von Dominik Rigoll, Nikolai Okunew

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27. April 2021

Am 5. Januar 2021 erschien auf welt.de ein Artikel von Sven-Felix Kellerhoff über Rosa Luxemburg: „Sie wollte den Bürgerkrieg in Deutschland – um jeden Preis“.[1] Trotz seiner extrem kurzen Lesedauer – die Welt veranschlagt drei Minuten – enthält der Text so viele Fehler und Ungenauigkeiten, dass wir unserem Ärger darüber Ausdruck verleihen möchten. Fehler zu machen ist menschlich und parteilich zu sein kein Problem, aber wer die historische Realität so dermaßen verdreht, erweist der Public History keinen Dienst.

 

Was wollte Rosa Luxemburg vor ihrer Ermordung und warum?

Ein besonders gravierender Fehler findet sich gleich im ersten Absatz. Hier heißt es, Luxemburg, die vor 101 Jahren von nationalistischen Militärangehörigen in Berlin ermordet und in den Landwehrkanal geworfen wurde, habe in den Tagen vor ihrem Tod einen „bolschewistischen Staatsstreich“ angestrebt. In Wirklichkeit zählte Luxemburg zu jenen seinerzeit gar nicht so wenigen radikalen Linken, die sich bei aller Hoffnung, die sie in die Oktoberrevolution setzten, überall in Europa gegen die Errichtung eines am Vorbild des 1917 in Russland durch die Bolschewiki etablierten Regimes im eigenen Land wandten. Nachzulesen ist dies etwa in Ursula Büttners Überblickswerk zur Geschichte der Weimarer Republik.[2] Nachzulesen ist das aber auch in einem Text, den Kellerhoff selbst 2009 verfasste.[3] Dort bezeichnete er Luxemburg zwar als „bedingungslose Theoretikerin der Revolution“, aber als eine, die sich von „Lenins Bolschewisten“ abgrenzte, da sie eben keine „Diktatur einer Partei oder einer Clique“[4] wollte.

Ein Beispiel für Luxemburgs Kritik am Bolschewismus enthält die von ihr mitverfasste Programmschrift Was will der Spartakusbund? vom Dezember 1918: „Die proletarische Revolution bedarf für ihre Ziele keines Terrors“, heißt es darin, „sie haßt und verabscheut den Menschenmord. Sie bedarf dieser Kampfmittel nicht, weil sie nicht Individuen, sondern Institutionen bekämpft, weil sie nicht mit naiven Illusionen in die Arena tritt, deren Enttäuschung sie blutig zu rächen hätte. Sie ist kein verzweifelter Versuch einer Minderheit, die Welt mit Gewalt nach ihrem Ideal zu modeln, sondern die Aktion der großen Millionenmasse des Volkes, die berufen ist, die geschichtliche Mission zu erfüllen“.[5]

Kellerhoff erwähnt die Spartakus-Schrift in seinem aktuellen Text zwar – die darin enthaltene Distanzierung von politischem Terror jedoch nicht. Stattdessen verweist er zu Recht darauf, dass der Text die Forderung nach der Errichtung einer „Diktatur des Proletariats“ enthält. Hier unterschlägt er allerdings, dass Luxemburg unter diesem Begriff – wie nicht wenige Linke ihrer Zeit – nicht den Aufbau einer dauernden Gewaltherrschaft verstand, sondern ein Ausnahmeregime auf Zeit, das die Errungenschaften der Revolution sichern und sich weniger auf den Staatsapparat als auf „die Massen“ stütze sollte. Vergegenwärtigen muss man sich hier, dass das Kaiserreich – und erst Recht der Erste Weltkrieg, der 1917 faktisch in eine Diktatur der beiden nationalistischen Militärs Hindenburg und Ludendorff gemündet hatte, – der marxistischen Linken als eine „Diktatur der Bourgeoise“ galt. Zum Verständnis von Luxemburgs linker Radikalität ist außerdem zu bedenken, dass sich viele ihrer sozialdemokratischen Genossen und Genossinnen seit der Jahrhundertwende nicht weniger radikal in die andere politische Richtung bewegt haben – nach rechts. Wäre es im Jahr 1900 noch undenkbar gewesen, dass die SPD einen Krieg der kaiserlichen Regierung vier Jahre lang unterstützt, obwohl ihm täglich viele Tausend Soldaten und Zivilist:innen zum Opfer fielen, war ebendies in den 51 Kriegsmonaten, die der Novemberrevolution vorausgingen, geschehen.

