Am 17. Oktober 1961 ereignete sich in Paris „der blutigste Akt staatlicher Repression gegenüber Straßenprotesten in der westeuropäischen Zeitgeschichte“.[1] Was als friedliche Demonstration von 20-30.000 Algerier:innen begonnen hatte, mündete in ein Polizeimassaker, in dessen Verlauf eine ungewisse Zahl von Menschen ihr Leben verloren. Die Zahl der Todesopfer auf algerischer Seite in dieser Nacht ist schwer zu beziffern, ohnehin lagen den Angaben, von welcher Seite auch immer, seit dem Geschehen selbst eminent politische Kalkulationen zugrunde. Mehrere Dutzend Tote waren es ganz sicher, die plausibelste Annahme geht von 120 aus; [2] hinzu kamen unzählige Verletzte, teils mit schweren Kopfverletzungen, die sie durch den Einsatz von Schlagstöcken oder durch Schläge mit Gewehrkolben erlitten hatten, teils mit inneren Blutungen als Folge von Fußtritten und anderen Verwundungen. Ihre Zahl ist noch schwerer zu konkretisieren, da sich die Verletzten auf mehrere Krankenhäuser verteilten und nicht überall bei der Notaufnahme gezählt wurde, und da etliche von ihnen gar nicht erst in eine Klinik kamen, da sie dort weitere Repressalien (bis hin zur Abschiebung nach Algerien in ein Internierungslager) befürchteten.
Es mutet erstaunlich an, dass gut 30 Jahre vergehen mussten, ehe eine erste gründliche Untersuchung dieser Ereignisse publiziert wurde. 1991 veröffentlichte Jean-Luc Einaudi seine Studie La Bataille de Paris, die zwar nicht auf offiziellen Dokumenten beruhte, weil er – wie alle anderen auch – keinen Archivzugang erhalten hatte; aber er konnte aus Dokumenten der FLN und vielen Gesprächen mit Zeitzeugen doch große Teile des Geschehens rekonstruieren.[3] Die von ihm geschätzte Zahl der Todesopfer, 200, galt lange Zeit als verbindliche Angabe. Auf größeres öffentliches Interesse stießen die Ereignisse von 1961 jedoch erst im Kontext des Prozesses gegen Maurice Papon, der sich von Oktober 1997 bis April 1998 wegen seiner Tätigkeit als hoher Beamter im Zweiten Weltkrieg vor Gericht verantworten musste. In Bordeaux verantwortlich für die Deportation der Juden, war er nun wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt. Dass bei dieser Gelegenheit auch sein Wirken als Polizeipräfekt von Paris zur Sprache kam, als der er für die Ereignisse von 1961 verantwortlich war, trug zur Steigerung des öffentlichen Interesses und – glücklich für die Historiker:innen – zur allmählichen Öffnung der Archive bei. Mittlerweile liegt eine Reihe substanzieller Studien der Ereignisse vor.[4]
Das lange Beschweigen der Ereignisse von 1961 muss uns hier nicht weiter beschäftigen; die Gründe hierfür liegen in inneralgerischen Machtkämpfen und dem französischen Interesse an einer Konsolidierung der V. Republik, die erst drei Jahre zuvor etabliert worden war. Interessanter ist das Verhältnis jener algerischen und französischen Akteure, die für diesen Abend des 17. Oktober die Regeln des Spiels weithin bestimmten, d.h. der algerischen Demonstrierenden, vor allem aber der FLN (Front de libération nationale, der wichtigsten Organisation der algerischen Unabhängigkeitsbewegung), und der französischen Sicherheitskräfte. Im Mittelpunkt dieses Beitrags steht die Frage nach dem Handeln französischer Akteure, die ich aus der Perspektive von „Versicherheitlichung“ diskutiere.
Ich werde zunächst den historischen Kontext der Ereignisse von 1961 erläutern; dann das Konzept der Versicherheitlichung (oder besser: der insecuritization) erläutern und seinen analytischen Wert für meinen Gegenstand diskutieren. Im dritten, kurzen und abschließenden Teil will ich einige Thesen zum Zusammenhang von (In)Securitization und politischer Ordnung formulieren.
