Im Archiv der Gedenkstätte Buchenwald findet sich ein Bild von vier jungen Männern, die den Fotografen und damit uns direkt anschauen. Die Oberkörper, auch die Beine sind bei zwei Männern unbedeckt und lassen einen Zustand der starken Abmagerung erkennen. Zwei der Männer stehen, einer sitzt aufrecht auf einem Stuhl oder einer Kiste, wobei ihm ein gestreiftes Kleidungsstück als Unterlage dient. Der vierte sitzt vor einem der stehenden Männer auf dem Boden.
Die Sonne wirft deutlich erkennbare Schatten und die Männer scheinen nicht zu frieren. Ob sie die Oberkörper freigemacht haben, um sich von der Sonne wärmen zu lassen, oder ob sie dem Fotografen ihre abgemagerten Körper zeigen wollten, bleibt offen. Drei der Männer tragen die Haare kurz, der Kopf des vierten ist kahl. Der stehende Mann rechts trägt eine längsgestreifte Hose, vermutlich Häftlingskleidung.
Alle vier Männer blicken sehr selbstbewusst in die Kamera. Der am Boden sitzende Mann lässt sogar den Anflug eines Lächelns erkennen. Einer der Stehenden hat die Arme verschränkt – eine Haltung, die als Zeichen für ein selbstbewusstes Auftreten, für eine Trotz- oder Abwehrhaltung gedeutet werden kann.
Da das Fotografieren in NS-Konzentrationslagern verboten (bzw. nur unter bestimmten Umständen erlaubt) war, kann das Bild nicht vor der Befreiung des Lagers im April 1945 gemacht worden sein. Aufgenommen wurde es von Alfred Stüber, der 1904 in Reutlingen geboren wurde und 1937 wegen illegaler Arbeit für die Zeugen Jehovas in Stuttgart verhaftet wurde.[1] Im Jahr 1938 wurde er nach Buchenwald gebracht, wo er als Häftling Nr. 2733 in der Fotoabteilung eingesetzt wurde. Nach der Befreiung des Lagers im April 1945 fertigte er eine Fotoserie an, die als Grundlage für einen „Lichtbildervortrag“ diente. Ab Oktober 1945 hielt er diesen mit 74 Fotografien unterlegten Vortrag, dessen Text im Archiv von Buchenwald überliefert ist, in mehreren deutschen Städten. Das hier besprochene Bild ist darin mit folgendem Text unterlegt:
„Dieses Foto wurde 4 Wochen nach dem Einzug der Amerikaner gemacht. Die jungen Leute – 17 bis 21-jährige Jugoslaven, Ungarn, Polen – hatten seit dieser Zeit eine hervorragende Verpflegung durch die Amerikaner erhalten. Der junge Körper überwindet rasch auch schwere Ernährungsfehler: die Versündigung an den vielen Zehntausenden war jedoch schon soweit fortgeschritten dass auch eine vierwöchige Mastkur kaum Spuren hinterlassen hatte. Der Junge in der Mitte z.B. musste zur Aufnahme getragen werden.“[2]
Als Darstellung von Überlebenden eines Konzentrationslagers ist dieses Bild in mehrfacher Hinsicht ungewöhnlich. Zum einen wurde es nicht unmittelbar nach der Ankunft der US-Armee gemacht. Die Häftlinge haben, wie Stüber bezeugt, schon vier Wochen lang Nahrung und medizinische Hilfe bekommen, sind also körperlich schon in einem etwas besseren Zustand als während der Haftzeit. Zum anderen schauen sie nicht mit „leeren“ Blicken in die Kamera, wie die sogenannten „Lebenden Toten von Buchenwald“, die auf einer Aufnahme von Margaret Bourke-White zu sehen sind. Sie sind weder Teil einer Masse, noch sind sie auf engstem Raum zusammengepfercht, wie diejenigen auf dem bekannten Foto des Armeefotografen Harry Miller. Weder erwecken diese Männer den Eindruck dass sie in die Vergangenheit blicken, noch mangelt es ihnen an Individualität oder Lebenswillen.
Sie könnten die zukünftigen Halbstarken sein, über die sich die Republik in den 1950er Jahren echauffierte, sie könnten Familien gründen und das Land verlassen, sie könnten aber auch an den Folgen der Haft sterben. In diesem Moment aber wirken sie selbstbewusst, entschlossen und ganz gegenwärtig. Für mich repräsentieren sie mehr als jedes andere Bild aus dieser Zeit nicht (nur) das Grauen der Lagerzeit, sondern das Ende des Zweiten Weltkriegs und den Eigensinn derer, die ihn überlebten.
[1] Alle Informationen des folgenden Absatzes stammen aus dem Datensatz der Fotografie im Archiv der Gedenkstätte Buchenwald, Fotoarchiv Buchenwald.
[2] Vortragsmanuskript "Beschreibung zu den Diapositiven (Fotos) aus dem KL Buchenwald", in: BwA 52-11-1056. Für den Hinweis auf das Manuskript bedanke ich mich bei Sandra Starke.