von Julius Redzinski

  |  

20. Februar 2022

Eine ganz Reihe von Männern – alt und jung – nimmt in einer ehemaligen Sargfabrik, die Anschlussverwendung als Kulturzentrum erhielt, auf einer rosa-goldenen Couch Platz, die allerlei schlüpfrige Assoziation aufruft. Neben diesen unbekannten Laien treten aber auch Vertreter der österreichischen Kulturszene wie der Sänger Stefan Sterzinger und der Lyriker Robert Schindel auf, singend hinter einem Piano oder lesend an einem Tischchen mit der Lupe vor den Augen.

Sie alle folgten einem Casting-Aufruf von Ruth Beckermann, die männliche Protagonisten für einen Dokumentarfilm suchte. Im Fokus stand das 1906 als Privatdruck anonym erschienene Buch Josefine Mutzenbacher oder die Geschichte einer Wienerischen Dirne von ihr selbst erzählt, das als Klassiker der pornographischen Literatur gilt. Herausgekommen ist der Film Mutzenbacher, der seine Weltpremiere in der Sektion Encounters der diesjährigen Berlinale feierte.
Über 100 Minuten werden die Männer in einer Situation, die zwischen Casting, Therapiesitzung und auch Theater changiert, mit Passagen aus dem Buch konfrontiert, zu ihren Positionen zum Text und zur eigenen Sexualität befragt. So lustvoll-schlüpfrig das Wienerisch der Jahrhundertwende ist, so skandalös die Schilderungen des Kindesmissbrauchs und frühkindlicher Sexualität sind, herausgekommen ist dabei am Ende doch ein recht fader Film. 

Die Wahl des Castings als filmisches Vehikel, um Konstruktionen sichtbar zu machen und zu hinterfragen, ist eine sichere. In einigen meiner liebsten Berlinale-Filme wie Matar Extraños und Und dann der Regen  hat es sowohl in dokumentarischer wie fiktionaler Form hervorragend funktioniert. In ersterem zeigen Darsteller, wie sie sich die Rolle der mexikanischen Revolutionäre vorstellen, in letzterem werden die Mechanismen der Herstellung historischer Authentizität offengelegt. In Mutzenbacher wird jedoch nie klar, worauf das Casting letztendlich hinauslaufen sollte. Für welchen Film wurde eigentlich vorgesprochen? Dementsprechend wird die Entscheidung für die vorliegende Form im Presseheft auch als recht kontingent beschrieben. Letztendlich kommt deshalb auch weniger der Eindruck eines Castings bei mir auf – von einigen direkten Bezugnahmen der Protagonisten abgesehen –, stattdessen hat es mehr von Therapiesitzung oder Talkshow.
 

Auch der subversive Anspruch des Films, den Beckermann als Framing an die Hand gibt, wird nicht eingelöst. Im Interview mit Karin Schäfer, das als Hintergrundmaterial zur Verfügung gestellt worden ist, gibt sie zu Protokoll, dass „[…] es auch eine Provokation [ist], die Zuschauer:innen mit diesen Texten zu konfrontieren, gerade in einer Zeit, wo alles mit einer neuen Moral und politischer Korrektheit und Sprachregelungen belegt ist. Natürlich ist es auch eine Provokation in diese Richtung.“[1] Das provozierende Potenzial bleibt dann aber doch sehr im Ungefähren. Wenn Beckermann Mutzenbacher als Kind noch als verbotenen Text aus der zweiten Reihe im Bücherregal oder Nachttisch der Eltern kennengelernt hat, so ist das Buch in Österreich seit den späten 1960er-Jahren frei verfügbar gewesen und wurde zuletzt im vergangenen Jahr in einer kritischen Ausgabe neu herausgegeben.[2] In Deutschland gibt es aufgrund der kinderpornographischen Inhalte eine längere Zensurgeschichte, die sogar ein Bundesverfassungsgerichtsurteil umfasst, jedoch mit der Neubewertung der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien, die der Kunstfreiheit den Vorrang einräumte, im Jahr 2017 endete.[3]

Dies wäre ja durchaus ein lohnender Aufhänger für eine Diskussion gewesen, spielt im Film aber kaum eine Rolle. Und dies obwohl die Episoden, in denen die Männer auf der Couch ihre eigene frühe Sexualität reflektieren, dabei aber selten zu den Schilderungen im Buch in Beziehung setzten, zu den interessanteren Passagen des Filmes zählen.

