von Anita Krätzner

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1. November 2014

Seit einigen Jahren versuchen Dokumentarfilme, die das Ministerium für Staatssicherheit und insbesondere Inoffizielle Mitarbeiter (IM) thematisieren, sich verstärkt den Zuträgern der Geheimpolizei zuzuwenden. Sie wollen die Charaktere in vielen Facetten abbilden, deren Wahrnehmungen hinterfragen und dabei zu neuen und weniger einseitigen Darstellungen gelangen, als es noch in den frühen 1990er Jahren der Fall war. Hier reiht sich die „Verrats-Trilogie“ der Filmemacherin Annekatrin Hendel ein, die mit dem Portrait des Schriftstellers Paul Gratzik ihren Anfang nahm und nun im zweiten Teil den Prenzlauer Berg Literaten Alexander „Sascha“ Anderson vorstellt.[1]

Sascha Anderson, 1953 in Weimar geboren, war Mitglied der alternativen Künstlerszene Ost-Berlins und in den frühen 1980er Jahren einer der bekanntesten Vertreter der Prenzlauer Berg-Bohème. Nach seiner Ausreise nach West-Berlin stand er in Kontakt zu ebenfalls ausgereisten Dissidenten, zu Journalisten und Diplomaten, die die DDR-Oppositionsszene unterstützten. Deshalb war es wie ein Paukenschlag, als Wolf Biermann 1991 während seiner Rede zur Verleihung des Büchner-Preises Sascha Anderson als Spitzel des Ministeriums für Staatssicherheit „enttarnte“ und später in einer Theaterkantine öffentlich zur Rede stellte – mitgefilmt für einen Beitrag des ZDF-Magazins „Kennzeichen D“. Sascha Anderson, von Wolf Biermann als „Sascha Arschloch“ tituliert, mutierte zum Inbegriff des „Verräters“, des Stasi-IM, der engste Freunde und Kollegen gewissenlos der Geheimpolizei auslieferte. Doch war dies wirklich der Fall? Inwieweit kann Annekatrin Hendels neuer Dokumentarfilm dazu beitragen, die Handlungsweisen und Motivationen, die Zwänge, aber auch die bewussten Entscheidungen einer solch polarisierenden Persönlichkeit wie Anderson herauszuarbeiten? Wie kann ihr Blick eine andere Herangehensweise an die DDR-Aufarbeitung befördern? Behält sie etwa die starre Dichotomie von „Opfern“ und „Tätern“ bei, oder schafft sie es, diese aufzubrechen?

Für den Zuschauer wird nur schwer fassbar, welches Ziel der Dokumentarfilm überhaupt verfolgt. Stringente Fragestellungen, Intentionen oder ein roter Faden lassen sich kaum herausfiltern. Die Spitzeltätigkeit Andersons bleibt während des gesamten Films zwar das Hauptthema, aber weder die Figur Anderson noch seine Stasi-Zuträgerschaft werden wirklich klar gezeichnet.

Herausgekommen sind zwei große und weitgehend voneinander getrennte Erzählstränge: zum einen Interviewausschnitte seiner ehemaligen Weggefährten und Freunde, wie zum Beispiel der Liedermacher Ekkehard Maaß und die Kunstkeramikerin Wilfriede Maaß, mit der Anderson in den 1980er Jahren eine Beziehung führte. Außerdem kommen unter anderem der Lyriker Bert Papenfuß-Gorek, das Galeristen- und Künstlerehepaar Ingrid und Dietrich Bahß oder die Journalisten Roland Jahn und Holger Kulick zu Wort. Alle Interviewpartner versuchen ihr früheres und ihr jetziges Bild von Anderson zu beschreiben. Sie wollen den Anderson, den sie damals kannten, rekonstruieren und denken laut darüber nach, warum sie ihm vertraut haben, was seine Anziehung und sein Charisma ausgemacht habe, warum er eine so wichtige Figur ihrer Szene war. Aber es bleibt bei einem Versuch, denn die Darstellung der Zeitzeugen wird zu stark von dem Bruch überlagert, der sich nach der Öffnung der Stasiakten ergab: Alle Erzählungen der ehemaligen Weggefährten sind beeinflusst von dem Vertrauensverrat, von der Erkenntnis, dass alles, was sich davor ereignete, nicht echt zu sein schien, dass anfängliches Misstrauen nun bestätigt wurde. Ihre Reflexion auf die Stasi-Enthüllungen dominiert alle Aussagen und lässt Anderson noch diffuser erscheinen, als er möglicherweise vorher wahrgenommen wurde. Das ist durchaus verständlich, aber die Filmemacherin hätte durch eine stringente Fokussierung auf die verschiedenen Sichtweisen das frühere Bild in einen greifbaren Kontrast zur heutigen Wirkung auf die Beteiligten setzen können. Was bleibt, ist die Offenbarung, dass alle Beteiligten stark verletzt sind oder waren, einige sich sogar ganz und gar von Anderson abgewandt haben, und wieder andere, wie Bert Papenfuß-Gorek, die immer noch mit ihm befreundet sind.