Wenn Luxemburg den nur „auf Reformen und Demokratisierung ausgerichteten Teil der SPD verachtete“, wie es im Welt-Artikel zu Recht heißt, dann nicht, weil sie demokratische Reformen geringschätzte, sondern weil sich der bloße Reformismus der sozialistischen Arbeiterparteien unfähig erwiesen hatte, das Massensterben des Weltkriegs zu verhindern, von dem Historikerinnen und Historiker heute sagen, dass es die „Urkatastrophe“ des 20. Jahrhunderts war.

 

Eduard Bernsteins scharfe aber solidarische Kritik an Luxemburgs Theorien

Als Kronzeuge gegen Rosa Luxemburg ruft Sven-Felix Kellerhoff mit Eduard Bernstein einen ihrer prominentesten Kritiker herbei. Zitiert wird aus Bernsteins immer noch lesenswertem Buch Die Deutsche Revolution, wenn auch wiederum sehr selektiv. Die Welt führt Bernsteins Ärger darüber an, dass eine „so geistig begabte und wissenschaftlich gebildete Person wie Rosa Luxemburg“ an einem „ebenso konfusen wie demagogisch hetzerischen Machwerk“ wie der erwähnten Spartakus-Schrift hatte mitarbeiten können.

Unerwähnt bleibt, worauf sich Bernstein hier bezog: Er machte einen Widerspruch aus zwischen der Beteuerung der Spartakisten, die „Diktatur des Proletariats“ dürfe nicht der Terror einer Minderheit sein, und einer in der Schrift enthaltenen Forderung, namentlich die „Entwaffnung der gesamten Polizei, sämtlicher Offiziere, sowie der nicht proletarischen Soldaten, Entwaffnung aller Angehörigen der herrschenden Klassen.“ Während Luxemburg hoffte, dass diese Massenentwaffnung allein durch Massenproteste, Massenstreiks und die gezielte Gewaltanwendung durch bewaffnete Arbeitermilizen realisiert werden könne, hielt Bernstein derlei für naiv: Ein solches Unternehmen sei „nach Lage der Dinge ohne Terror und blutigen Kampf gar nicht durchführbar“. Bernstein kritisierte Luxemburg also scharf, – eine Parteigängerin des Bolschewismus sah er in ihr aber gerade nicht. Überhaupt entspricht das von Respekt und Empathie geprägte Bild Bernsteins so gar nicht der hässlichen Fratze, die Kellerhoff von Luxemburg zeichnet. Dort ist von einer „rücksichtslosen Revolutionärin“ die Rede, die zu Unrecht als „linke Intellektuelle“ verehrt werde und vielen als „Vorbild“ gelte. Bernstein hingegen schrieb nach Luxemburgs Tod:

In ihr hat der Sozialismus eine hochbegabte Mitstreiterin verloren, die der Republik unschätzbare Dienste hätte leisten können, wenn nicht falsche Einschätzung der Möglichkeiten sie ins Lager der Illusionisten der Gewaltpolitik geführt hätte. Aber auch wer um dessentwillen im Parteikampf ihr Gegner war, wird das Andenken dieser rastlosen Kämpferin in Ehren halten.

