von Autor:innenkollektiv

  |  

19. Juni 2021

Die Wehrmacht stellte ein zentrales Element des nationalsozialistischen Besatzungsregimes in der besetzten Sowjetunion dar. Ihre militärische Herrschaft war unverzichtbar für die Durchführung zentraler deutscher Verbrechen. Allein auf dem heutigen Gebiet der Republik Belarus bedeutete die Besatzung für etwa zwei Millionen Menschen den gewaltsamen Tod. Dabei waren auch Angehörige der Wehrmacht an zahlreichen Massentötungsverbrechen aktiv beteiligt. In vielen Fällen, wie etwa bei der Ermordung der psychisch Kranken in Minsk, ging die Initiative zu Verbrechen sogar von der Wehrmacht aus. Nur wenige Wehrmachtsangehörige nutzten ihre Handlungsspielräume und entzogen sich der Verbrechen. Deshalb hat die Öffentlichkeit Anspruch auf freien Zugang zu den Informationen über die Mitglieder der Wehrmacht in Form der Öffnung der Bestände des Bundesarchivs. Auf belarusischer Seite könnte eine Öffnung und Digitalisierung zentraler Materialien zum Zweiten Weltkrieg, die bislang in Archiven des KGB und des Militärs unter Verschluss sind, neue Impulse für die gemeinsame Erforschung der infolge der deutschen Okkupation der westlichen Sowjetunion begangenen Verbrechen geben.

 

Deutsche Verbrechen in Belarus

Als Historiker:innen, die zur Geschichte des 20. Jahrhunderts im östlichen Europa forschen, lenken wir im Vorfeld des 80. Jahrestags des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion die Aufmerksamkeit auf Belarus als historischen Raum zwischen Polen und Russland.

Nach dem schnellen Vorrücken der Wehrmacht im Sommer 1941 begannen SS, Polizei- und Wehrmachtseinheiten auf dem Gebiet der Sowjetunion und damit auch in der Belarusischen Sozialistischen Sowjetrepublik (BSSR) mit der Durchführung der größten Verbrechen, die in den borderlands, zu denen Belarus historisch gehörte, je geplant und begangen wurden.

Nach neuesten wissenschaftlichen Schätzungen starben infolge des deutschen Angriffs 1,7 bis 2,1 Millionen Menschen, die sich entweder auf dem Gebiet der heutigen Republik Belarus befanden, oder von dort aus in die Rote Armee eingezogen wurden. Das entspricht etwa zwanzig Prozent der Bevölkerung am Vorabend des Krieges und ist damit eine der höchsten Todesraten des Weltkriegs.

 

Die ersten Opfer

Parallel zum Holocaust begann in der besetzten Sowjetunion ein weiterer Massenmord, der in Deutschland weit weniger bekannt ist: der gezielt herbeigeführte Tod von Millionen Kriegsgefangenen, die in offenen Lagern an Hunger und Typhus sowie infolge willkürlicher Gewalt starben. Auf dem heutigen Gebiet der Republik Belarus ermordeten die deutschen Besatzer 700.000 bis 800.000 sowjetische Kriegsgefangene. In der gesamten besetzten Sowjetunion verstarben 3,1 Millionen Soldat:innen der Roten Armee in deutscher Kriegsgefangenschaft – die meisten von ihnen wurden systematisch zu Tode gehungert.

 

Rassismus und Gewalt

Unter deutscher Militärherrschaft wurde in den folgenden drei Jahren in der westlichen Sowjetunion ein koloniales Regime zur Ausbeutung der Bevölkerung errichtet, das aufgrund der nationalsozialistischen Ideologie den Tod großer Teile der verbliebenen Zivilbevölkerung in Kauf genommen oder systematisch herbeigeführt hat.

Der rassistische Kern dieser Ideologie verortete die slawischen Einwohner:innen der BSSR – egal ob römisch-katholischen oder russisch-orthodoxen Bekenntnisses – als „Untermenschen“ auf einer niedrigeren Stufe als etwa sogenannte volksdeutsche Umsiedler:innen oder Reichsdeutsche.
Daraus resultierte ein Besatzungsregime, in dem auch jene Menschen, die nach dem Mord an den Juden und Jüdinnen und den sowjetischen Kriegsgefangenen in diesem Gebiet verblieben waren, rechtlos der Willkür von SS, Polizei, Wehrmacht und deutscher Zivilverwaltung ausgeliefert waren. Fast jede Familie in Belarus war von den Deportationen zur Zwangsarbeit im Inneren des Deutschen Reichs oder in anderen deutsch-besetzten Regionen betroffen.

