von Alexandra Klei, Katrin Stoll, Annika Wienert

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8. Mai 2020

Esther Bejarano forderte am 26. Januar 2020 in einem offenen Brief an „die Regierenden und alle Menschen, die aus der Geschichte lernen wollen“, dass der 8. Mai in Deutschland ein offizieller Feiertag werden solle.[1] Dies sei „überfällig seit sieben Jahrzehnten“, so die Vorsitzende des Auschwitz-Komitee in Deutschland, Ehrenpräsidentin der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes - Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN-BdA), Überlebende der nationalsozialistischen Lager Auschwitz, Ravensbrück und eines Todesmarsches, auf dem sie vom US-amerikanischen und sowjetischen Militär befreit wurde.

Diese Befreiung gelte es, als Gesellschaft zu feiern, mit einem regelmäßig wiederkehrenden Gedenktag zu begehen. Dieser Tag, so fordert Bejarano, solle aber ebenso daran erinnern, dass in der Gegenwart „für eine andere, bessere Gesellschaft ohne Diskriminierung, Verfolgung, Antisemitismus, Antiziganismus, ohne Ausländerhass“ gestritten werden müsse. Konkret fordert sie unter anderem die Aufnahme von Geflüchteten in Deutschland, benennt das unzureichende Handeln gegenüber Neonazis, auch denen in Parlamenten, der Polizei und Bundeswehr.
Bereits 92.629 Menschen haben die Petition „8. Mai zum Feiertag machen! Was 75 Jahre nach Befreiung vom Faschismus getan werden muss!“unterzeichnet.[2]
Unabhängig davon hat die Berliner Landesregierung den 8. Mai 2020 zu einem einmaligen Feiertag gemacht.[3] Dass die Initiative für einen bundesweiten arbeitsfreien Tag erfolgreich sein wird, erscheint nicht unwahrscheinlich.

Kann es in Deutschland aber gelingen, einen solchen Feiertag zu einer kritischen Intervention werden zu lassen? Könnte er der selbstgefälligen deutschen Gedenkweltmeisterei etwas entgegensetzen? Die Autorinnen dieses Textes sind demgegenüber skeptisch. „Sonntagsreden, die Betroffenheit zeigen, reichen nicht. Es muss gestritten werden für die neue Welt des Friedens und der Freiheit“,[4] heißt es in der Petition. Dass Politik und Gesellschaft dazu in nennenswerten Teilen bereit sind, ja überhaupt die Notwendigkeit dessen anerkennen, darf bezweifelt werden. Ein Blick auf die katastrophalen, menschenverachtenden Bedingungen in Moria und anderen EU-Lagern für Geflüchtete reicht, um das festzustellen. Auch ein Blick in die Urteilsbegründung des NSU-Prozesses führt zu keinem anderen Ergebnis: Opfer und Hinterbliebene kommen hier kaum vor.[5]

Im Folgenden geht es uns darum, aufzuzeigen, welche Erfahrungen und welche Aspekte des historischen Ereignisses im deutschen Diskurs bis heute weitgehend ausgeblendet werden.[6] Keinesfalls soll dies die Initiative eines offiziellen Feiertages diskreditieren, sondern vielmehr sollen fundamentale Schieflagen im Mainstream der deutschen Gedenkkultur aufgezeigt werden.

 

Was heißt Befreiung für die Überlebenden der deutschen Verbrechen?