Der Algerienkrieg in der Metropole
Das Massaker vom 17. Oktober 1961 war Teil eines umfassenden Geschehens, das weit über die französische Metropole hinausreichte. Eingebettet sind die Ereignisse dieser Nacht in den Krieg, den die Kolonialmacht Frankreich zwischen 1954 und 1962 gegen die algerische Unabhängigkeitsbewegung führte. Als „Krieg“ bezeichnete die offizielle französische Politik dies erst seit 1999, bis dahin war offiziell euphemistisch von „Ereignissen in Algerien“ die Rede. Der Algerienkrieg ist einer der längsten und gewaltvollsten Dekolonisierungskonflikte, den westeuropäische Kolonialmächte nach dem Zweiten Weltkrieg austrugen. Das hat zum einen damit zu tun, dass Algerien eine Siedlerkolonie war, es im Land also etablierte europäische Interessen gab, die nicht einfach aufgegeben werden konnten. Zum anderen – und das wiegt schwerer – war Algerien, 1830 von französischen Truppen in Teilen erobert und seit 1870 ganz offiziell ein Teil Frankreichs, das zentrale Element eines imperialen Raumes, in dem die administrativen und politischen, wirtschaftlichen und sozialen, kulturellen und affektiven Bindungen auch im Vergleich mit anderen westeuropäischen Imperien, exzeptionell stark waren. „L’Algérie, c’est la France“ lautete das Leitmotiv der französischen Politik seit dem späten 19. Jahrhundert, und dieses Motto wurde umso lauter vorgetragen, seit am 1. November 1954 algerische Aktivisten diese Bindung vollends radikal in Frage zu stellen begonnen hatten. Hatte es schon zuvor, seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, wiederholt gewalttätige Auseinandersetzungen gegeben, so setzte Frankreich nun den Terror- und Guerilla-Aktionen der FLN und anderer Gruppen in Algerien mit aller Entschlossenheit die Instrumentarien der Counter-Insurgency entgegen, wie es sie schon bei anderen Kolonialkonflikten, namentlich kurz zuvor in Indochina, eingeübt hatte. Das Repertoire reichte von Zwangsumsiedlungen ganzer Ortschaften, was der FLN die Rückzugsbasis entziehen sollte, bis hin zum Einsatz von Folter.[5]
Weil die Pariser Politik zu zögerlich erschien und weil sie womöglich dem Gedanken an eine Unabhängigkeit Algeriens nähertrat, mobilisierten die Siedler in Algerien Widerstand. Die französischen Generäle in Algier drohten im Mai 1958 offen mit einem Militärputsch. Dazu kam es nicht, doch brachten sie mit ihrer Forderung nach einer Rückkehr General Charles de Gaulles an die Macht die IV. Republik zu Fall. Ende 1958 wurde de Gaulle zum Präsidenten der neuen V. Republik gewählt, deren Verfassung ganz auf ihn und die Krisensituation zugeschnitten wurde.
Doch statt sich zu entspannen, verschärfte sich die Situation weiter, als die algerischen Protagonisten des Konflikts 1958 begannen, die Gewalt in die Metropole selbst zu tragen. Paris galt dabei als besonders wichtiger und günstiger Kampfort, zum einen, weil dort das Herz der französischen Politik schlug, sich also symbolische Gewinne erwarten ließen; zum anderen aber auch, weil im Großraum Paris besonders viele Algerier:innen wohnten. Es waren hauptsächlich junge Männer, ungelernte Arbeiter, mit ihren Familien, die dicht zusammengedrängt in Slums am Rande des Zentrums lebten, in sogenannten Bidonvilles wie in Nanterre, zeitgenössisch der größte Slum Europas. Jahrelang tobten erbitterte Kämpfe zwischen der FLN und dem MNA (Mouvement national algérien) in Frankreich, denen fast 4.000 Menschen zum Opfer fielen.[6] Nachdem sich die FLN blutig durchgesetzt hatte, übte sie über diese migrantische Community so gut wie vollständige Kontrolle aus, erzwang Abgaben für die Finanzierung des Kampfes, disziplinierte sie, mobilisierte sie nach eigenem Gutdünken.
