von Daria Gordeeva

  |  

16. Dezember 2021

Die Nuklearkatastrophe von Tschernobyl erschütterte im Mai 2019 die Welt ein zweites Mal. Die Miniserie Chernobyl[1] rief den Reaktorunfall, der sich am 26. April 1986 nahe der ukrainischen Stadt Prypjat ereignete, ins Gedächtnis und fesselte bei Sky und HBO ein Rekordpublikum an die Bildschirme. Im Westen erntete die britisch-amerikanische Produktion reichlich Lob und Preise – in Russland dagegen stieß die Serie auf teils harte Kritik. Politiker*innen und Medien bezeichneten sie als US-Propaganda, forderten ein Verbot und warfen den Filmemacher*innen vor, den sowjetischen Machtapparat zu diffamieren. Am Beispiel der US-britischen Serie Chernobyl und des russischen Kinofilms Tschernobyl 1986 zeigt der Beitrag, wie an den ehemaligen Fronten des Kalten Krieges um die „richtige“ Geschichtsdeutung gekämpft wird.

 

Der Hype um die Serie Chernobyl und das kollektive Gedächtnis

Nach der Premiere der ersten Folge am 6. Mai 2019 eroberte Chernobyl weltweit die Schlagzeilen und Filmrankings. The Washington Post fand die Serie „faszinierend“[2], The Guardian sie „atemberaubend“ und „meisterhaft“[3]. Die ZEIT sprach von „einem der größten TV-Ereignisse des Jahres“[4], das Filmmagazin Filmstarts kürte Chernobyl gar zu einer „der besten Serien aller Zeiten“[5]. Noch vor der Ausstrahlung der letzten Episoden erreichte die HBO/Sky-Koproduktion (bei Sky Ticket verfügbar) die Spitze der IMDb[6]-Charts und überholte dort die Serienhits Game of Thrones und Breaking Bad. In den Folgemonaten rutschte sie zwar ab, sicherte sich aber dennoch den fünften Platz auf der ‚Top Rated TV Shows‘-Liste[7].

„Höchstwahrscheinlich wird es Emmys und Golden Globes regnen für die ebenso detailversessene wie kunstvoll zugespitzte Inszenierung“,[8] prophezeite die ZEIT und hatte Recht: Chernobyl wurde mit Nominierungen und Preisen überhäuft. Die Serie gewann zehn Emmy Awards, unter anderem in den Kategorien ‚Outstanding Writing‘, ‚Outstanding Directing‘ und ‚Outstanding Limited Series‘. Die Golden Globe-Jury würdigte die Produktion mit zwei Auszeichnungen, neun BAFTA Television-Awards kamen hinzu. Der Hype um Chernobyl hat den Katastrophentourismus in die Geisterstadt Prypjat angekurbelt. Einen Ansturm erlebte auch das stillgelegte litauische Atomkraftwerk Ignalina, das baugleich mit dem Tschernobyl-Kraftwerk ist und deshalb als Drehort diente. In Moskauer Buchläden soll die Nachfrage nach dem Buch der Nobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch, „Tschernobyl: Eine Chronik der Zukunft“, um das Achtfache gestiegen sein.

Bilder, die Chernobyl liefert, „werden sich einbrennen in das kollektive Fernsehgedächtnis der westlichen Welt“,[9] erwartet ein ZEIT-Kritiker und fügt hinzu: „Mazins und Rencks Serie ist nicht zuletzt eine Machtdemonstration des Fernsehens, seiner Bildgewalt und erzählerischen Möglichkeiten.“ Geschichtsnarrative nachhaltig zu etablieren, gelingt besonders dann, wenn die Erzählung auf dem Bildschirm durch den jubelnden Medienchor, Filmpreise und positive Zuschauerbewertungen zu einer realistischen Darstellung der Vergangenheit verklärt wird.[10]

 

Die Sowjetunion durch die Chernobyl-Brille betrachtet

In fünf Episoden von je knapp einer Stunde, schildert Chernobyl die Ursachen und die verheerenden Folgen einer Explosion, die die schlafende Kleinstadt Prypjat am 26. April 1986 erschütterte. Zwei Protagonisten des Films, beide von realen Vorbildern inspiriert, stehen im Mittelpunkt: Waleri Legassow, der Vize-Direktor des Kurtschatow-Instituts für Atomenergie, und Boris Schtscherbina, der stellvertretende Ministerpräsident. Beide sind Mitglieder eines von Gorbatschow einberufenen Untersuchungskomitees, das die Folgen des Reaktorunfalls eindämmen und dessen Gründe klären soll. Unterstützt werden Legassow und Schtscherbina von Ulana Chomjuk, einer Wissenschaftlerin aus dem Institut für Nuklearenergie. Weitere Erzählstränge sind Geschichten von ‚Liquidatoren‘ und ihren Angehörigen, etwa die des Feuerwehrmannes Wassili Ignatenko, der als Ersthelfer zum brennenden Kraftwerk fährt und Tage später an der Strahlenkrankheit stirbt, und seiner Frau Ljudmila, die ihr Kind wenige Stunden nach der Geburt verliert.