 

Wenn Dämonisierung saubere Quelleninterpretationen verhindert

Kellerhoff scheint vor allem von politischer Antipathie getrieben zu sein, die sich auch aus seinem Ärger über die Sympathie speist, die Luxemburg noch immer von vielen Linken entgegengebracht wird. Wenn Quellen deshalb ungenau gelesen werden, werden Antipathie und Sympathie für die Public History allerdings zum Problem. Einige Beispiele haben wir schon genannt. Ein weiteres Beispiel ist der Leitartikel in der Roten Fahne vom 7. Januar 1919, den Kellerhoff anführt, um zu belegen, dass Luxemburg einen „bolschewistischen Staatsstreich“ geplant habe: „Handeln! Handeln! Mutig, entschlossen, konsequent – das ist die verdammte Pflicht.“ Soweit die zum Beleg der Bolschewismus-These herangezogene Textpassage, aus der freilich zunächst einmal nur ihr Aktionismus hervorgeht.

Liest man den Artikel weiter, findet sich in ihm ein weiterer Lobgesang auf die revolutionären „Massen“. Diese seien sich ihrer Macht bewusst geworden und den gewerkschaftlichen und parteilichen Führern enteilt. Kein Wort von einer Anleitung dieser Protestierenden durch ihre „Avantgarde“ findet sich im Text. Damit zieht Luxemburg nicht nur eine klare Abgrenzung zu dem, was Lenin und die Bolschewiki propagierten, sondern blieb auch ihren früheren Ausführungen Zur russischen Revolution treu: „Jawohl: Diktatur! Aber diese Diktatur besteht in der Art der Verwendung der Demokratie, nicht in ihrer Abschaffung, in energischen, entschlossenen Eingriffen in die wohlerworbenen Rechte und wirtschaftlichen Verhältnisse der bürgerlichen Gesellschaft, ohne welche sich die sozialistische Umwälzung nicht verwirklichen läßt.“

Besonders deutlich wird Kellerhoffs Dilemma der Dämonisierung dort, wo er Luxemburg eine Handlungsmacht zuschreibt, über die sie überhaupt nicht verfügte. So heißt es an einer Stelle, sie habe mit Liebknecht im Dezember 1918 mit einem Manifest des Spartakusbundes „für die Spaltung der Arbeiterbewegung“ gesorgt. In Wirklichkeit kann man in allen Überblicksdarstellungen der letzten Jahre nachlesen, dass diese Spaltung, die freilich nicht nur in Deutschland, sondern in allen Sozialdemokratien der Welt stattfand, schon während des Krieges eingesetzt hatte und von beiden Seiten, also auch von der Parteirechten um Eduard David, Gustav Noske und anderen vorangetrieben worden war.

Heikel ist schließlich auch, dass Kellerhoff etwas betreibt, das man neudeutsch als „Victim Blaming“ bezeichnet. So liest man im Fazit des Textes: „Nach dem Scheitern des Aufstandes, zu dem sie mit ihrem am 5. Januar 1919 verfassten Leitartikel mit aufgerufen hatte, wurde Rosa Luxemburg am 15. Januar 1919 von rechtsextremen Milizen ermordet.“ Gemeint ist der sogenannte Januaraufstand, den aber weder der Spartakusbund noch die aus ihm hervorgegangene KPD geplant hatten, auch wenn Kellerhoff in zyklischen Abständen das Gegenteil behauptet.[6] Luxemburg begrüßte den Aufstand zwar, doch ist ihren zeitgenössischen Äußerungen die Überraschung über ihn deutlich zu entnehmen.

 

Verdammung der Erinnerung mit unsauberen Mitteln

Kellerhoff schreibt regelmäßig über Rosa Luxemburg. Er kündigt dabei stets das gleiche Vorgehen an: Der „Säulenheiligen" der Linken soll durch ihre Verortung in der Historie der Heiligenschein genommen werden. Durch selektives Zitieren ohne Kontextualisierung zeichnet er, wie dargestellt, ein Zerrbild einer durch und durch antidemokratischen, ja blutrünstigen Politikerin. Selbstredend wäre der Verehrung einer solchen Person von der Public History und der Geschichtswissenschaft etwas entgegenzusetzen. Allein Kellerhoff arbeitet derart unsauber, dass seine Argumente vor allem bei jenen verfangen, denen es nicht in erster Linie um eine Kritik des linken Totenkultes geht, sondern darum alles, was links von der behaupteten Mitte liegt, bei Lenin und den Bolschewiki zu verorten. Dazu zeichnet Kellerhoff stets ein vereinfachtes Bild einer durch Unordnung bedrohten Ordnung und schließt damit direkt an Interpretationen des konservativen Bürgertums der Weimarer Republik und der frühen Bundesrepublik an.[7] An Deutungen von Kräften also, die 1933 versagten und Ordnung für wichtiger erachteten als Demokratie beziehungsweise an Kalte Krieger:innen, deren integrative Ideologie nach 1945 der Antikommunismus war.