Um der wachsenden Zahl von Anschlägen durch die FLN zu begegnen, verschärfte sich das Sicherheitsregime in der französischen Hauptstadt beträchtlich. Darauf wird im zweiten Teil zurückzukommen sein. Nachdem im August und September 1961 einige Anschläge auf Polizeistationen und Mordanschläge auf einzelne Polizisten verübt worden waren, verhängte Polizeipräsident Maurice Papon am 5. Oktober eine Ausgangssperre. Es war allen Personen algerischer Herkunft – und nur ihnen – untersagt, ihre Unterkünfte zwischen 20:30 Uhr und 5:30 Uhr zu verlassen, algerisch geführte Geschäfte und Restaurants hatten bereits um 19 Uhr zu schließen. Damit wurden die Algerier:innen nach ihrer räumlichen Segregation auch zeitlich von der Pariser Gesellschaft ausgeschlossen.[7] Die FLN erkannte darin das Potential, die algerische Community zu mobilisieren, und plante eine Serie von Aktionen: Beginnend mit einer Großdemonstration am 17. Oktober, sollten tags darauf alle algerischen Geschäfte geschlossen bleiben, für den 20. Oktober war eine Demonstration allein von Frauen und Kindern geplant. Alle drei fanden auch statt, wenngleich das Ereignis am 17. Oktober das wichtigste war und die folgenden überschattete. Bis ins kleinste Detail hatte die FLN geplant: Die Algerier waren angehalten, sich möglichst ordentlich zu kleiden, sich ruhig und würdevoll zu verhalten, die Mitführung von Waffen aller Art war untersagt und wurde von den Ordnern der FLN auch streng kontrolliert. Sternförmig aus drei Richtungen sollten die Demonstrant:innen das Zentrum der Stadt erreichen[8] – wo die Polizei bereits auf sie wartete, auf ihren Einsatz gut vorbereitet.
Die FLN war freilich nicht die einzige Partei, die den Terror des Algerienkriegs in die Metropole trug. Seit im Januar 1961 die Franzosen in einem Referendum mit großer Mehrheit der Selbstbestimmung Algeriens zugestimmt hatten, verschärften die Protagonisten der „Algérie française“ ihren Kurs nochmals erheblich. Aus den Reihen des Militärs gründete sich die OAS (Organisation de l’Armée secrète), die die Unabhängigkeit Algeriens um jeden Preis verhindern wollte.[9] Im April 1961 versuchten die Generäle der OAS erfolglos einen erneuten Putschversuch. Blutige Terroraktionen erst in Algerien, bald auch in Frankreich selbst wurden intensiviert. Bei einem Anschlag auf den Schnellzug Straßburg-Paris im Juni 1961 kamen fast 30 Menschen ums Leben, Präsident de Gaulle entging im September auf dem Weg zu seinem Landsitz nur knapp einem Attentat. Die Französische Republik befand sich in einer Phase extremer Unsicherheit, die sich nach den Verträgen von Evian im März 1962 nur sehr langsam auflöste.
Französische Strategien der (Un-)Sicherheit
Die Pariser Sicherheitsbehörden markierten die algerische Migrantencommunity in der Stadt als eine Bedrohung für die Sicherheit der französischen Gesellschaft; als eine politisch-militärische Bedrohung, weil in den dichten und übervölkerten Bidonvilles FLN-Attentäter:innen jederzeit Unterschlupf und Sicherheit vor dem Zugriff der Polizei finden könnten und weil die Algerier:innen obendrein große finanzielle Unterstützung für den bewaffneten Kampf leisteten; als soziale Bedrohung, wurde doch befürchtet, unter den hygienischen Bedingungen der Bidonvilles verbreiteten sich Krankheiten und von der Armut dort gehe Gefahr für das Eigentum hart arbeitender Franzosen aus; als eine demographische Bedrohung angesichts der Größen algerischer Familien; und als, vor allem, eine kulturelle Bedrohung, wie sie für eine laizistische Gesellschaft von der Zugehörigkeit der Algerier:innen zum Islam ausgehe. Tief verwurzelter Rassismus gegen Menschen arabischer Herkunft tat das Übrige, um in den Algerier:innen die grundsätzlich Anderen, Fremden, zu sehen – mochten sie nun französische Staatsangehörige sein oder nicht.
Diese Mechanismen des Othering sind in der Tat nicht zu übersehen, blickt man auf die Lageanalysen der Pariser Sicherheitsakteure. Allerdings muss man die konkrete Situation des kolonialen Konflikts mit in Rechnung stellen, um zu verstehen, welche Versicherheitlichungsstrategie sich im Oktober 1961 durchsetzen konnte; Othering allein hätte auch italien- oder türkeistämmige Menschen, um nur Beispiele zu nennen, zu Objekten der Securitization gemacht. Wirklich reizvoll für die historische Analyse ist an der Konstellation in Paris, Anfang der 1960er Jahre, im ausgehenden Algerienkrieg, vor allem dies: die Präsenz formal französischer Staatsangehöriger, die kulturell als Andere markiert werden, und deren potentielle oder mögliche Allianz mit der als Feind identifizierten FLN; der Fakt, dass die algerischen Franzosen und Französinnen im Herzen der Metropole Rechte für sich reklamierten, die Franzosen und Französinnen zustanden; und der Umstand, dass sich das offizielle Frankreich der IV. und der V. Republik auf die Résistance gegen die nationalsozialistischen deutschen Besatzer 1940-1944 berief und den eigenen Staat dadurch zu legitimieren suchte.