Chernobyl rekonstruiert die sowjetische Gesellschaft der 1980er Jahre und versetzt das Publikum in eine Lebenswelt, die außerhalb des Erfahrungshorizontes der meisten Zuschauer*innen liegt. Auf den ersten Blick erscheint die Sowjetunion als ein Staat, in dem gutherzige, ehrliche, beinahe heldenhafte Menschen von einer verlogenen Machtelite regiert werden, die „davon besessen ist, nicht blamiert zu werden“,[11] und bereit ist, die eigenen Bürger*innen für die Geheimhaltung zu opfern. Die Serie konstruiert somit einen Gegensatz zwischen dem Staat bzw. seinen Vertreter*innen (KGB-Agent*innen, Militär- und Parteifunktionären) und Bürger*innen. Den Letzteren wird mit großem Respekt und ausgesprochener Sympathie begegnet, während das ‚System‘ zu einem Feindbild stilisiert wird. Auch wenn einzelne Figuren als „Wiedergänger aus der Mottenkiste des Kalter-Krieg-Films US-amerikanischer Prägung“[12] erscheinen, bleibt das ‚System‘ meist ein abstraktes Konstrukt, was sich in den Begriffen wie „die da oben“, „die Mächtigen“, „der Kreml“, „die Staatsorgane“, „das KGB“ oder „das Zentralkomitee“ zeigt. Einige Charaktere bringen in dieses Gut-Böse-Schema etwas Differenzierung rein.

Auf der Seite des ‚Guten‘ steht das sowjetische Volk: die Einwohner*innen von Prypjat und Nachbarorten, denen die Heimat über Nacht abhandengekommen ist; Wissenschaftler*innen, die unermüdlich für die Wahrheit kämpfen, vor Gefahren warnen und nach Lösungen suchen; sowie ‚Liquidatoren‘, die sich für ihre Mitbürger*innen – und ganz Europa – (meist) freiwillig und bewusst gesundheitsschädlichen, sogar tödlichen Strahlungsdosen aussetzen. Sie graben einen Tunnel unter dem Reaktor, fällen Bäume, evakuieren Menschen, schießen kontaminierte Tiere ab und räumen Graphitblöcke vom Dach eines Reaktorblocks – eine Aufgabe, die selbst bleigeschützte, sowjetische Mondfahrzeuge und westdeutsche Polizeiroboter nicht bewältigen können. „Das ist es, was unser Volk schon immer ausgezeichnet hat, Tausend Jahre der Aufopferung fließen in unseren Adern und jede Generation muss ihr eigenes Leid erfahren“,[13]  sagt der Politiker Schtscherbina. Das Volk scheint also auch in Tschernobyl dazu verdammt, Fehlentscheidungen der ‚Mächtigen‘, ihre Verstöße gegen Sicherheitsvorschriften, fatale Konstruktionsfehler der Reaktoren und die Verharmlosung der Lage auszubaden.