Nicht unerwähnt soll ein letzter Beleg für das unsaubere historische Arbeiten Kellerhoffs bleiben: Sein aktuellster Artikel zu Luxemburg ist noch nicht einmal korrekt bebildert. Das Foto einer lächelnden Frau mit Hut, das ihn illustriert, trägt die Bildunterschrift „5. Januar 1919: Rosa Luxemburg (1871–1919), Revolutionärin, ruft zum Aufstand auf“. Jedoch ist die Frau für eine Zeit in Berlin kurz nach Neujahr nicht nur überraschend dünn gekleidet, es handelt sich auch nicht um Luxemburg, sondern um deren Freundin Mathilde Wurm, die 1933 für die SPD gegen das Ermächtigungsgesetz stimmte, von den Nazis in Londoner Exil getrieben wurde und dort wahrscheinlich Selbstmord beging.

Vielleicht könnte „Welt Geschichte“ statt sich mit imaginierten Terrorregimen zu befassen, den Fokus demnächst auf Netzwerke richten, die in der Weimarer Republik tatsächlich hinter rechten Putschen und Mordanschlägen standen und die sich auch in der Berliner Republik wieder formieren. Einen ersten Anlass dazu, den Sturm des Kapitols durch Trump-Anhänger am 6. Januar 2021, hat die Redaktion bislang verstreichen lassen. Am Sitz der US-amerikanischen Demokratie kam unter anderem ein Polizist durch Schläge mit einem Feuerlöscher ums Leben. Es fehlt nicht viel Fantasie, sich vorzustellen, was rechte Milizen der Gegenwart – wie die in Washington präsenten Oath Keepers und Proud Boys[8] – getan hätten, wenn es ihnen gelungen wäre sozialistisch-demokratische Abgeordnete und linke Wortführerinnen wie Ilhan Omar oder Alexandria Ocasio-Cortez festzusetzen.

 


[1] Kellerhoff, Sven Felix: Sie wollte den Bürgerkrieg in Deutschland – um jeden Preis, in: welt.de am 05.01.2021, [zuletzt abgerufen am 19.04.2021]. Wenn nicht anders gekennzeichnet oder verlinkt stammen die folgenden Zitate aus diesem Text.

[2] Büttner, Ursula: Weimar: Die überforderte Republik 1918-1933. Leistung und Versagen in Staat, Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur, Stuttgart 2008.

[3] Kellerhoff, Sven Felix: Verkannte dieser Erde, in: welt.de am 10.01.2009, [zuletzt abgerufen am 19.04.2020].

[4] Ebd.

[5] Die hier und im Folgenden verlinkten Texte Luxemburgs und Eduard Bernsteins stammen aus dem Marxist Internet Archive, marxists.org [zuletzt abgerufen am 21.04.2021].

[6] Kellerhoff, Sven Felix: Millionen Tote. Eine Auferstehung, in: welt.de am 21.10.2017, [zuletzt abgerufen am 19.04.2020].

[7] Vgl. Sabrow, Martin: Verhasst – verehrt – vergessen: Die Novemberrevolution in der deutschen Gedächtnisgeschichte, in Braune, Andreas; Dreyer, Michael: Zusammenbruch, Aufbruch, Abbruch? Die Novemberrevolution als Ereignis und Erinnerungsort, Stuttgart 2019, S. 309–324, S. 316.

[8] Weiner, Rachel; Hsu, Spencer S, Jackman, Tom: Prosecutors allege „alliance" between Proud Boys and Oath Keepers on Jan. 6, in: wapo.com am 24.03.2021.