Am 27. Januar 1945 befreite die Rote Armee das nationalsozialistische Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz. In seinem autobiographischen Roman La tregua beschreibt Primo Levi, dass die Stunde der Freiheit und die Begegnung mit den Soldaten in den Überlebenden nicht nur Freude und Erleichterung, sondern auch – und vor allem – ein schmerzliches Schamgefühl auslöste und die Gewissheit, dass die Gewalterfahrungen für immer in ihren Körpern und Gedächtnissen gespeichert sein würden. Kurzum: Die Überlebenden der deutschen Konzentrationslager wurden zwar von der NS-Verfolgungs- und Vernichtungspolitik befreit, nicht indes von ihren Erfahrungen der Gewalt, die sich in ihre Körper eingeschrieben hatten. So schreibt auch Esther Bejarano: „Uns aber hat Auschwitz nicht verlassen. Die Gesichter der Todgeweihten, die in die Gaskammern getrieben wurden, die Gerüche blieben, die Bilder, immer den Tod vor Augen, die Albträume in den Nächten.“[7] Die Überlebenden konnten nicht befreit werden von den Erinnerungen an das Ungeheuerliche, „das niemals hätte geschehen dürfen“ (Hannah Arendt) und das ihr Weltvertrauen erschüttert hatte. Weltvertrauen ist ein Begriff, den der Überlebende Jean Améry in seinem Buch Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten verwendet. Er versteht darunter „die Gewißheit, daß der andere auf Grund von geschriebenen und ungeschriebenen Sozialkontrakten mich schont, genauer gesagt, daß er meinen physischen und damit metaphysischen Bestand respektiert“.[8] Überlebende wie Améry, der hier stellvertretend für viele genannt wird, hatten diese Gewissheit nach dem Zivilisationsbruch nicht mehr.

Améry, 1912 als Hans Mayer in Wien geboren, gelang 1938 die Flucht vor den Nazis nach Belgien. 1940 wurde er als „feindlicher Ausländer“ verhaftet und zusammen mit anderen in das Lager Gurs in die französischen Pyrenäen gebracht. Nach erfolgreicher Flucht und seiner Rückkehr nach Belgien schloss er sich 1941 einer kommunistischen Widerstandsgruppe an. 1943 wurde er von der Gestapo verhaftet und nach Fort Breendonk verschleppt, wo er, gefesselt auf dem Steinboden, sechs Monate in Einzelhaft verbringen musste. In Fort Breendonk und während der 674 Tage in den deutschen Konzentrationslagern Auschwitz, Buchenwald und Bergen-Belsen, erfuhr er, was es bedeutet, der absoluten Macht der Nazis ausgesetzt zu sein.

Die Erfahrung, dass sich der Mitmensch in den Gegenmensch verwandelt hatte, machte es unmöglich, das verlorene Weltvertrauen in der Nach-Auschwitz-Welt zurückzugewinnen, sie bleibe, schreibt Améry, „als gestauter Schrecken im Gefolterten liegen: Darüber blickt keiner hinaus in eine Welt, in der das Prinzip Hoffnung herrscht.“[9] Daraus folgte für ihn, dass sich seine Identität, seine Position in der Welt grundlegend und unumkehrbar geändert hatte: „Ohne Weltvertrauen stehe ich als Jude fremd und allein gegen meine Umgebung, und was ich tun kann, ist nur die Einrichtung in der Fremdheit. Ich muß das Fremdsein als ein Wesenselement meiner Persönlichkeit auf mich nehmen, auf ihm beharren wie auf einem unveräußerlichen Besitz. […] Wenn ich mir und der Welt […], sage: Ich bin ein Jude, dann meine ich damit die in der Auschwitznummer zusammengefaßten Wirklichkeiten und Möglichkeiten.“[10]

Nach seiner Befreiung in Bergen-Belsen gab es keinen Hans Mayer mehr. Er übersetzte seinen Vornamen ins Französische und schuf sich einen neuen Nachnamen als Anagramm des vorherigen.

 

Wer wurde nicht befreit?

Der militärische Sieg über Nazi-Deutschland war die Voraussetzung dafür, dass Millionen Europäer*innen, die von den Deutschen während des Zweiten Weltkrieges gedemütigt, unterdrückt, unterworfen, versklavt, ausgebeutet, verfolgt und gefangen genommen worden waren, befreit werden konnten. Neben der Frage danach, wovon die Opfer der präzedenzlosen nationalsozialistischen Verbrechen nicht befreit werden konnten, ist die Frage zu stellen, „wer nicht mehr befreit werden konnte“.[11] Es sind dies alle, die auf der Grundlage der rassistischen Ideologie des Nationalsozialismus, mit dem Antisemitismus als Kernelement, ermordet wurden. Die Trauer um sie begleitete und begleitet die wenigen Überlebenden unaufhörlich, die so viele geliebte Menschen, Familienangehörige, Freund*innen, Vorbilder, Gleichgesinnte verloren haben.