Das ‚Böse‘ schlechthin verkörpert die sowjetische Führung: Apparatschiks mit Duckmäuser-Mentalität, das KGB und der machtbesessene Generalsekretär. „Unsere Macht beruht auf der Wahrnehmung unserer Macht“,[14] sagt der Film-Gorbatschow. Die ‚Bösen‘ versuchen, den Reaktorunfall unter den Tisch zu kehren, rücken Warnungen renommierter Wissenschaftler*innen ins Reich der Spekulationen und leiten die notwendigen Schutzmaßnahmen nicht ein. Anstatt Menschen aus kontaminierten Gebieten unverzüglich zu evakuieren, möchten sie die Stadt absperren und Telefone abstellen, um Panik zu verhindern. Die ‚Bösen‘ sind mehr darüber besorgt, was Die Welt, Los Angeles Times und Daily Telegraph schreiben, als über die Schicksale von Menschen, die der Radioaktivität ausgesetzt sind. Statt tatsächlich gemessener Strahlung kommunizieren sie ins Ausland Propaganda-Werte, tagen in einem atombombensicheren Bunker und veranstalten Schauprozesse mit längst ausgehändigten Urteilen. „Egal, was Sie die Mächtigen fragen, Sie werden nur Lügen hören“,[15] sagt der stellvertretende Chefingenieur Anatoli Djatlow. Chernobyl zeigt eine Machtelite, die sich nicht um „das Wohl und Glück“ der Bürger*innen schert und sich auf KGB-Agenten, Soldaten mit Kalaschnikows und Lügen unter dem Deckmantel von nationalen Sicherheitsinteressen stützt. Das allgegenwärtige KGB – ein System, in dem selbst die Beschatter beschattet werden – verwanzt Arbeitsplätze, Zimmer und Toiletten, droht mit Gewalt und Entlassungen. Die Kritiker*innen werden denunziert, inhaftiert und von ihrer Umwelt abgeschottet. Die Geheimhaltungspolitik und das bewusst fahrlässige Verhalten der ‚Mächtigen‘ scheint letzten Endes mindestens genauso viel Schaden angerichtet zu haben wie die Reaktorexplosion selbst. Die Tschernobyl-Katastrophe ist in der Deutung von Mazin und Renck die ‚Quittung‘ für das jahrelange Lügen – der Preis, den das sowjetische Volk für die Fehler seiner Regierung bezahlen musste.

Systemvertreter: Gorbatschow, Parteifunktionäre und Soldaten. Lizenz: ©Sky UK Ltd/HBO

Ganz starr ist das Gut-Böse-Schema in Chernobyl jedoch nicht. Boris Schtscherbina durchläuft einen Wandel von einem „bis ins Alberne“ überzeichneten Apparatschik[16], hin zu einem, der die Verlogenheit des Sowjetstaates durchschaut und sich gegen das System und den „verdammten Gorbatschow“[17] wehrt. Ein „beschränkt[er] wie starrköpfig[er]“[18] Bürokrat, der in der zweiten Episode den Befehlsverweigerern mit Erschießung oder Wurf aus dem Hubschrauber droht, entwickelt sich im Laufe der Serie zu einem selbstlos kämpfenden Helden, der alles in seinen Kräften – und seiner Macht – stehende tut, um die Folgen der Katastrophe zu beseitigen. Dass ein gewissenhafter Politiker in diesem System jedoch eine Ausnahme darstellt, wird an den Worten des Atomexperten Waleri Legassow, der gemeinsam mit Schtscherbina die Untersuchungskommission leitet, deutlich: „Aus dem ganzen Haufen von gefügigen Trotteln schickt man uns aus Versehen den einzigen fähigen Mann.“[19]

Manchmal verschwimmen die Grenzen zwischen Tätern und Opfern. Der KGB-Schurke ist Beschatter und Beschatteter zugleich, und auch der stellvertretende Chefingenieur Anatoli Djatlow, der in der Nacht der Explosion widersinnige Befehle gab und den Reaktor an den Rand der Zerstörung trieb, erscheint gleichzeitig als ‚Katastrophenverursacher‘ und Sündenbock. Zu Serienbeginn wird Djatlow als „ein arroganter, unangenehmer Mensch“[20] gezeichnet, der Warnungen und Anweisungen verantwortungslos ignorierte und für sein Verbrechen nicht die Haftstrafe verdiene, sondern „den Tod“.[21] Im Laufe der Serie wird jedoch klar, dass Djatlow nur ein Rädchen im Staatsgetriebe ist: Es seien „weit schlimmere Verbrecher am Werk“[22] gewesen als er, nämlich „die da oben“, die jemanden zu Rechenschaft ziehen, grundlegende Konstruktionsmängel vertuschen und den Westen davon überzeugen wollten, dass die Katastrophe lediglich die Folge eines Bedienfehlers war.