Der zweite Erzählstrang konzentriert sich auf Sascha Anderson selbst. Dabei bemerkt man eine fast freundschaftlich-intime Nähe zwischen ihm und seiner Interviewpartnerin - eine Nähe, die ihren Ausdruck darin findet, dass sie ein bewunderndes und fast schon überhöhtes Bild von ihm zeichnet. Ihre Grundannahme, es würde sich bei Anderson um eine schizophrene Persönlichkeit handeln, wird von ihm selbst mehrmals ausdrücklich verneint. Nichtsdestotrotz beharrt der Film auf dieser Unterstellung. Anderson dagegen wehrt sich vehement gegen die Unterstellung, er sei in sich gespalten, vielmehr betont er, er hätte durchaus in vollem Bewusstsein gehandelt, er hätte Personen, die er nicht mochte, bereitwilliger ans Messer geliefert, und er hätte nicht gegen sich selbst kämpfen müssen. Diese erstaunlich offenen Worte überraschen. Dennoch treten in den Aussagen der Hauptfigur immer wieder starke Widersprüche auf. So kommt Anderson zu keiner Erklärung, warum er mit der Staatssicherheit so intensiv zusammengearbeitet hat. An einer Stelle behauptet er, es aus ideologischer Überzeugung getan zu haben, an anderer Stelle wiederum gibt er an, überheblich gewesen zu sein und geglaubt zu haben, das System kontrollieren zu können. Ebenso erklärt er, nicht zur Zusammenarbeit erpresst worden zu sein, kokettiert – vermutlich ein Relikt aus vergangenen Zeiten – dennoch aber mit seiner Gefängniserfahrung, die - anders als früher dargestellt - keine politischen Ursachen hatte, sondern aus einem „einfachen“ Scheckbetrug resultierte.

Statt die vielen Dimensionen der Denunziation aufzuzeigen, Motive für die Bespitzelung engster Freunde herauszuarbeiten, trägt der Film vielmehr dazu bei, die Person Sascha Anderson als diffusen Charakter zu entwerfen, was durch den intimen Blick der Kamera noch verstärkt wird. Nachdem Ingrid Bahß äußerte, niemandem hätten Jeans so gut gestanden wie Sascha Anderson, wird der Zuschauer mit einer überzogen langen, ans sexistische grenzenden Kameraeinstellung auf den Hosenbund von Anderson behelligt.

Die Dokumentation vermeidet produktive Konfrontationen. Stattdessen werden die Weggefährten und Anderson selbst losgelöst voneinander betrachtet und die Teilung in „Opfer“ und „Täter“ damit noch stärker etabliert.
Das Ästhetische dieses neugierigen und intimen Blicks ist dahingegen durchaus gelungen. Es gibt abwechslungsreiche und eindrucksvolle Bilder und Kameraeinstellungen. Die Filmmusik von „Grüßaugust“, „Herbst in Peking“ und „To Rococo Rot“ entstammt passenderweise überwiegend der Ost-Berliner Szene der 1980er und 1990er Jahre. Die Inszenierung der Interviewten ist außerordentlich spannend; der Clou, die Küche von Ekkehard Maaß in einem Studio nachzubauen, ist originell, führt aber von jeglicher Konfrontation weg und verkommt dadurch fast zu einer Hommage an Anderson. Den gewünschten Effekt einer stärkeren Fokussierung auf die Fragestellung erzielt dieser Einfall allenfalls künstlerisch, nicht jedoch inhaltlich.

Am Ende des Films bleiben mehr Fragen offen als Antworten gegeben werden. In dem Versuch, seit Jahren festgefahrene Muster der Opfer-Täter-Dichotomien aufzubrechen, erreicht der Film genau das Gegenteil: Er verfestigt allenfalls diese Spaltung.

 

Anderson, Regie: Annekatrin Hendel, Deutschland 2013

Siehe dazu außerdem den Beitrag auf filmportal.de