von René Schlott

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1. Oktober 2015

Vor 50 Jahren wurde „Die Ermittlung“ von Peter Weiss uraufgeführt

„Wir alle
das möchte ich nochmals betonen
haben nichts als unsere Schuldigkeit getan
selbst wenn es uns oft schwer fiel
und wenn wir daran verzweifeln wollten
Heute
da unsere Nation sich wieder
zu einer führenden Stellung
emporgearbeitet hat
sollten wir uns mit anderen Dingen befassen
als mit Vorwürfen
die längst als verjährt
angesehen werden müßten“

- Schlusssequenz aus „Die Ermittlung“[1]



Als das Stück endete, blieb es still im Saal. Kein Applaus brandete auf. Der Vorhang blieb geschlossen. Die Schauspieler verzichteten darauf, noch einmal auf die Bühne zu treten. Und die Zuschauer verließen das Theaterhaus schweigend. So erlebt der Kritiker der Frankfurter Allgemeinen Zeitung das Ende dieses denkwürdigen Theaterabends am 19. Oktober 1965 an der Freien Volksbühne Berlin und schreibt: „Dann geht man hinaus, vorsichtiger als sonst nach Theaterabenden, Tuchfühlung scheuend, auch den Blick hinüber zu Bekannten oder gar das Garderobengedränge“.[2].

Für diese ungewöhnlichen Reaktionen hatte zuvor die Uraufführung eines ungewöhnlichen Stückes gesorgt: Peter Weiss‘ Bühnencollage mit dem kryptischen Titel „Die Ermittlung. Oratorium in 11 Gesängen“. Das Dokumentartheaterstück hatte die Verhandlung der „Strafsache gegen Mulka und andere“ mit dem Aktenzeichen 4 Ks 2/63 zur Grundlage. Das dreijährige Verfahren (1963 bis 1965) sollte als Erster Auschwitz-Prozess in die bundesdeutsche Geschichte der Aufarbeitung der NS-Verbrechen eingehen.

Die Literaturhistorikerin Elsbeth Wolffheim hielt 2001 über die Wirkung der „Ermittlung“ rückblickend fest: „Dass angesichts der im Auschwitz-Prozess enthüllten Fakten nicht ein Aufschrei des Entsetzens durch die gesamte Bundesrepublik schallte, zeigt, dass die ‚große Idee‘ des Rassenhasses noch immer bei einem Teil der bundesrepublikanischen Bevölkerung Anklang fand und - wie man aus heutiger Sicht konstatieren muss - noch immer findet.“[3]

Vielleicht steht Weiss‘ „Passionsstück“ (Walter Jens) deshalb bis heute auf den Spielplänen deutscher Theaterhäuser und zählt neben der „Ästhetik des Widerstands“ zu den bekanntesten Werken des Autors. Vor 50 Jahren wurde es zeitgleich an 14 Theaterhäusern in der Bundesrepublik und der DDR uraufgeführt. Das veranlasste den „Spiegel“ seinerzeit davon zu sprechen, dass das „zweigeteilte Deutschland“ mit der Aufführung zu einer „einzigen moralischen Anstalt“ geworden sei.[4] Neben dem Hans-Otto-Theater in Potsdam lief das Stück am Abend des 19. Oktober 1965 als Ringuraufführung auch in Berlin, Altenburg, Cottbus, Dresden, Erfurt, Essen, Gera, Köln, Leipzig, Leuna, München, Neustrelitz und Rostock. Im Plenarsaal der Volkskammer rezitierten Persönlichkeiten wie Helene Weigel, Bruno Apitz, Ernst Busch und Stephan Hermlin die „Ermittlung“ in verschiedenen Rollen. Da das Stück in Berlin am gleichen Tag in Ost und West aufgeführt wurde, konnten Weiss und sein Verleger Siegfried Unseld die Premiere an zwei Häusern verfolgen. Die ersten der „11 Gesänge“ hörten sie in der Luisenstraße in Berlin-Mitte, wo die Volkskammer damals ihren Sitz hatte. Das Ende sahen Weiss und Unseld an der Freien Volksbühne in Berlin-Wilmersdorf. Nur selten gelang es einem zeitgenössischen Theaterstoff mitten im Kalten Krieg, die Systemgrenzen derart zu überwinden.

In der Freien Volksbühne Berlin inszenierte Erwin Piscator „Die Ermittlung“. Nur wenige Jahre zuvor hatte er am selben Ort als Regisseur ein anderes bedeutendes Dokumentarstück auf die Bühne gebracht, das bundesdeutsche Theatergeschichte geschrieben hat und nicht zuletzt als Katalysator auf die historische Forschung wirkte: „Der Stellvertreter“ von Rolf Hochhuth.