Ab Sommer 1942 richtete sich die Gewalt zunehmend gegen Belarus:innen, Pol:innen, Russ:innen und Ukrainer:innen in den besetzten sowjetischen Gebieten. Als Kollektivstrafen für geringste Widerstandsakte ermordeten die Besatzer tausende Einheimische. Besonders im Zuge der sogenannten Partisan:innenbekämpfung vernichteten deutsche Polizei- und Wehrmachtseinheiten mit einheimischen Schutzmannschaften ab 1942 zunehmend ganze Dörfer und Landstriche. Sie brannten die Häuser nieder, töteten die Einwohner:innen und zerstörten Felder und Wälder. Nach Schätzungen fielen diesen Aktionen über 300.000 nichtjüdische Zivilist:innen zum Opfer.

Die Dynamik des Vernichtungskriegs entfesselte im Westen der besetzten Sowjetunion auch Kämpfe zwischen Partisan:innen und lokalen kollaborierenden Polizeieinheiten, denen viele Einwohner:innen dieses Gebiets zum Opfer fielen. Tausende Exekutionsstätten, Gräber sowie Ruinen- und Aschefelder prägten als sichtbare und unsichtbare Schreckensorte den Neubeginn der Überlebenden nach der Befreiung der BSSR im Jahre 1944.

 

Warum wissen Deutsche so wenig darüber?

Die deutsche Öffentlichkeit weiß bis heute wenig über das Ausmaß dieser Massenverbrechen und ihre Folgen. Grund dafür ist das Schweigen der meisten Wehrmachtsangehörigen über ihre Erfahrungen und Beobachtungen. Verblieben ist bei Angehörigen nachfolgender Generationen oft Scham über das Unwissen und die fehlende Aufarbeitung im eigenen familiären Rahmen.

Das zerstörte Zentrum von Minsk. Im Hintergrund die historische Altstadt, Sammlung Felix Ackermann, CC BY-NC 2.0.

Trotz einer Reihe von Forschungsarbeiten und einzelner Initiativen zur Erinnerung an den Holocaust, den Mord an den sowjetischen Kriegsgefangenen und die Verschleppung von Zwangsarbeiter:innen, hat sich die deutsche Gesellschaft als Ganzes kein genaues Bild von den Vernichtungen im östlichen Polen und der westlichen Sowjetunion gemacht.

Dabei bedingen sich die (fehlende) familiäre Auseinandersetzung mit der Einsatzwirklichkeit von Millionen von Wehrmachtsoldaten an der Ostfront und eine (weitgehend ausbleibende) gesamtgesellschaftliche Bewusstwerdung der Topographie der Vernichtung. Der Kalte Krieg und die aus ihm resultierenden Kommunikationsbarrieren, neue Feindbilder, die insbesondere das westdeutsche Verhältnis zur Sowjetunion bestimmten, aber auch ein vermeintlich antifaschistischer Grundkonsens zwischen ostdeutscher und sowjetischer Gesellschaft verhinderten eine offene Auseinandersetzung mit der Geschichte und den Folgen des deutschen Besatzungsterrors in der heutigen Belarus.

Zu den historischen Gründen, die eine Vermittlung der komplexen Bedeutung des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion für die Republik Belarus 2021 erschweren, gehören die Folgen des Molotow-Ribbentrop-Abkommens zwischen dem Deutschen Reich und der Sowjetunion. Nachdem das Deutsche Reich mit dem Überfall auf Polen am 1. September 1939 den Zweiten Weltkrieg ausgelöst hatte, bildete dieser Vertrag die Grundlage für die Aufteilung des polnischen Staatsgebietes. Die östlichen Gebiete der Republik Polen wurden sowjetisch besetzt und annektiert. Für dieses Territorium führt nicht nur das Insistieren auf einen Kriegsbeginn im Jahr 1941 in die Irre, denn dort war der Angriff auf die Sowjetunion ein Angriff auf bis zum September 1939 zu Polen gehörende Städte und Dörfer.