 

Die Erfinder der Serie: Craig Mazin (Idee, Drehbuch) und Johan Renck (Regie)

Die Macher der Chernobyl-Serie waren noch Teenager und lebten auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs, als der Reaktor explodierte. Jahre später setzte sich der 1971 in Brooklyn geborene Craig Mazin mit der Katastrophe auseinander – die Geschichte habe ihn „schockiert und nicht mehr losgelassen“.[23] Nach Komödien, etwa den Fortsetzungen von Scary Movie[24] und Hangover[25], hätte ihm als Drehbuchautor wohl kaum jemand einen Katastrophenfilm zugetraut. Mit Chernobyl begab sich Mazin auf neues Terrain und Johan Renck – ein Fan von „dark, hopeless, beautiful tragedies”[26] – stand ihm als Regisseur zur Seite. Renck, geboren 1966 im schwedischen Uppsala, arbeitete mit Madonna, David Bowie oder Beyoncé zusammen und führte Regie in einigen Folgen von Breaking Bad und The Walking Dead. Auch für ihn war Chernobyl eine besondere Erfahrung: „I’ve never done anything based on reality to that extent before,” gab Renck in einem Interview zu.[27]

 

Based on reality"

Wenn ein Schwede und ein US-Amerikaner sich an einen Stoff über die Sowjetunion wagen, vor allem an die dunklen Kapitel ihrer Geschichte, steht fast automatisch der Vorwurf im Raum, ihr Blick sei voreingenommen, das Wissen mangelhaft und die Erzählung unglaubwürdig. Doch Chernobyl überzeugte viele Kritiker*innen mit einem hohen Maß an Authentizität. Einige kürten die Serie gar zu „einer Art Lehrbuch der Geschichte“.[28] Woran liegt das?

„Der naive Glaube, dass Filme historische Welten abbilden könnten, ist zwar von der Wissenschaft längst widerlegt, hat sich beim Publikum aber hartnäckig gehalten“,[29] behaupten Filmwissenschaftler*innen. Chernobyl kann als Paradebeispiel dafür herangezogen werden, wie Filmemacher*innen versuchen, beim Publikum die Illusion zu erzeugen, es handele sich um eine wahrheitsgetreue Abbildung der Vergangenheit und nicht um eine nachträgliche Interpretation.

„Wir wollten die erste westliche Produktion sein, die die Menschen der Sowjetunion so akkurat wie möglich porträtiert“[30] – so der Anspruch Craig Mazins und Johan Rencks. Die beiden ließen die Sowjetunion in den Ex-Sowjetrepubliken Litauen und Ukraine wiederauferstehen und bemühten sich um eine akribische Rekonstruktion des Alltags und der Ereignisse rund um die Katastrophe. Gedreht wurde in der Reaktorhalle des stillgelegten Kraftwerks Ignalina, eines ‚Tschernobyl-Zwillings‘ in Litauen. Die Prypjat-Szenen sind im Stadtteil Fabijoniškės in Vilnius entstanden, der Prypjat durch klare Formen und die Dominanz von Beton und Grautönen architektonisch ähnelt. Auch der Kontrollraum des Kernkraftwerks sei „bis zur Bodenfliese und zu Kratzern an den Möbeln“[31] genau im Studio nachgebaut worden. Auf Flohmärkten in Polen, Russland und der Ukraine suchten Ausstatter*innen „nach Uhren, Brillen und Gürteln, wie sie 1986 getragen wurden“.[32] Auch Autos, Teppiche und Tapeten, Zigaretten, Telefone und Geschirr, sogar echte sowjetische Zeitungen – alles scheint bis ins kleinste Detail zu stimmen.

Alle Hauptfiguren, von einer Ausnahme abgesehen, waren an den Ereignissen tatsächlich beteiligte Politiker*innen, Wissenschaftler*innen und ‚Liquidatoren'. Eine Mischung von Filmszenen und Archivaufnahmen aus Tschernobyl am Ende der letzten Episode betont den Authentizitätsanspruch. Lediglich die Figur von Ulana Chomjuk – und darauf wird im Abspann explizit hingewiesen – sei stellvertretend für all jene Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler geschaffen worden, die dem ‚offiziellen‘ Narrativ widersprachen, sich für die Wahrheit einsetzten und „dafür denunziert, verhaftet und eingesperrt“[33] wurden.