Am Londoner Aldwych-Theater konnte „Die Ermittlung“ unter dem Titel „The Investigation“ erst kurz vor Mitternacht am 19. Oktober 1965 zur Aufführung durch die Royal Shakespeare Company gebracht werden. Die Übersetzung war in letzter Minute fertiggestellt und vervielfältigt worden. In der britischen Hauptstadt, wie auch an anderen deutschen Theater wurde Weiss‘ Stück als Lesung aufgeführt, um jedem Versuch einer Inszenierung des als undarstellbar geltenden Lagergeschehens und seiner Ästhetisierung zu entgehen.

„Die Ermittlung“ basiert auf den Aufzeichnungen und Gedächtnisprotokollen, die Weiss als Prozessbeobachter in Frankfurt 1963 und 1964 anfertigte. Nach dem ersten Prozessbesuch hatte er in seinem Notizbuch festgehalten: „(...) zuerst dachte ich, es ließe sich nicht beschreiben, doch da es Taten sind, von Menschen begangen an Menschen auf dieser Erde – Lange glaubte ich, es sei unmöglich – 2 Jahrzehnte vergangen, eine neue Generation, die nichts davon weiß – los los los.“[5] Weil er die „Fabrik des Todes nicht in Funktion“ (Ernst Schumacher) zeigen konnte, entschied sich Weiss schließlich für deren retrospektive Rekonstruktion in einer Prozesssituation.

Weiss nahm sich jedoch die künstlerische Freiheit, dem Prozessverlauf nicht einfach chronologisch zu folgen, sondern die einzelnen Aussagen von Zeugen, Angeklagten, Anwälten und Richtern in einer Collage neu zusammenzusetzen. Sein stilistisches Vorbild war dabei die Darstellung des „Inferno“ in der „Divina Commedia“ von Dante Alighieri. Mit dem gewichtigen Unterschied, dass Dante die Hölle als etwas Jenseitiges darstellte, sie bei Weiss aber, jeder Metaphysik entkleidet als etwas ganz und gar Diesseitiges erscheint. Die „Hölle auf Erden“ beschreibt Weiss in „11 Gesängen“, die den Weg eines Menschen in Auschwitz von der „Rampe“ bis zu den „Feueröfen“ nachzeichnen. Er verzichtet dabei auf jede Dramatisierung des Stoffes und „repräsentiert das dokumentarische Theater in seiner reinsten und strengsten Form“[6], weil er genaue Regieanweisungen vermeidet, vielmehr jeden Versuch der Inszenierung ablehnt. Seine Sprache kommt zwar nicht ohne Metaphern aus, entbehrt aber weitgehend der emotionalisierenden Adjektive und jedes expliziten moralischen Urteils.

Nicht unproblematisch ist Weiss‘ Entscheidung, die gut 360 Zeugen auf neun namenlose Überlebende zu reduzieren, während die 18 (von im Prozess ursprünglich 22) Angeklagten ihre Identität behalten, weil Weiss damit die nazistische Politik der Entindividualisierung gleichsam perpetuiert. Kritiker haben auch darauf hingewiesen, dass das Wort „Jude“ in dem Stück nicht ein einziges Mal fällt.[7]

„Die Ermittlung“ löste eine in Ost wie West breite intellektuelle Debatte aus, an der auf der einen Seite Protagonisten wie Hans Mayer, Günther Rühle und Hellmuth Karasek, auf der anderen Seite Klaus Gysi und Karl-Eduard von Schnitzler beteiligt gewesen sind.[8] Die positive Aufnahme des Stückes in der DDR war nicht zuletzt der darin inhärenten zeitgenössischen Kapitalismuskritik geschuldet, die die wirtschaftliche Ausbeutung zu einem Leitmotiv des Völkermords im 20. Jahrhundert, wenn nicht gar zum Erklärungsansatz des Holocaust machte, wie es zuvor Raul Hilberg und später noch ausgeprägter Götz Aly vertreten haben.[9] Einen Zeugen lässt Weiss die antikapitalistische Dichotomie von Ausbeuter und Ausgebeutetem aufgreifend erklären:

„Wir müssen die erhabene Haltung fallenlassen / daß uns diese Lagerwelt unverständlich ist / Wir kannten alle die Gesellschaft / aus der das Regime hervorgegangen war / das solche Lager erzeugen konnte / Die Ordnung die hier galt / war uns in ihrer Anlage vertraut / deshalb konnten wir uns auch noch zurechtfinden / in ihrer letzten Konsequenz / in der der Ausbeutende in bisher unbekanntem Grad / seine Herrschaft entwickeln durfte / und der Ausgebeutete / noch sein eigenes Knochenmehl / liefern mußte.“[10]