Zudem waren die dort verfolgten Lehrer:innen, Geistlichen und Soldaten bis 1939 polnische Staatsbürger:innen und verstanden sich vielerorts auch 1941 noch als Pol:innen. Sie erlebten zunächst die Einübung des Vernichtungskrieges mit dem Angriff auf Polen 1939 und dann die Radikalisierung im Zuge des Überfalls auf die Sowjetunion im Juni 1941 aus einer spezifischen Situation heraus. Ihre Perspektive fand jedoch nach dem Ende des Krieges wenig Beachtung, als die meisten der 1939 annektierten Gebiete Teil der BSSR und damit der Sowjetunion blieben.

Für die deutschen Besatzer waren diese Nuancen nicht relevant. Sie betrachteten die historische Landschaft Belarus sowie ihre belarusisch- und russischsprachige Bevölkerungsmehrheit als Teil Russlands, weil sie sich als Teilnehmer des „Russlandfeldzugs“ verstanden. Für sie und die Autoren nationalsozialistischer Propaganda waren Sowjetunion und Russland Synonyme, die eng verbunden waren mit der antisemitischen Denkfigur des „jüdischen Bolschewismus“.

 

Digitalisiert die militärischen Personalakten!

Zusätzlich zur Komplexität des historischen Geschehens erschweren praktische Gründe die Erforschung und Vermittlung der deutschen Verbrechen in Belarus. Sowohl interessierte Nachfahr:innen von Wehrmachtsangehörigen als auch Historiker:innen sind mit beträchtlichen Herausforderungen konfrontiert.

Für jeden Ort und für jedes Verbrechen muss das Bild der Vergangenheit mühsam zusammengesetzt werden, was aufgrund nach wie vor existierender Restriktionen für die Nutzung archivalischer Quellen bzw. der Nicht-Existenz einer Überlieferung, beispielsweise im Fall von Mordaktionen, häufig unmöglich ist.

Wir rufen daher sowohl staatliche, regionale und lokale Institutionen als auch Familienangehörige möglicher deutscher Täter:innen und Augenzeug:innen dazu auf, alle verfügbaren Quellen zugänglich zu machen. Viele Familien sind im Besitz von Fotoalben deutscher Soldaten, die wertvolle Anhaltspunkte liefern und als Ausgangspunkt für weitere Forschungen dienen können. Sie können zum Beispiel mit wissenschaftlichen Erkenntnissen zur Geschichte des Zweiten Weltkriegs abgeglichen werden. Um diese Arbeit zu erleichtern und neue Forschungen beispielsweise mithilfe der Methoden der Digital Humanities zu ermöglichen, sind neue Kooperationsformen, aber auch das Handeln staatlicher Stellen nötig.

Wir fordern die systematische Digitalisierung von Akten in Deutschland und Belarus, um die Zusammenführung unterschiedlicher Wissensbestände zu ermöglichen. Für die private und öffentliche Auseinandersetzung mit deutschen Verbrechen sollte das Bundesarchiv zentrale Bestände zur Besatzung der westlichen Sowjetunion digitalisieren und der Forschung frei zur Verfügung stellen.

Die Digitalisierung der Kennkarten von Wehrmachtssoldaten würde nicht nur die Beschäftigung mit den verantwortlichen Akteuren an den jeweiligen Orten des Geschehens in den von Deutschland besetzten Ländern erleichtern erleichtern – heute muss ihre Einsicht mühsam von den Nachfahr:innen beantragt werden. Ergänzt durch die digitale Vernetzung mit anderen Wissensbeständen würde die konsequente Freigabe der von der Wehrmachtauskunftstelle verwendeten Archivalien erlauben, die Einsatzorte und -zeiträume einzelner Personen mit den in einem bestimmten Gebiet begangenen Verbrechen in ein räumliches Verhältnis zu setzen.

Wehrmachtsangehörige im Zentrum von Minsk, im Hintergrund das Opern- und Ballettheater der BSSR, Sammlung Felix Ackermann, CC BY-NC 2.0.

Wir sind davon überzeugt, dass eine systematische digitale Zusammenführung existierender Archivbestände und daraus resultierende Veröffentlichungen oder Ausstellungen einzelnen Familien und der deutschen Gesellschaft besser bewusst machen können, dass die militärische Besatzung eine zentrale Voraussetzung für die folgenden Massenverbrechen an Zivilist:innen und sowjetischen Kriegsgefangenen war.

