von Miriam Zlobinski

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6. Mai 2020

Ein Mensch ohne eigene Erfahrung in Diktaturen, Kriegen und Krisen denkt bei "Befreiung" zuerst in fremden Bildern, in Medienbildern und Momenten, die er oder sie nicht selbst erlebt hat. Es ist mehr als eine individuelle Erfahrungslücke. Der Soziologe Niklas Luhmann schreibt: ,,Alles, was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien."[1]

Das Bild, um das es hier geht, ist eine gedruckte Fotografie, hinter der viele Bilder liegen. Das Foto ist auf dem Buchcover des Bandes „Fotos für die Pressefreiheit“ von Reporter ohne Grenzen (ROG) Deutschland, das jährlich am 3.Mai (Tag der Pressefreiheit) herausgegeben wird. Es zeigt etwas und doch nichts richtig. Ein am linken Bildrand angeschnittener Polizist erhebt in seiner Uniform und Schutzkleidung den Knüppel gegen eine Gruppe von Menschen, die sich mit Regenschirmen schützen wollen. Der einzige Protestant ohne Schirm ist im Gesicht verdeckt durch eine voluminöse Atemmaske, vielleicht als Schutz gegen den Einsatz von Tränengas. Im Hintergrund erhöht, wie auf einer Aussichtsplattform, beobachten und fotografieren weitere Menschen. Der Fotograf dieses Bildes steht nur kurz hinter dem agierenden Polizisten. Im Auftrag der New York Times entstand das Bild vom Fotografen Lam Yik Fei in Hongkong. Das Original ist ein Querformat und wurde für die Covernutzung zu einem Hochformat beschnitten. Im Fotobuch berichtet Fei darüber, wie er Krisen in der Türkei oder Sierra-Leone fotografierte, bevor die Krise 2019 zu ihm nach Hause kam. Er entdeckte auf den Straßen Hongkongs Slogans, die die Demonstrant*innen an Wände oder Barrieren gesprüht hatten. Einer davon lautet „Unter dieser Maske befindet sich eine Idee und Ideen sind kugelsicher“. Lam Yik Fei trägt bei der Arbeit selber eine Maske, einen Helm und feuerfeste Kleidung.

Die Journalistin Huang Xueqin wurde für ihre Berichterstattung über die Proteste inhaftiert. Mehr als die Hälfte der Medieneigentümer*innen Hongkongs gehören politischen Organisationen in Festlandchina an und stehen nicht für eine freie Berichterstattung. Hongkong liegt damit auf Platz 80 von 180 Ländern in der aktuellen Rangliste der Pressefreiheit der Organisation Reporter ohne Grenzen. Auf Basis dieser jährlich herausgegebenen Liste erscheint ihre Publikation „Fotos für die Pressefreiheit“ seit 1994. Die Bildauswahl in dem Buch hängt nicht mit der Häufigkeit des Ankaufs der Bilder in den Medien zusammen. Im Gegensatz zur französischen Mutterorganisation Reporters sans frontières beschäftigt die deutsche Ausgabe sich nicht mit einem*r einzelnen Fotograf*in. In Frankreich trägt es zudem den Titel „100 Photos pour défendre la liberté de la presse“ und zeigt damit eine feste Anzahl von 100 Bildern. Das Jahrbuch der deutschen Sektion setzt andere Akzente. Es ist in zwei Teile gegliedert. Der Einstieg bildet der Faktenblock, der Kurzmeldung vereint aus verschiedenen Ländern zum Stand der Pressefreiheit. Diese Beiträge werden meisten mit einem Foto aus internationalen Nachrichtenagenturen bebildert. Daran anschließend folgt Essayblock, in dem Fotograf*innen auf mehreren Doppelseiten mit und über ihre Bilder erzählen und längere Bildstrecken zeigen. Die Fotograf*innen leben zum größten Teil in den jeweiligen Ländern, welche sie dokumentieren. Die Bilder werden unabhängig vom Text als Narrativ von der Bildredaktion editiert. Die Recherchen für die Auswahl der Geschichten führen, digital zumindest, um die ganze Welt.

Credit: Lam Yik Fei, Proteste in Honkong 2019, in „Fotos für die Pressefreiheit“, Berlin 2020.

Die Fotografien bleiben in ihrem medienspezifischen Charakter Fragmente und wirken doch schon mit der Möglichkeit, sie zu machen, in das Leben hinein. Es existieren bildliche Wissensstrukturen, Bildpolitiken – und in der vermeintlichen Kausalkette werden "Sehende" zum"Wissenden", die allein dadurch zu "Handelnden" werden können. Diese Ideallinie hält der Realität nicht stand und wird der Fotografie oft als Schwäche ausgelegt. Ich finde, diese Anforderung muss sie gar nicht erfüllen, denn das Medium trägt das Handeln grundlegend in sich. Die Bilder müssen zu allererst fotografiert werden. Danach braucht es Menschen, die sie aufwändig entwickeln (zumindest bis in die 1990er Jahre hinein) und weiter tragen, evtl. entschließen sich Redakteur*innen dann dazu, sie zu veröffentlichen. In der Presse ist die Fotografie dabei mit zweierlei Werten ausgestattet, mit dem Übermitteln von Inhalten und dem Erzeugen von Aufmerksamkeit. Beides findet sich in der gewählten Aufnahme von Lam Yik Fei. Diese Aufnahme lebt von den Formen und Farben, von den verdeckten Gesichtern und den entblößten Beinen, die gespannt unter den kurzen Hosen hervorgucken und den Turnschuhen, die sich gegenseitig im Weg zu stehen scheinen.

Bei der Geburtsstunde von Reporter ohne Grenzen spielte 1994 die berliner tageszeitung (taz) eine entscheidende Rolle. Sie veröffentlichte die erste Ausgabe „100 Fotos für die Pressefreiheit“ mit einem Aufruf zur Gründung von Reporter ohne Grenzen. In den 26 Jahrgängen bilden sich im Erscheinungsbild inhaltliche und technische Veränderungen ab. Auf der ersten Ausgabe fand sich noch ein unscharfes schwarz-weiß Foto, welches dem kroatischen Fernsehen entnommen wurde. Mittlerweile sind die Fotografien in Druckqualität und Farbigkeit von bester Qualität. Verfügbar werden sie durch Datentransfers anstelle von verschickten Abzügen und ein unterstützendes Crowdfunding für die Druckkosten begleitet jedes Jahr die Umsetzung. Diskussionen um die Legitimation der Berichterstattung durch ausschließlich westliche Journalisten, führten zu einem sensiblen Umgang und der Betonung auf Fotograf*innen, die vor Ort leben.

Ein Fotobuch kann niemanden befreien, aber viele Publikationen haben bereits zu Inhaftierungen geführt. Im aktuellen Barometer auf der Website von Reporter ohne Grenzen werden 231 Journalist*innen und nochmals 115 Blogger*innen und Bildjournalist*innen weltweit aktuell als inhaftiert geführt. Durch die Beiträge im Faktenblock und in den persönlichen Essays zeigt „Fotos für die Pressefreiheit“ Protagonist*innen und Ereignisse, die durch die Medien Aufmerksamkeit erfahren. Es zeigt aber auch Beiträge, die in den gängigen Medien durch das Raster fallen, während sie für die Gesellschaft relevant sind. Durch die publizierten Fotografien können wir hinschauen und vielmehr noch, die Nebenschauplätze unserer eigenen Wahrnehmung aktiv verschieben.

 


[1] Niklas Luhmann, Die Realität der Massenmedien, Opladen 1996, S.9.