Das Interesse, Kontrolle über die algerische Community in Frankreich zu erringen und/oder zu behalten, brachte die staatlichen Akteure tatsächlich in ein veritables Dilemma: Zwar konnte, um die Fiktion der Algérie française und einer transmediterranen Zusammengehörigkeit aufrechtzuerhalten, die französische Staatsangehörigkeit und die 1947 verbriefte Freiheit der Bewegung im imperialen Raum zwischen Frankreich und Algerien nicht aufgegeben werden. Doch zog dies verschärfte Kontrollmechanismen im Kontext des Krieges in Algerien nach sich. Die Grenzen des Denkbaren und des Machbaren wurden dabei von der Erinnerung an die bzw. die Konstruktion des Erbes der Résistance mitbestimmt.
Zunächst setzte sich, was im kolonialen Raum als paternalistische Doppelstrategie der Fürsorge und Disziplinierung begonnen hatte, in der Metropole fort. Dem 1958 etablierten Service d’assistance technique aux Français musulmans d’Algérie (SAT-FMA) oblag es entsprechend nicht nur, die Algerier:innen in Fragen von Wohnen, Arbeit und Gesundheit zu beraten und zu unterstützen, sondern zugleich wurden alle in diesem Zusammenhang erhobenen Daten zu einer immer präziseren Kartierung der Wohnviertel genutzt.[10] Ähnlich war die Section administrative spécialisée (SAS) bereits in Algerien vorgegangen. Michel Massenet, der im Januar 1959 das Amt des Beauftragten für die sozialen Belange der muslimischen Algerier in der Metropole übernahm (Délégué à l’action sociale pour les Français musulmans algériens en Métropole) missfiel es außerordentlich, dass polizeiliche und sozialpolitische Versicherheitlichungsstrategien so umstandslos vermischt wurden. Seine Bemühungen, in der Regierung Unterstützung zu finden, schlugen indes allesamt fehl; gegen die Macht der Offiziere, die das Sagen hatten, blieb er ineffektiv.[11]
Maurice Papon setzte darauf, Sicherheit durch Verbreitung von Unsicherheit zu schaffen. Versicherheitlichung in diesem Sinne muss daher als insecuritization gefasst werden.[12] Überhaupt war Papon selbst als Pariser Polizeipräfekt der Gewinner einer Situation dramatischer Unsicherheit, die ihn in sein Amt brachte. Am 13. März 1958 geriet die Regierung Félix Gaillards unter großen Druck angesichts einer Demonstration von gut 2.000 Polizeibeamten, die zunächst die Bezahlung einer Gefahrenzulage forderten, binnen kurzem aber radikalere Töne anschlugen und schließlich den Palais Bourbon, den Sitz der Nationalversammlung, stürmten. Der Pariser Polizeipräfekt wurde in der Folge entlassen und Maurice Papon zu seinem Nachfolger ernannt. Zwei Tage nach den dramatischen Ereignissen traf er, aus dem algerischen Constantine kommend, in Paris ein, fest entschlossen, den französischen Sicherheitsapparat und namentlich die Polizeikräfte der Hauptstadt zu reorganisieren.
Maurice Papon erschien den politisch Verantwortlichen als der richtige Mann für die Aufgabe. Das wiederum wirft ein Licht auf Kontinuitäten französischer Gouvernementalität vom Faschismus über den Kolonialismus bis in die V. Republik. Die Anfänge von Papons Karriere reichten in das kollaborationistische Vichy-Regime des Zweiten Weltkriegs zurück, wofür er sich 1997/98 vor Gericht zu verantworten hatte.[13] Nach dem Krieg sammelte er Erfahrungen in den Kolonien: erst als Präfekt im algerischen Constantine, dann, nach einem kurzen Zwischenspiel bei der Pariser Polizei, als Generalsekretär des Gouverneurs in Marokko, ab 1956 schließlich als Präfekt mit besonderen Vollmachten erneut in Constantine.