Die Versuche, die Authentizität der Darstellung zu beglaubigen, gingen über die Serie selbst hinaus. „Ich will, dass die Leute merken, dass ich mir Mühe gegeben habe, alles richtig darzustellen“, sagte Craig Mazin.[34] In unzähligen Interviews, Begleit- und Pressematerialien erzählte er von seiner zweieinhalbjährigen Recherche und von den Dreharbeiten. Im „Chernobyl Podcast“ nannte und begründete er Änderungen, die im Filmentstehungsprozess vorgenommen wurden. Auf Twitter veröffentlichte Mazin eine Liste der Quellen: Bücher, Spiel- und Dokumentarfilme, Berichte von Augenzeug*innen und Erinnerungen der ‚Liquidatoren‘, Fotobücher, wissenschaftliche Aufsätze, Regierungsberichte und Zeichnungen. Mazin betonte, dass die Filmcrew größtenteils aus Litauen stammte – und somit aus Menschen bestand, die in der Sowjetunion aufgewachsen waren. Mit den westlichen Schauspieler*innen habe Johan Renck intensiv daran gearbeitet, „sie mental in der damaligen Sowjetunion zu verorten“.[35] „I’m always for authenticity. I want emotional authenticity and I want depiction of authenticity,“[36] konnte der Regisseur nicht oft genug betonen.

Auch wenn einzelne kritische Stimmen nicht ausblieben, bescheinigten mehrere Medien der Serie ein hohes Maß an Authentizität. The Washington Post würdigte „eine sorgfältige, wahrheitsgetreue und wissenschaftliche Darstellung“,[37] The Guardian fand Chernobyls Realitätsnähe geradezu vorbildlich.[38] Auch in Deutschland erntete die Serie reichlich mediale Lorbeeren. Kritiker*innen feierten Chernobyl als eine „wahnsinnig gut recherchierte“[39] Serie, die „auf immens hohen Realismus setzt“,[40] und priesen „die optisch perfekt reproduzierte Sowjetzeit, die grandiose Ausstattung bis hin zu Kostümen und Maske und die exzellente Schauspielkunst“.[41] Die Süddeutsche Zeitung sah in Mazins Katastrophenfilm zwar „ein etwas missglücktes Actiondrama“, fand die Darstellung der Ukraine der 1980er Jahre aber dennoch „recht überzeugend“.[42] 

 

Chernobyl und die russische Geschichtspolitik 

Der Applaus aus dem Westen schien für Chernobyl ein Selbstläufer zu sein: „Ein handwerklich perfekter Katastrophenthriller“[43] bediente weitgehend das Klischee einer durch und durch verlogenen sozialistischen Diktatur und knüpfte zudem an die aktuelle Klimadebatte an. In Russland dagegen spaltete Chernobyl – wie wohl in keinem anderen Land – die Gemüter.

„Ich wollte, dass Menschen in der Ukraine, Russland und Weißrussland Chernobyl sehen und sagen: ‚Ihr habt euch mit uns auseinandergesetzt,‘“ betonte Craig Mazin.[44] Das Publikum schien die Bemühungen geschätzt zu haben: Auf Kinopoisk, dem russischen Pendant zu IMDb, erreichte die Serie 8,9 von 10 Punkten.[45]

Während staatsunabhängige Journalist*innen die Begeisterung westlicher Filmkritiker*innen mehrheitlich teilten, haben regierungsnahe Medien die Serie verrissen. Jede noch so kleine Ungenauigkeit gab Anlass zur Kritik: Isolierfenster in Hochhäusern, ein zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort abgestürzter Hubschrauber, zu schwarzer Rauch über dem Kraftwerk, zu viel Wodka während Gorbatschows Anti-Alkohol-Kampagne, zu viele Soldaten, zu viele Kalaschnikows, zu viel KGB. Damit haben die Staatsmedien versucht, „die Macher der Serie der Schlampigkeit zu überführen“[46] und der britisch-amerikanischen Erzählung die Glaubwürdigkeit abzusprechen. Das Regierungsblatt Rossijskaja gaseta warf Chernobyl „Brainwashing“ und Schablonendenken vor.[47] Argumenty i Fakty, die meistgelesene Wochenzeitung Russlands, sprach von „Gift“ und „ideologischer ‚Verstrahlung‘“ und titelte: „Die Wand der Lügen: Die Chernobyl-Serie – eine hervorragende Propagandawaffe.“[48] Das Boulevardblatt Komsomolskaja Prawda nannte Chernobyl „makellose Propaganda […] amerikanischer Kinomonster“[49] und sah in der Serie gar eine Verschwörung gegen Rosatom, der russischen Agentur für Atomenergie.[50]