Mit seinem Junktim von Großkapital und Nationalsozialismus griff Weiss das dominierende Erklärungsmuster der DDR-Historiographie auf, mehr noch affirmierte er deren Kontinuitätsthese:

„Lassen Sie es uns noch einmal bedenken: daß die Nachfolger dieser Konzerne heute / zu glanzvollen Abschlüssen kommen / und daß sie sich wie es heißt / in einer neuen Expansionsphase befinden.“[11]

Mit der „Ermittlung“ fand Weiss zugleich seinen eigenen Umgang mit dem 1951 erstmals veröffentlichten Adorno-Diktum, wonach das Schreiben eines Gedichtes nach Auschwitz „barbarisch“ sei. Ein Jahr nach der Aufführung von Weiss‘ Stück modifizierte Adorno seine These schließlich, als er in der „Negativen Dialektik“ schrieb: „Das perennierende Leiden hat soviel Recht auf Ausdruck wie der Gemarterte zu brüllen; darum mag falsch gewesen sein, nach Auschwitz ließe sich kein Gedicht mehr schreiben. Nicht falsch aber ist die minder kulturelle Frage, ob nach Auschwitz noch sich leben lasse, ob vollends es dürfe, wer zufällig entrann und rechtens hätte umgebracht werden müssen.“[12]

Peter Weiss selbst überlebte die nationalsozialistische „Endlösung“ nur, weil er als Flüchtling in Europa Länder fand, die bereit waren, den Verfolgten aufzunehmen. Der 1916 in Babelsberg als Sohn eines jüdischen Vaters geborene Weiss fand zunächst Zuflucht in Großbritannien, der Tschechoslowakei, der Schweiz und zuletzt in Schweden, wo er 1982 starb. „Die Ermittlung“ ist sein bleibendes Vermächtnis gegen ein Schweigen über Auschwitz, das sich im ersten Jahrzehnt nach der Vernichtung des europäischen Judentums über das Land gelegt hatte. Peter Weiss hat mit „Die Ermittlung“ gezeigt, wie Theater nicht nur nach, sondern auch mit Auschwitz funktionieren kann. Wenngleich die Zuschauer vor 50 Jahren schweigend aus dem Theater gegangen sind, hat Weiss dazu beigetragen, letztlich das Schweigen über Auschwitz zu beenden und ein Reden zu ermöglichen, das schließlich auch die Geschichtswissenschaft aufgriff.

 

[1] Peter Weiss, Die Ermittlung. Oratorium in 11 Gesängen, Frankfurt a. M. 2008 (zuerst 1965), S. 198f.

[2] Dieter Hildebrandt, Ohne Applaus. Piscators Inszenierung der „Ermittlung“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21.10.1965, S. 20. Die gleiche Stimmung beschrieb auch der Premierengast Walter Jens, in: Die Zeit, 29.10.1965.

[3] Im Booklet (S. 9) des 2001 wieder aufgelegten Hörspiels aus dem Jahr 1965 (HR/BR/DLF/RB/SR/SFB/SDR/SWF/WDR/SRG/NDR) unter der Regie von Peter Schulze-Rohr.

[4] Gesang von der Schaukel, in: Der Spiegel 43/1965, S. 152- 165, hier S. 152.

[5] Peter Weiss, Notizbücher 1960-1971, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1982, S. 226.

[6] Rob Burns, Dramaturgie der Befreiung, in: Hans Ulrich Gumbrecht u.a. (Hg.), Eine Neue Geschichte der deutschen Literatur, Berlin 2007 (engl. Originalausg. 2004), S. 1088-1094, hier S. 1092.

[7] Raul Hilberg, Die Vernichtung der europäischen Juden. Die Gesamtgeschichte des Holocaust, Berlin 1982 (engl. Originalausg. 1961), S. 719 Fn. 38.

[8] Siehe das Feature „Streit um ein Theaterstück“, 16.10.2015, 20:10-21:00 Uhr, im Deutschlandfunk.

[9] Hilberg, Vernichtung, S. 677; Götz Aly, Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus, Frankfurt a. M. 2005.

[10] Weiss, Ermittlung, S. 85f.

[11] Weiss, Ermittlung, S. 102.

[12] Theodor W. Adorno, Negative Dialektik,Frankfurt a. M. 1973, S. 355.