Nicht befreit wurden auch die über hundert Kämpfer*innen des Warschauer Gettoaufstands mit ihrem Kommandeur Mordecai Anielewicz. Sie nahmen sich – von den Deutschen umzingelt und vom polnischen Untergrund im Stich gelassen[12] – am 8. Mai 1943 im Bunker der Żydowska Organizacja Bojowa (ŻOB)[13] in der Miła-Straße 18 das Leben. Angesichts der ausweglosen Situation war für die Kämpfer*innen der Selbstmord die einzige Möglichkeit, sich von der antisemitischen Gewalt zu befreien. Dieses Ereignis, das ebenfalls mit dem Datum des 8. Mai verknüpft ist, ist in Deutschland nahezu unbekannt.

Die Liste derjenigen Menschen, die von Deutschen mit einer beispiellosen Effizienz und Systematik verfolgt und ermordet wurden, ist lang. Neben den ermordeten europäischen Juden und Jüdinnen zählt dazu eine Gruppe, die oft vergessen[14] wird: die 3,5 Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen, von denen die Deutschen 60 Prozent verhungern ließen. Zu den Opfern der deutschen Verfolgungs- und Vernichtungspolitik gehörten außerdem fast alle vom NS-Staat erfassten Sinti und Roma sowie als geisteskrank definierte Patienten und Patientinnen deutscher Krankenanstalten. Allein in den letzten Wochen des Krieges in Europa kamen zudem 300 000 KZ-Gefangene ums Leben, die meisten davon auf den Todesmärschen, auf die sie die SS nach der Räumung der Lager zwang.

Am 7./8. Mai unterzeichnete die Wehrmacht ihre bedingungslose Kapitulation; der von den Deutschen begonnene Weltkrieg war damit allerdings noch nicht vorbei. Im pazifischen Raum endete der Zweite Weltkrieg erst am 2. September 1945 mit der Kapitulation Japans. Auch für die von Deutschland besetzten Länder kann nicht uneingeschränkt von einer Befreiung gesprochen werden, da die gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, materiellen Zerstörungen sowie die Auswirkungen des Terrors und des Massenmordes auf die Gesellschaften und Individuen bis heute fortwirkten.

 

Befreite Deutsche

Der Historiker Reinhart Koselleck, selbst Kriegsteilnehmer in der Wehrmacht, hat dargelegt, dass es sich verbietet, „die Deutschen, einmal besiegt, zu den in gleicher Weise befreiten zu rechnen“[15] wie die Überlebenden der Lager. Zwar hat sich im deutschen öffentlichen Diskurs mit Richard von Weizsäckers Rede am 8. Mai 1985 die offizielle Deutung des militärischen Sieges über Deutschland als ‚Tag der Befreiung’ von der NS-Herrschaft durchgesetzt. Wie indes diese behauptete Befreiung zustande kam, wie sich die Transformation des Tages der bedingungslosen Kapitulation zum Tag der Befreiung im öffentlichen Diskurs vollzog, wie und warum das Narrativ der Wenigen[16] auf die Mehrheitsgesellschaft übertragen wurde, wird dabei ausgeblendet.[17] Die Selbstviktimisierung der deutschen Mehrheitsgesellschaft, die unmittelbar mit Kriegsende einsetzte, ist seitdem kontinuierlich präsent, wenn auch in unterschiedlichen Intensitäten und Ausprägungen. Auch die Rede von der Befreiung lässt sich in dieses Selbstbild integrieren – Täterin war eine unbestimmte, unpersönliche „Herrschaft“, Befreite und somit Opfer des Nationalsozialismus „wir alle“: „Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.“[18], so formulierte es Weizsäcker. Die Anmaßung, die Befreiung für alle Deutschen zu reklamieren, geht nicht nur komplett an der Realität vorbei. Sie impliziert auch eine falsche Identifikation mit den Ermordeten und Überlebenden der nationalsozialistischen Verfolgungs- und Vernichtungspolitik – bei gleichzeitiger Ausklammerung der wirklichen Täterschaft für diese Politik: „Wenn alle Opfer sind, gibt’s keine Täter mehr.“[19]