Aus geschichtspolitischer Sicht ist die Reaktion staatsnaher Medien nachvollziehbar. Chernobyl kontert den patriotischen „Großmachtmythos“, der die Geschichte Russlands „als eine Abfolge ruhmreicher heroischer Leistungen zeigt“.[51] Jahrelang konstruierte die russische Fernseh- und Kinoindustrie eine idyllische, beinahe „himmlische“ Sowjetunion: ohne Wirtschaftsprobleme, politische Repressionen, Propaganda und Korruption.[52] Filmbilder verankerten diese Vorstellung im kollektiven Gedächtnis mehrerer Generationen und ersetzten peu á peu die eigenen Erinnerungen. Der Journalist Andrej Archangelski verglich dies mit einem „hermetischen Kokon“, in den Russland von seinen Eliten gewickelt wurde. Im Jahr 2018 bedauerten zwei Drittel der Russ*innen den Zerfall der Sowjetunion,[53] im März 2020 hielten gar 75 Prozent die Sowjetära für die schönste Zeit in der Geschichte des Landes.[54]

Der Erfolg von Chernobyl zeigt das Potenzial ausländischer Produktionen, diesen nationalen Kokon zu zerstören: Sie scheren sich nicht um die Zensur oder Tabuthemen und sind nicht auf Fördergelder des russischen Kultusministeriums und Filmfonds angewiesen. Die Unabhängigkeit von der russischen Geschichtsaufarbeitungsindustrie darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch auf der anderen Seite der „erinnerungskulturellen Front“ Diskurswächter sitzen und ihre Rahmenbedingungen setzen.

 

Die Tschernobyl-Katastrophe: Ein umkämpftes Terrain 

Nach der Chernobyl-Premiere mehrten sich Berichte über die „russische Antwort“ auf die britisch-amerikanische Geschichtsaufarbeitung. Kaum ein Medium verkniff sich den Spott über die geplante Produktion des russischen Fernsehsenders NTV, die die Tschernobyl-Katastrophe als einen CIA-Sabotageakt erzählen sollte. Die Premiere wurde mehrmals verschoben und die Serie ist bis dato nicht erschienen. Am 15. April 2021 startete ein anderer Katastrophenfilm in den Kinos: Tschernobyl 1986,[55] mit dem Moskauer Multitalent Danila Koslowski als Regisseur, Schauspieler und Produzent.

Vergleicht man beide Produktionen, kristallisieren sich Unterschiede in den Erinnerungsdiskursen deutlich heraus. Während Chernobyl die Geschichte des Reaktorunfalls zu einem Kampf „zwischen einem der Wahrheit verpflichteten moralischen Gewissen und einem auf Fake News basierenden totalitären Regime“[56] stilisiert, vermeidet Tschernobyl 1986 jede scharfe Kritik am sowjetischen Machtapparat.

Die Angeklagten: Anatoli Djatlow, Viktor Brukanow und Nikolaj Fomin. Lizenz: © Central Partnership (Централ Партнершип).

Koslowskis Film lässt die Explosion als technischen Fehler erscheinen und beschränkt die Suche nach Verantwortlichen auf einen Dialog zwischen zwei ‚Liquidatoren‘: „Warum ist das Ding wirklich hochgegangen? – Wegen der Menschen. – Wegen welcher Menschen genau? – Was spielt das für eine Rolle?“[57] Die HBO-Sky-Serie geht dagegen den Ursachen des Reaktorunglücks nach und stellt (und beantwortet) die Schuld- und Verantwortungsfrage. In der Erzählung von Mazin und Renck tragen Anatoli Djatlow, der Vorschriften missachtete und den Reaktor während eines Sicherheitstests vorsätzlich an den Rand der Katastrophe brachte, sowie seine Kollegen Viktor Brukanow und Nikolaj Fomin nur bedingt Schuld. Dass der Reaktor ausgerechnet nach der Notabschaltung explodierte, lag an einem Konstruktionsfehler, der eine fatale Kettenreaktion auslöste: Die Spitzen der Steuerstäbe, die in den Reaktorkern eingefahren wurden, bestanden aus Graphit, das die Reaktivität beschleunigte. Die Notabschaltung wirkte somit wie ein Zünder – eine Gefahr, von der Djatlow und seine Kollegen nicht ahnten, vor der der Kreml von Wissenschaftler*innen längst gewarnt wurde und die das KGB unter Verschluss hielt. Graphitspitzen waren ein fataler Mangel, der in allen 16 RBMK-Reaktoren in der Sowjetunion existierte und trotz Warnungen nicht ausgebessert wurden, weil „die Staatsorgane […] dann zugeben müss[t]en, dass sie gelogen haben,“[58] sagt Wissenschaftlerin Chomjuk. Stattdessen versuchte die Sowjetführung den Westen davon zu überzeugen, „dass Tschernobyl allein die Folge eines Bedienfehlers war,“[59],um keinen Zweifel zu säen „an der Überlegenheit der sowjetischen Nuklearindustrie.“[60] „Wenn Sie darauf hinaus wollen, dass der sowjetische Staat in irgendeiner Weise den Unfall zu verantworten hat, so muss ich Sie warnen – Sie betreten dünnes Eis“[61], mahnt der Richter Legassow, der den Explosionshergang im Gerichtssaal schildert. Der Wissenschaftler prangert die Geheimhaltung und Lügen an, wird daraufhin von dem KGB verhaftet und praktisch in den Selbstmord getrieben.