 

Sorge über staatliche Geschichtspolitik

Als Historiker:innen verfolgen wir heute mit großer Sorge, wie die Geschichte des Zweiten Weltkriegs in Belarus von den dortigen staatlichen Stellen als politische Munition zur Diskreditierung der Demokratiebewegung verwendet wird. Wir halten es auch für problematisch, dass in der größten Staatskrise seit Gründung der Republik Belarus sowohl die Regierung als auch die Opposition von einem Genozid am belarusischen Volk sprechen, um so den jeweiligen politischen Gegner mit dem Nationalsozialismus in Verbindung zu bringen.

Wir sind überzeugt, dass die weitere gemeinsame private Auseinandersetzung mit Familiengeschichte(n) sowie die vertiefte öffentliche Erforschung der Geschichte des Zweiten Weltkriegs zentrale Quellen für ein besseres historisches Verständnis und eine Verständigung zwischen unseren Gesellschaften sind. Uns interessieren die Lebenswege von Hunderttausenden Zwangsarbeiter:innen, die ins Deutsche Reich und das besetzte Europa verschleppt und oft danach in ihrer Heimat diskriminiert wurden, ebenso wie die Evakuierung derjenigen, die sich vor Ort an deutschen Verbrechen beteiligt haben. Und wir halten es für eine Aufgabe der deutschen Gesellschaft, zu diskutieren, wie wir im 21. Jahrhundert gemeinsam mit der belarusischen Gesellschaft an die auf dem Territorium der BSSR begangenen Verbrechen und Zerstörungen erinnern können.

Wir haben als Historiker:innen und Kulturwissenschaftler:innen in unterschiedlichen Kontexten zur deutschen Besatzung der Polnischen Republik sowie der Sowjetunion und dem Nachwirken der dabei verübten Gewalt geforscht. Im Vorfeld des 80. Jahrestages des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion haben wir gemeinsam diskutiert, wie sich die auf dem Territorium der heutigen Republik Belarus begangenen Verbrechen zusammenfassen lassen und was 2021 zu ihrer weiteren Erforschung beigetragen werden kann. Wir reflektieren im gemeinsamen Aufruf die schwierige erinnerungspolitische Konfiguration in der Gegenwart und unterbreiten konkrete Vorschläge, was von deutscher Seite dazu beigetragen werden kann, damit ein genaueres Bild der von Deutschland in der Belarus begangenen Verbrechen entsteht: vonseiten der Bundesrepublik, von Wissenschaftler:innen und jeder einzelnen Familie, deren Vorfahren als Wehrmachtsangehörige am Vernichtungskrieg beteiligt waren. Über den Grad der Zugänglichkeit von Personalakten der Wehrmacht besteht unter uns kein Konsens. Wir sehen diese Frage als Teil einer gesellschaftlichen Diskussion, die noch aussteht.

 

Felix Ackermann
Deutsches Historisches Institut Warschau

Franziska Exeler
Freie Universität Berlin und Universität Cambridge

Janine Fubel
Humboldt-Universität zu Berlin

Christian Ganzer
freier Historiker

Frank Golczewski
Universität Hamburg

Christhardt Henschel
Deutsches Historisches Institut Warschau

Anke Hilbrenner
Universität Göttingen

Alexandra Klei
Institut für die Geschichte der deutschen Juden, Hamburg

Simon Lewis
Universität Bremen

Diana Siebert
Justus-Liebig-Universität Gießen

Alexa Stiller
ETH Zürich

Katrin Stoll
Imre-Kertész-Kolleg, Jena

Anika Walke
Washington University in St. Louis (USA)

Annika Wienert
Max Weber Stiftung, Bonn / Fritz Bauer Institut, Frankfurt a. M.

Frédéric Bonnesoeur
Zentrum für Antisemitismusforschung, Berlin

 

Die historischen Aufnahmen in diesem Text stammen aus Fotoalben von Wehrmachtsangehörigen, die im Internet anonym verkauft wurden. Sie können mit Angabe auf die Quelle unter der Creative Commons Lizenz 2.0 für nichtkommerzielle Zwecke genutzt werden. Auf dem Titelbild sind sowjetische Kriegsgefangene in einem offenen Lager auf dem Territorium der besetzten Sowjetunion zu sehen.