Tief geprägt von seinen kolonialen Erfahrungen, machte er sich in Paris 1958 an die Arbeit. Da er in der algerischen Community nur eine ungebildete, naive und leicht zu beeinflussende, grundsätzlich aber pro-französisch gestimmte Masse sah, die unter den Einfluss der kleinen, aber effektiv arbeitenden FLN geraten war, musste es nach seiner Einschätzung darum gehen, die FLN unschädlich zu machen.[14] Dazu war es notwendig, die algerische Community zu durchdringen. Neben dem SAT wurde nun, im August 1958, auch die SCAA etabliert (Service de coordination des affaires algériennes), eine spezielle Polizeieinheit, die sich ausschließlich mit den algerischen Problemen befasste. Sie konnte auf die Unterstützung regulärer Polizeitruppen jederzeit zurückgreifen, verließ sich bald aber auf die unter ihrem eigenen Dach angesiedelten Kräfte, insbesondere die Force de police auxiliaire (die sogenannten Harkis) sowie auf weitere Sondereinheiten. In diesen Einheiten versammelten sich Erfahrungen extremer Gewalt aus Indochina und Korea, während die Harkis in Algerien Brutalität erlernt hatten. Auf den mittleren Leitungsebenen der SCAA wiederum fanden Kollaborationisten aus der Vichy-Zeit, die 1944/45 die Polizei hatten verlassen müssen, neue Verwendung.[15]
Die Strategie der insecuritization richtete sich zuerst gegen die algerische Community. Sie musste regelmäßig unangekündigte Durchsuchungen ihrer Wohnsiedlungen, Hütten und Häuser hinnehmen, lange Befragungen erdulden, teils willkürliche Verhaftungen. Jederzeit hatte ein Algerier, der sich etwa auf dem Weg zu seiner Arbeit oder von dort nach Hause befand, damit zu rechnen, von der regulären Polizei oder Spezialkräften angehalten und nach seinen Papieren befragt zu werden, und es hing vom Zufall ab, ob er zusammengeschlagen, verhaftet und tagelang festgehalten wurde oder unverletzt nach Hause oder zur Arbeit gelangte.[16] Da Algerier:innen sehr schnell ihren Arbeitsplatz verloren, wenn sie nicht zur Arbeit erschienen, bedeutete die Polizeiwillkür immer auch große soziale Unsicherheit für ganze Familien.
Die FLN tat wenig, um in dieser Situation Abhilfe zu schaffen. Im Gegenteil instrumentalisierte sie die Algerier:innen in Frankreich für den eigenen Kampf, auch gegen ihre Opponenten in der algerischen Unabhängigkeitsbewegung selbst, v.a. gegen das MNA. Dies galt selbst und gerade für die Phase nach dem Beginn der Friedensverhandlungen in Evian im Mai 1961. In diesem Sinne wurde die FLN – paradox genug – zum Komplizen der französischen Sicherheitsakteure, die auf insecuritization setzten.
Zu insecuritization als Strategie zählt aber unbedingt auch, dass Papon rechtlichen Rahmungen der Polizeiarbeit nur wenig Bedeutung beimaß. Schon in seiner Zeit als Präfekt in Constantine hatte er wieder und wieder darauf hingewiesen, dass Frankreich sich in einem besonderen Konflikt befinde und sich gegen den „revolutionären Krieg“ zu wehren habe.[17] Dafür reichten rechtliche Bevollmächtigungen, wie sie die Verhängung des Notstands („état d’urgence“) 1955 gebracht hatten, nicht nur nicht aus, sondern sie waren aus seiner Sicht kontraproduktiv. Angemessen waren revolutionäre Methoden, die nicht rechtlich einhegt waren und auch nicht eingehegt werden sollten, sondern dem Notwendigen gerecht wurden, so Papons Sicht. Das in Constantine von ihm etablierte Centre de renseignement et d’action (CRA) stellte den Blueprint für die wenig später in Paris gegründeten SCAA dar. Ihre Kräfte wurden eingesetzt, wo und wie es Papon notwendig erschien; und erste Schritte zur Einrichtung des berüchtigten Folterzentrums von Améziane wurden unter seiner Leitung auch bereits getan. Gerichtsverfahren in Constantine – wie im übrigen Algerien – waren in der Regel bloße Farcen, Papon selbst griff in Verfahren zu Lasten algerischer Angeklagter ein und verschob immer wieder aufs Neue die Grenzen rechtsstaatlichen Handelns.[18]
Als Erfolg in Paris konnte er die Ordonnance vom 7. Oktober 1958 verbuchen, die – nachdem dies in Algerien bereits der Fall war – auch in Frankreich selbst Inhaftierung ohne Gerichtsverfahren ermöglichte. Auf Druck Papons erfolgte auch die Ordonnance vom 3. Juni 1960, die den Abstand zwischen Verhaftung und Gerichtsprozess auf eine Woche verkürzte und zudem reguläre Verfahren vor einem Militärtribunal vorsah.