 

Chernobyl erzählt die Reaktorkatastrophe als Geschichte des Versagens des Sowjetsystems

Somit erzählt Chernobyl die Reaktorkatastrophe als Geschichte von Heldentum und Selbstaufopferung, aber auch vom menschlichen und systemischen Versagen. Tschernobyl 1986 reiht sich dagegen in die typischen Produktionen russischer Kinoindustrie ein, die einer ernsthaften Beschäftigung mit den Tragödien tendenziell ausweichen, keine intellektuelle Herausforderung wagen und stattdessen großzügig mit Liebes- und Heldengeschichten aufgepeppt werden, für die historische Ereignisse lediglich den Hintergrund bilden.[62]

Geschichte ist ein gigantisches Reservoir von Ereignissen und Personen. Filmschaffende schöpfen daraus verstreute Elemente, nehmen sich einige künstlerische Freiheiten und kreieren ein schlüssiges, sinnhaftes Ganzes – eine Erzählung, ein Narrativ. Der Abgleich des in dem Film Gezeigten mit dem einst in Wirklichkeit Geschehenen tritt dabei in den Hintergrund. Zentral für die Analyse wird die Frage, wer warum und wie Vergangenes auf die Bildschirme und Leinwände bringt – und was das mit dem kollektiven Gedächtnis macht.


 

[1] Johan Renck (Regie): Chernobyl, USA, UK 2019.

[2] Hank Stuever: A grim ‘Chernobyl’ shows what happens when lying is standard and authority is abused, in: The Washington Post, 05.05.2019.

[3] Rebecca Nicholson: Chernobyl: horrifying, masterly television that sears on to your brain, in: The Guardian, 29.05.2019.

[4] Daniel Gerhardt: Der Hype überstrahlt alles, in: DIE ZEIT, 19.06.2019.

[5] Benjamin Hecht: „Chernobyl“ bei ProSieben: So könnt ihr die gesamte Serie schon jetzt sehen, in: Filmstarts, 12.04.2021.

[6] Internet Movie Database (IMDb) ist eine Online-Datenbank für Film- und Fernsehproduktionen und Computerspiele.

[7] Internet Movie Database (IMDb): Top Rated TV Shows.

[8] Gerhardt, Der Hype überstrahlt alles.

[9] Gerhardt, Der Hype überstrahlt alles.

[10] Astrid Erll/ Stephanie Wodianka: Einleitung: Phänomenologie und Methodologie des ‚Erinnerungsfilms‘, in: Astrid Erll, Stephanie Wodianka (Hg.), Film und kulturelle Erinnerung. Plurimediale Konstellationen, Berlin 2008, S. 1-20.

[11] Renck, Chernobyl, Episode 4, 0:56:15.

[12] Kadritzke, Die Luft glüht, die Wunden glitzern.

[13] Renck, Chernobyl, Episode 2, 0:57:00.

[14] Ebd., Episode 2, 0:46:30.

[15] Ebd., Episode 4, 0:23:00.

[16] Kadritzke, Die Luft glüht, die Wunden glitzern.

[17] Renck, Chernobyl, Episode 5, 0:38:35.

[18] Ebd., Episode 2, 0:24:10.

[19] Ebd., Episode 5, 0:37:35.

[20] Ebd., Episode 1, 0:01:20.

[21] Ebd., Episode 1, 0:01:55.

[22] Ebd., Episode 1, 0:01:45.

[23] Drew Schwartz: Warum „Chernobyl“ so erschreckend akkurat ist, in: Vice, 07.06.2019.

[24] David Zucker (Regie): Scary Movie 3, USA 2003; Scary Movie 4, USA 2006.

[25] Todd Phillips (Regie): Hangover 2, USA 2011; Hangover 3, USA 2013.

[26] Leah Mandel: HBO’s Chernobyl Director on Recreating the Disaster’s Agony, in: The Wall Street Journal, 03.05.2019.