Das Bemühen, die Täter verschwinden zu lassen, zeigte sich auch darin, dass der 8. Mai in der Anfangsphase der Bundesrepublik in Bezug auf die Strafverfolgung von NS-Verbrechen kein Gedenktag war, sondern ein „Tag der Amnesie und Amnestie“: „Ab diesem Stichdatum war die strafrechtliche Verfolgung von NS-Verbrechen auf vorsätzliche Tötungsdelikte (seit 1955) bzw. auf Mord (seit 1960) beschränkt – obwohl die Zentrale Stelle Ludwigsburg ihre Tätigkeit erst 1958 aufgenommen hatte und die Prozeßvorbereitungen kaum begonnen hatten.“[20]
Der Deutsche Bundestag hatte es noch 1969 versäumt, die Verjährungsfrist für Mord und damit auch die Verjährung der NS-Massenmorde aufzuheben. Dies löste 1978 eine internationale Debatte aus, zu der Jean Améry mit einem seiner letzten Texte[21] – er beging am 17. Oktober 1978 in einem Hotelzimmer in Salzburg Selbstmord – beitrug. Améry beschreibt sich darin als Don Quijote, der, „an tauben Mannes Türen gegen die Verjährung“ pochend und die Lanze einlegend, losreitet „gegen die Zeitmühlen, die alles zermahlen werden, so dass als ‚objektive Geschichtlichkeit‘ nur saubere und austauschbare Mehlkörnchen übrigbleiben, aus denen das Brot der Zukunft gebacken wird“. Dieses Brot, so seine Warnung, werde „übel schmecken“.
 

In Deutschland scheint dieser Geschmack wenige zu stören. In öffentlichen Diskussionen und wissenschaftlichen Publikationen, die aus Anlass des 70. Jahrestages hier erschienen, wurde das „nationale Kollektiv der Hitleranhänger“[22] erneut als Kollektiv von Unbeteiligten, das Hitlers Vernichtungskrieg in Europa nicht befürwortet hatte, festgeschrieben. In einem Beitrag in der von der Bundeszentrale für politische Bildung herausgegebenen Zeitschrift Aus Politik und Zeitgeschichte war 2015 zu lesen: „Die Meinungen zum Krieg und zur Niederlage gingen in der deutschen Bevölkerung im Mai 1945 weit auseinander, je nach Geschlecht, Region und Klasse. Millionen Deutsche, tatsächlich eine Mehrheit, hatten 1932 nicht für die NSDAP gestimmt; Millionen Deutsche, wären sie gefragt worden, wollten 1939 keinen Krieg, und auch nicht seine Ausdehnung auf die Sowjetunion 1941.“[23] Diese Deutung spiegelt die angesprochene Selbstviktimisierung und Schuldleugnung der deutschen Bevölkerung, die eine lange Tradition hat.[24] Die Tatsache, dass die überwiegende Mehrheit bis zum 8. Mai 1945 hinter dem NS-Regime stand und mit den rassistischen Ideen sowie der Eroberungs- und Vernichtungspolitik des NS-Staates einverstanden war, erscheint weiterhin auf gesamtgesellschaftlicher Ebene kein erklärungsbedürftiges Phänomen zu sein, sondern wird schlichtweg ignoriert. Auch wenn die Mehrzahl der Reden und Beiträge zum 75. Jahrestag noch nicht erschienen sind, deutet nichts darauf hin, dass sich in den letzten fünf Jahren daran etwas Wesentliches geändert hat.
 

Die deutsche Gedenkkultur zeichnet sich in weiten Teilen dadurch aus, dass sie Schuldabwehr, Selbstviktimisierung und Gedenken an die Verbrechen des Nationalsozialismus, vor allem an den Holocaust, in selbstbezogener und selbstgefälliger Art und Weise in Einklang bringt. An einer Auseinandersetzung mit der Realität der von Deutschen verübten Verbrechen besteht weiterhin kaum Interesse und sie wird von der Politik viel zu wenig gefördert. So fehlt es beispielsweise an entsprechenden Lehrangeboten an den Universitäten, es fehlt an Geld und ausreichender Professionalisierung bei den außerschulischen Bildungsangeboten, und die wissenschaftliche Erforschung des Holocaust ist in Deutschland kaum dauerhaft institutionalisiert. In der Konsequenz mangelt es eklatant an Wissen um die historischen Ereignisse und die konkreten Verbrechen, trotz einer vermeintlichen Virulenz der öffentlichen Erinnerung.

