S. 326-331, hier S. 330.
[9] McLellan, Love in the time of communism (Anm. 7), S. 180.
[10] Jutta Resch-Treuwerth, Ungeschminkt, in: Dies., Willi Sitte (Hrsg.): Schön nackt. Aktfotografie in der DDR, Berlin 2009, S. 189-191, hier S. 191.
[11] McLellan, Love in the time of communism (Anm. 7), S. 187.
[12] Institut für Zeitschriftenforschung, Das Magazin 1974 (12), S. 3.
[13] Hans-Jürgen Horn, Schöne Akte (Anm. 3), S. 181.
[14] McLellan, Love in the time of communism (Anm. 7), S. 198.
[15] Andreas Fux wurde 1964 in Ost-Berlin geboren und fotografierte in der DDR unter anderem für Das Magazin. Josie McLellan zählt ihn neben Gundula Schulze-Eldowy, Tina Bara, Thomas Florschütz und Sven Marquardt zu einer Gruppe ostdeutscher Fotografinnen und Fotografen, die die späte DDR auf ihren Bildern (sozial)kritisch in den Blick nahmen, vgl. Josie McLellan: From Private Photography to Mass Circulation. The Queering of East German Visual Culture, 1968-1989, in: "Central European History" 48 (2015), S. 405-423, hier S. 420.
[16] Derek Sayer, The Photograph. The still image, in: Sarah Barber/ Corinna M. Peniston-Bird: History beyond the text. A student’s guide to approaching alternative sources, London/New York 2009, S. 49-71, hier S. 52.
[17] Nach Aleida Assmann, Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik, München 2006, S. 210 ff.
[18] Michael Meyen, „Wir haben freier gelebt“. Die DDR im kollektiven Gedächtnis der Deutschen, Bielefeld 2013 (Kultur- und Medientheorie), S. 10.
[19] Horn, Vorwort (Anm. 3), S. 9.