[27] Michael Slavin: Johan Renck on the Success of ‘Chernobyl’ & the Status of HBO’s ‘The Last of Us’ – Exclusive Interview, in: DiscussingFilm, 05.06.2020.

[28] Christian Lanzerath/ Frauke Herbst: Chernobyl: Sky zeigt alle Folgen der Miniserie im Stream, in: ComputerBild, 18.06.2019.

[29] Fischer/ Schuhbauer, Geschichte in Film und Fernsehen, S. 42.

[30] Melanie Kroiss: „Chernobyl“: Die Welt am Abgrund, in: Goldene Kamera, 08.04.2021.

[31] Ebd.

[32] Ebd.

[33] Renck, Chernobyl, Episode 5, 01:04:45.

[34] Schwartz: Warum „Chernobyl“ so erschreckend akkurat ist.

[35] Ebd.

[36] Slavin, Johan Renck on the Success of ‘Chernobyl’.

[37] Stuever, A grim ‘Chernobyl’ shows what happens when lying is standard and authority is abused.

[38] Tom Seymour: Chernobyl finale review – when the dust settles, it will be considered a classic, in: The Guardian, 04.06.2019.

[39] Vanessa Schneider: Diese Serie lässt euch das Blut in den Adern gefrieren, in: BR PULS, 22.05.2019.

[40] Schwer zu ertragen, unmöglich zu ignorieren, in: Stern, 12.04.2021.

[41] Elke Böhm: CHERNOBYL: Die neue beste Serie der Welt, in: UN|RUHE, k.D.

[42] Marlene Weiß: Zu viel Drama auf Kosten der Wahrheit, in: Süddeutsche Zeitung, 14.05.2019.

[43] Bernd Fetsch: „Chernobyl“: apokalyptische Bilder zum traurigen Jubiläum, in: Prisma, 12.04.2021.

[44] Schwartz, Warum „Chernobyl“ so erschreckend akkurat ist.

[45] Kinopoisk: Chernobyl (Miniserie 2019).

[46] Maxim Kireev: Hitzige Debatten um TV-Serie „Chernobyl“, in: MDR, 19.06.2019.

[47] Schamil Keraschew/ Dmitrij Sosnowskij: Verdrehter Djatlow: Eine raffinierte Manipulation der Wahrheit in der Serie „Chernobyl“ (übers.), in: Rossijskaja gaseta, 05.06.2019.

[48] Andrej Sidortschik: Die Wand der Lügen: Die Chernobyl-Serie – eine hervorragende Propagandawaffe (übers.), in: Argumenty i Fakty, 30.05.2019.

[49] Alexander Kotc: „Chernobyl“-Serie – ein Film darüber, wie man seine eigene Haut rettet und nicht die Seele (übers.), in: Komsomolskaja Prawda, 27.05.2019.

[50] Dmitrij Steschin: „Chernobyl“-Serie – ein Geschenk für die Rosatom-Konkurrenten? (übers.), in: Komsomolskaja Prawda, 24.05.2019.

[51] Irina Scherbakowa: Sackgasse Sowjetvergangenheit, in: APuZ 16/2021, S. 48-52, hier: S. 51.

[52] Andrej Archangelski: Chernobyl-Serie: Der fremde Spiegel (übers. von Ruth Altenhofer), in: dekoder, 18.06.2019 (Original in: Republic, 01.06.2019).

[53] Lewada-Zentrum: Nostalgie nach der UdSSR, 19.12.2018.

[54] Lewada-Zentrum: Drei Viertel der Russen halten die Sowjetära für die schönste in der Geschichte des Landes, 24.03.2020.

[55] Danila Koslowski (Regie): Tschernobyl 1986, Russland 2020.

[56] Till Kadritzke: Die Luft glüht, die Wunden glitzern, in: Der Spiegel, 14.05.2019.

[57] Koslowski, Tschernobyl 1986, 1:53:00.

[58] Renck, Chernobyl, Episode 5, 0:11:25.

[59] Ebd., Episode 5, 0:08:15.

[60] Ebd., Episode 4, 0:58:30.

[61] Ebd., Episode 5, 0:54:55.

[62] Archangelski, Chernobyl-Serie: Der fremde Spiegel und Ders.: Heldentat statt Tragödie: Warum man in Russland Angst hat, einen ehrlichen Film über Tschernobyl zu drehen (übers.), in: Snob, 07.04.2021.