Mochte der Polizeipräfekt klare Vorstellungen von Sicherheit haben, so produzierte er in der Polizei selbst auch Effekte der insecuritization. Dies trat deutlich zu Tage, als sich die Pariser Polizei einer Welle von Attentaten durch die FLN gegenübersah. Allein in den fünf Wochen vom 29. August bis zum 3. Oktober 1961 attackierten bewaffnete FLN-Kämpfer mehr als 30 Polizisten, 13 davon fielen den Mordanschlägen zum Opfer – mehr als während des gesamten Vorjahres. Unsicherheit und Unruhe verbreiteten sich unter den Polizisten, die Bereitschaft wuchs, nun gegen die FLN und die algerische Community besonders hart durchzugreifen. Das sahen durchaus auch die Funktionäre der Polizeigewerkschaft SGP so, die in Gesprächen mit Papon und Innenminister Roger Frey Anfang Oktober 1961 eine bessere Ausrüstung, eine Ausweitung der Straßenkontrollen von Algeriern sowie eine Verschärfung der Gesetze forderten, um des Terrors gegen die Polizei Herr zu werden. Nur auf diesem Wege, so ihr Argument, ließe sich eine Eskalation der Situation vermeiden, und das müsse das Ziel sein.
Papon allerdings sah die Möglichkeiten zur Bekämpfung der FLN mit rechtlichen Mitteln längst ausgeschöpft. Sein Vorstoß Ende September beim gerade neu ins Amt gekommenen Justizminister Bernard Chenot, der den liberalen Papon-Kritiker Edmond Michelet ersetzt hatte, und von dem Papon nun eine erneute Verschärfung des Strafprozessrechts gefordert hatte, war ins Leere gelaufen. Als der Polizeipräfekt am 2. Oktober 1961 erneut der Trauerfeier für einen ermordeten Polizisten beiwohnen musste, gab er – just nachdem er eine Ehrenmedaille auf dem Sarg platziert hatte – die Parole aus, „für jeden Schlag gegen uns werden wir zehnfach zurückschlagen“. Beim Besuch von Polizeistationen am Nachmittag desselben Tages machte er unmissverständlich klar, dass er bereit war, alle Aktionen seitens von Polizisten zu decken; Sanktionen seien nicht zu erwarten. Damit hatte er der Pariser Polizei einen Blankoscheck ausgestellt.[19]
Längst bestehende Sorgen, das Handeln der Sicherheitsakteure könnte den Rechtsstaat gefährden, wurden dadurch bestätigt. Tatsächlich hatte schon im März 1961 der Justizminister darüber geklagt, der Polizeipräfekt lasse widerrechtlich Telefone abhören; die extreme Gewalt von Papons Harkis, die ein SCAA-Bericht rechtfertigte als zwar illegal, aber legitim, sei „rechtlicher Formalismus doch lächerlich“ gegen die FLN, war schon im April 1961 Gegenstand eines interministeriellen Treffens gewesen.[20]
Die Funktionäre der SGP waren besorgt. Polizeikräfte, die außerhalb von Recht und Gesetz operierten, stellten aus Sicht der Gewerkschafter eine ernste Gefahr für den Rechtsstaat der V. Republik dar. Und tatsächlich positionierten sich einige Polizeioffiziere gegen exzessive Polizeigewalt, öffentlich freilich erst nach dem Blutbad des 17. Oktober. Am 31. Oktober publizierte eine „Groupe de policiers républicains“, deren Mitglieder aber anonym blieben, eine Broschüre, die brutale Übergriffe seitens der Polizei am 17. Oktober schilderte. Rasch wurde vermutet, extremistische Kräfte von links oder rechts steckten hinter dieser Anklage. Klarer zuzurechnen war das Pamphlet „Face à la répression“ aus christlichen Gewerkschaftskreisen, das seinerseits Beweismittel präsentierte. Die SGP brachten beide Publikationen in große Verlegenheit: Ihrem ersten Impuls folgend, wies sie tendenziell Papon die Schuld zu. Der aber nutzte die Verunsicherung vieler an dem Massaker beteiligter Polizisten, sicherte ihnen seine schützende Hand zu, solange, soviel wurde angedeutet, die Gewerkschaft sich ihm gegenüber zurückhielt. An der Oberfläche hielt die Pariser Polizei in diesem Sinne zusammen; in ihrem tiefsten Inneren aber tobte ein Kampf weiter, dessen Wurzeln in die Vichy-Zeit reichten und der nun nur mühsam verdeckt werden konnte.
Die Regierung setzte dem nichts entgegen. Ihr Hauptinteresse galt dem Erfolg der Verhandlungen in Evian, damit dieser die V. Republik so belastende Konflikt endlich beendet werden konnte.[21] Und so konnte sich binnen kurzer Zeit das Beschweigen als Bewältigungsstrategie durchsetzen.