Zugespitzt ließe sich sagen, dass dieser Mangel an Wissen konstitutiv für die breite Akzeptanz der deutschen Gedenkkultur ist. Wie kann vor diesem Hintergrund ein Erinnern an den Tag der Befreiung in seiner Komplexität etabliert werden? Ein weiterer Aspekt erschwert dieses Ansinnen: Der Begriff der Befreiung, bezogen auf die deutsche Gesellschaft, klammert aus, dass die Befreiung vom politischen System des Nationalsozialismus keine Befreiung von den mentalen Strukturen bedeutete. Es wird verschleiert, dass eine bestimmte Struktur des Denkens, vor allem der Antisemitismus, und eine rassistische Weltsicht sich nicht von heute auf morgen ändern (lassen) und die Voraussetzungen, die den Nationalsozialismus und seine Verbrechen ermöglichten, nach 1945 weiterwirkten und bis heute weiterwirken. Eine Befreiung von den kognitiven Orientierungen, welche die Verbrechen ermöglichten, bleibt weiterhin Utopie. Soyons réalistes, demandons l’impossible. (Lasst uns realistisch sein, lasst uns das Unmögliche verlangen, d. Red.).

 


[1] Veröffentlicht ist der offene Brief auf der Homepage des 1986 von Überlebenden des nationalsozialistischen Konzentrationslagers Auschwitz, ihren Angehörigen, Freundinnen und Freunde gegründeten Auschwitz-Komitees in der Bundesrepublik Deutschland e.V. (Zugriff am 5.5.2020).

[2] Die Zahl spiegelt den Stand vom 6. Mai 2020 um 17:13 Uhr. (Zugriff am 6.5.2020).

[3] Die entsprechende Gesetzesänderung wurde am 24. Januar 2019 verabschiedet. Vgl. l (Zugriff am 5.5.2020).

[4] Die Petition ist im Internet zugänglich (Zugriff am 5.5.2020).

[5] Die Witwe Elif Kubaşık deren Mann Mehmet am 4. April 2006 in Dortmund ermordet wurde, richtet sich am 30. April 2020 in einem offenen Brief mit verzweifelten Worten an das Gericht: „Das Urteil ist sehr lang. Aber warum haben Sie dann nicht wenigstens aufgeschrieben, wonach Sie uns gefragt haben, was Sie von all den Zeugen, von uns und allen anderen gehört haben, was diese Morde mit uns und unseren Familien angerichtet haben? Warum haben Sie nicht das aufgeschrieben, was herausgekommen ist über die vielen Helfer dieser Gruppe, was herausgekommen ist darüber, wer alles über diese drei Leute Bescheid wusste, wie nah der Staat ihnen war? Warum haben Sie nicht aufgeschrieben, dass man nicht die ganze Wahrheit finden kann, wenn Akten zerstört werden, wenn Zeugen lügen.“ Der vollständige Brief ist online dokumentiert (Zugriff am 5.5.2020).

[6] Die Überlegungen beruhen auf einer Konferenz, die von den Autorinnen anlässlich des 70. Jahrestags organisiert wurde. Deren Ergebnisse sind veröffentlicht in: Alexandra Klei, Katrin Stoll, Annika Wienert (Hg.): 8. Mai 1945. Internationale und interdisziplinäre Perspektiven. Berlin: Neofelis 2016, Einleitung online verfügbar (Zugriff am 5.5.2020).

[7] Ester Bejarano schreibt dies in dem zitierten Offenen Brief (Zugriff am 5.5.2020).

[8] Jean Améry, Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuch eines Überwältigten, Stuttgart: Klett-Cotta 2. Auflage 1977, S. 56.

[9] Ebd., S. 111.

[10] Ebd., S. 146.

[11] Reinhart Koselleck: Der 8. Mai zwischen Erinnerung und Geschichte. In: Rudolf von Thadden / Steffen Kaudelka (Hrsg.): Erinnerung und Geschichte. 60 Jahre nach dem 8. Mai 1945. Göttingen: Wallstein 2006, S. 13–22, hier S. 17.