Fazit
Maurice Papon und Charles de Gaulle prägten Formen französischer Gouvernementalität nach 1945, besonders in der V. Republik nach 1958. Papon setzte schon in seinen Jahren in Algerien und Marokko auf sozialwissenschaftliches Wissen, um die jeweilige gegnerische Community zu verstehen und deren „Herzen und Köpfe“ zu gewinnen. Zu dieser Expertise trugen wissenschaftliche Expert:innen ebenso bei wie jene, die dann in den Slums von Paris unterwegs waren, um soziale Daten für vermeintliche Zwecke der sozialen Dienste zu sammeln. An die Macht des Rechts glaubte er nicht, stattdessen vertraute er der Ermächtigung staatlicher Akteure, namentlich der carte blanche für die Polizei und Spezialkräfte.
Mochte Papon der gaullistischen V. Republik damit auch einen Dienst erweisen, so folgte das Staatsoberhaupt selbst, Präsident de Gaulle, doch einem anderen Kurs. Er setzte auf die sukzessive Ausdehnung des état d’urgence. Tatsächlich hatte die gaullistische Variante des Staatsnotstands nur noch wenig Ähnlichkeit mit dem état d’urgence, wie ihn das Gesetz von 1955 vorgesehen hatte. De Gaulle entmachtete das Parlament in Fragen des Staatsnotstands. Und nachdem er am 22. August 1962 erneut sehr knapp einem Mordanschlag entgehen konnte, nutzte er überdies die Gunst der Stunde, auch die plebiszitären Elemente der französischen Verfassung zu stärken, indem er die Direktwahl des Staatspräsidenten durchsetzte. Sie wurde 1965 erstmals durchgeführt. Die Mischung aus präsidialen und plebiszitären Elementen, die das französische – formal eher als semipräsidentiell zu bezeichnende – Regierungssystem der V. Republik bis heute prägen, sind unmittelbare Folge des Algerienkriegs, genauso wie Kontinuitäten im Umgang mit der immigrantischen Community, dem Einsatz des Instruments des Staatsnotstands sowie exzessiver Polizeigewalt in Frankreich.
Eine Analyse der Ereignisse vom Oktober 1961 in Paris zeigt, dass eine Innen- und eine Außenseite des Konflikts nicht unterscheidbar ist. Aus der Verflechtung des Algerienkriegs und der auf Selbstbehauptung bedachten Metropole öffnet sich jener imperial space, den Frederic Cooper und Ann Laura Stoler in einem wegweisenden Beitrag in ihrem Band „Tensions of Empire“ schon vor 25 Jahren perspektivisch entworfen haben. „Metropole“ und „Kolonie“ sollen nicht als getrennte Sphären betrachtet werden, sondern als Teile ein und desselben „imperialen Raumes“, innerhalb dessen darüber verhandelt wurde, wem welche Rechte zugestanden wurden und wem nicht.[22] Die Ereignisse des 17. Oktober 1961 bieten reichlich Anschauung, wie ein solcher imperial space funktioniert.
Das ließe sich aus einer machtpolitischen Perspektive diskutieren. Ich habe den Blickwinkel der (In-)Securitization gewählt, um etwas weiteres zu zeigen: Dass die Verflechtungen nicht eindeutige Effekte hervorbringen, sondern dass Sicherheit und Unsicherheit im imperialen Raum fließend ineinander übergehen, selbst innerhalb ein und derselben Akteursgruppen. So wie die FLN in der algerischen Community eine Strategie der (In)Securitization verfolgte, so setzte Maurice Papon die Pariser Polizei dem aus; so liegen bei Charles de Gaulles Politik mit dem Staatsnotstand beides, Sicherheit und Unsicherheit, fast ununterscheidbar zusammen. Konkrete Erfahrungen bestimmten die Wahrnehmung und das Handeln von Akteur:innen: der koloniale Krieg, die Résistance oder die Judenverfolgung, der Kalte Krieg. Auch diese Erfahrungsräume liegen wie auf einem Möbius-Band nicht scharf orientierbar zusammen.
Wie schwierig es ist, auf einem Möbius-Band der (In)Securitization klare Deutungen zu finden, bewies zuletzt der französische Staatspräsident.[23] Emmanuel Macron wohnte am 16. Oktober 2021 einer Gedenkzeremonie an der Brücke bei, die von Bezons nach Nanterre führt und die sechzig Jahre zuvor einer der Orte exzessiver Polizeigewalt gewesen war. Er legte einen Kranz nieder, hielt für eine Minute lang schweigend inne. In seiner Rede wies er Papon als Schuldigen aus, eine Entschuldigung oder auch nur eine Deutung der Kontinuitäten im imperialen Raum hatte er nicht parat.