[12] Yitzak „Antek“ Cukierman schreibt dazu in seiner Autobiographie: „On 8 May 8, 1943, I appealed to the AK for help to take the remnants of the fighters out of the ghetto, but they wanted to finish off not only the Uprising but also the rebels. As far as the AK was concerned, as fighters we weren’t wanted anywhere on Polish soil. I’m not saying there weren’t some who considered the human aspect. But their organization wasn’t built for that. They weren’t an aid society but a military organization. As a military organization we were superfluous for them both in the fighting ghetto, and as fighting groups on the Aryan side of Warsaw. We were also superfluous in a partisan unit – as Jews, at any rate, we were superfluous.” Yitzak Zuckerman: A Surplus of Memory. Chronicle of the Warsaw Ghetto Uprising. Berkley: University of California Press 1993, S. 363.

[13] Dt.: Jüdische Kampforganisation. Die ŻOB war eine bewaffnete jüdische Widerstandsgruppe. Sie wurde am 28. Juli 1942 in Warschau gegründet. Die Pionierorganisationen der Jugendbewegung von Haschomer Hazair, Dror und Akiva gehörten zu den ersten im ŻOB vertretenen Gruppen. Die ŻOB leistete zum ersten Mal im Januar 1943 im Warschauer Ghetto erfolgreich bewaffneten Widerstand gegen die Deutschen. Der Ghettoaufstand, der am 19. April 1943 begann, war der erste Aufstand gegen die deutsche Besatzungsmacht im von Nazi-Deutschland besetzten Europa überhaupt. Die Ghetto-Kämpfer*innen waren fast vollkommen auf sich allein gestellt.

[14] Andreas Hilger: Schwieriges Gedenken. Sowjetische Kriegsgefangene im Erinnerungshaushalt der Bundesrepublik Deutschland nach 1989. In: Alexandra Klei / Katrin Stoll (Hg.): Leerstelle(n)? Der deutsche Vernichtungskrieg 1941–1944 und die Vergegenwärtigungen des Geschehens nach 1989, Berlin: Neofelis 2019, S. 117-136.

[15] Koselleck, Der 8. Mai zwischen Erinnerung und Geschichte, S. 17.

[16] Vgl. Dan Diner: Gegenläufige Gedächtnisse. Über Geltung und Wirkung des Holocaust. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007, S. 43.

[17] Für einen Überblick über die Entwicklung der Erinnerung an den 8. Mai in der BRD vgl. Jeffrey K. Olick: Genre Memories and Memory Genres. A Dialogical Analysis of May 8, 1945 Commemorations in the Federal Republic of Germany. In: American Sociological Review 64,3 (1999), S. 381–402.

[18] Bundespräsident Richard von Weizsäcker: Rede während der Gedenkveranstaltung im Plenarsaal des Deutschen Bundestages zum 40. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs in Europa, 8.5.1985. (Zugriff am 5.5.2020).

[19] Reinhart Koselleck: Die Diskontinuität der Erinnerung. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 47 (1999), S. 213-222, hier S. 215

[20] Jan-Holger Kirsch: „Wir haben aus der Geschichte gelernt“. Der 8. Mai als politischer Gedenktag in Deutschland. Köln: Böhlau 1999, S. 49–50.

[21] Abgedruckt in: Hanjo Kesting, Augenblicke mit Jean Améry. Essays und Erinnerungen. Göttingen: Wallstein 2014.

[22] So die Formulierung Alexander und Margarete Mitscherlichs in ihrem Buch Die Unfähigkeit zu trauern. Hier zit. n.: Ralph Giordano: Die zweite Schuld oder Von der Last Deutscher zu sein. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2000, S. 16.

[23] Richard Overy: 8. Mai 1945: Eine internationale Perspektive. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 65 (2015), S. 3–9, hier S. 8.  (Zugriff am 4.5.2020).

[24] Vgl. ausführlich dazu: Norbert Frei: 1945 und wir. Wie aus Tätern Opfern werden. In: Blätter für deutsche und internationale Politik 3 (2005), S. 356–364.