[1] Jim House/Neil MacMaster, Paris 1961. Algerians, State Terror, and Memory, Oxford 2006, S. 1.
[2] Die Diskussionen zeichnen nach: House/MacMaster, Paris 1961, S. 161-167. Nach ihren Kalkulationen kommen sie auf 120 Todesopfer.
[3] Jean-Luc Einaudi, La Bataille de Paris, 17 octobre 1961, Paris 1991.
[4] Neben House/MacMaster, Paris 1961, die ihre Befunde aus umfassenden Archivstudien erheben, sind v.a. zu nennen: Emmanuel Blanchard, Derrière le massacre d’état: ancrages politiques, sociaux et territoriaux de la “demonstration de masse” du 17 octobre 1961 à Paris, in: French Politics, Culture & Society 34 (2016), S. 101-122; zur Erinnerungsgeschichte: Joshua Cole, Remembering the Battle of Paris. 17 october 1961 in French and Algerian Memory, in: French Politics, Culture & Society 21 (2003), S. 21-50; Gilles Manceron, Le 17 octobre des Algériens, suivi de la Triple Occultation d’un massacre, Paris 2011; Olivier Le Cour Grandmaison (Hg.), Le 17 octobre 1961. Un crime d’état à Paris, Paris 2001; Lia Brozgal, Absent the Archive. Cultural Traces of a Massacre in Paris, 17 October 1961, Liverpool 2020; Brigitte Gaïti, Les ratés de l’histoire. Une manifestation sans suites: le 17 octobre 1961 à Paris, in: Sociétés contemporaines 20 (1994), S. 11-37.
[5] Aus der Fülle der Literatur der Überblick von Sylvie Thénault, Histoire de la guerre d’indépendance algérienne, Paris 2012 [2005]; englischsprachig: Todd Shepard, The Invention of Decolonization. The Algerian War and the Remaking of France, Ithaca/London 2006; mit Fokus auf Algerien zuletzt: Natalya Vince, The Algerian War, the Algerian Revolution, Cham 2020.
[6] Benjamin Stora, Ils venaient d’Algérie. L’immigration algérienne en France 1912-1992, Paris 1992, S. 206f.
[7] Amit Prakash, Empire on the Seine. The Policing of North Africans in Paris, 1925-1975, Oxford 2022, S. 115.
[8] House/MacMaster, Paris 1961, S. 113-115.
[9] Olivier Dard, Voyage au coeur de l’OAS, Paris 2005.
[10] House/MacMaster, Paris 1961, S. 67-77; Prakash, Empire on the Seine, S. 109-115.
[11] House/MacMaster, Paris 1961, S. 144-146.
[12] Für den theoretischen Hintergrund meines Beitrags, die sogenannte „PARIS-Schule“ der Sicherheitsforschung, siehe Didier Bigo/Emma McCluskey, What is a PARIS Approach to (In)securitization? Political Anthropological Research for International Sociology, in: Alexandra Gheciu/William C. Wohlforth (Hg.), Oxford Handbook of International Security, Oxford 2018, S. 116-130.
[13] Zum Prozess: Richard J. Golsan (Hg.), The Papon Affair. Memory and Justice on Trial, New York/London 2000.
[14] House/MacMaster, Paris 1961, S. 68.
[15] House/MacMaster, Paris 1961, S. 172, 175,
[16] Blanchard, Derrière le massacre d’état, S. 108f.; für eine längere Perspektive siehe auch ders., La police Parisienne et les Algériens 1944-1962, Paris 2011.
[17] Zur Bedeutung der Doktrin des „revolutionären Krieges“ für Papon: Prakash, Empire on the Seine, S. 101-104.
[18] House/MacMaster, Paris 1961, S. 33-60.
[19] House/MacMaster, Paris 1961, S. 88-112.
[20] House/MacMaster, Paris 1961, S. 103f.
[21] House/MacMaster, Paris 1961, S. 146-149.
[22] Frederick Cooper/Ann Laura Stoler, Between Metropole and Colony. Rethinking a Research Agenda, in: dies. (Hg.), Tensions of empire. Colonial cultures in a Bourgeois World, Berkeley u.a. 1997, S. 1-56.
[23] Ein Video des Auftritts (Letzter Zugriff: 14.10.2023); ein Bericht: Massacre du 17 octobre 1961: Emmanuel Macron dénonce « des crimes inexcusables », « commis sous l’autorité de Maurice Papon », in: Le Monde, 16.10.2021, (Letzter Zugriff: 14.10.2023).