Hingegen gibt sich einer der älteren Protagonisten dafür her, die gute alte Zeit zu betrauern, in der Männer noch Männer sein und anständig flirten durften. Auf Beckermanns Nachfrage, ob er dies an Beispielen festmachen könne, kommt dann nur der Verweis auf „toxische Männlichkeit“, wobei ja niemand von „toxischer Weiblichkeit“ sprechen würde. Leider hakt Beckermann nicht weiter nach, obwohl es der einzige Moment im Film ist, an dem die von ihr ausgemachte Verschiebung hin zur neuen Moral und politischer Korrektheit mal wirklich direkt zum Thema wird. Der jüngere Mann, der diesen Ausführungen auf dem Sofa lauscht, entgegnet dann aber auch, dass Flirten auch unter heutigen Bedingungen für ihn kein Problem sei. Existiert dieses Problem also vielleicht doch eher in den Vorstellungen einer älteren – Beckermanns? – Generation? Trotz des Anspruchs, diese Facette zu behandeln, geht der Film dieser Spur nicht weiter nach.
 

Gerade wenn einige der Protagonisten, vor allem die jüngeren, bei der Reflexion der Mutzenbacher-Textauszüge auf ihren eigenen Pornokonsum Bezug nehmen, drängen sich Fragen auf, die im Film nicht gestellt werden. Mutzenbacher ist ein Roman, der neben dem Aspekt der Pädophilie ja auch noch zahlreiche weitere Tabus wie Seitensprünge, das Ausnutzen von Machtgefällen, sexuelle Gewalt und Inzest verhandelt. Themen, die in zunehmendem Umfang in Pornos thematisiert werden.[4] Einer der Protagonisten sprach von der „Check-Liste im Kopf“, die aufgrund der durch Pornos gesetzten Erwartungen und Standards nun bei sexuellen Kontakten immer dabei wäre. Da hätte ich mir als Zuschauer doch eine Nachfrage gewünscht, die den Pornokonsum stärker an das Ausgangsmaterial zurückgebunden und hinterfragt hätte. Stattdessen wird ein Mann in seinen Zwanzigern, der sich selbst als „Spätzünder“ beschreibt und den das mit 14 Jahren gesehene Blowjob-Video abgestoßen beziehungsweise amüsiert habe, recht konfrontativ von Beckermann befragt. Seine Position als schwuler Mann, der selbst einen Bezug zu Mutzenbacher herstellt, weil er sich ebenfalls prostituiert hat, könnte doch noch viel mehr Dimensionen hergeben.

Auch wenn einige der Männer über ihre eigenen frühen sexuellen Erfahrungen sprechen, drängten sich mir im Kino weitere Fragen auf – und es war wirklich bedauerlich, dass es diesmal keine Möglichkeiten gab, nach der Vorstellung Fragen an die Regisseurin zu stellen. Im Interview mit Karin Schäfer verweist Beckermann auf den zeitlichen Zusammenhang zwischen dem Erscheinen Mutzenbachers 1906 und den im Jahr zuvor von Freud veröffentlichten Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, in denen er unter anderem erstmals „[…] die kindliche Sexualität benannt und beschrieben […]“ habe.[5]Der Mitherausgeber der kommentierten Mutzenbacher-Ausgabe, Clemens Ruthner, weist darüber hinaus darauf hin, dass die Popularität des Buches ab den späten 1960er-Jahren neben der Studentenbewegung, die es als „[…] fröhlich-anarchistisches Monument gefeiert […]“ habe, nicht zuletzt auf den Kreisen intellektueller Pädophiliebefürworter beruhte.[6] Gezieltere Nachfragen zu den eigenen Erfahrungen im Verhältnis zum Text und zur Faszination des Buches, die bei einigen der Casting-Teilnehmer durchaus zu bemerken war, hätten in diesem Kontext sicher noch interessantere Einsichten zu Tage fördern können.

Diese Kritik hat jedoch vor allem mit meinen hohen Erwartungen an einen Beckermann-Dokumentarfilm zu tun, nachdem sie mit Waldheims Walzer (2018), Jenseits des Krieges (1996) und Die Geträumten (2016) herausragende Beispiele dieses Genres vorgelegt hat. Mutzenbacher hat dabei durchaus auch seine Momente. Beckermann spielt mit dem Objekt der Castingcouch und ihren Fragen an und Regieanweisungen für die Protagonisten gekonnt mit den gegenderten Machtverhältnissen in der Filmbranche, die ja mit vielbeachteten Skandalen wie dem um Harvey Weinstein einer der öffentlichkeitswirksamsten Kristallisationspunkte der #metoo-Bewegung ist. Insbesondere Beckermanns Dirigieren aus dem Off, als sie die hundert Mann als Chor wie in einem klassischen Theaterstück Synonyme für den Geschlechtsverkehr rezitieren lässt, ist in dieser Hinsicht für mich stark gewesen. Ebenso wenn das Unwohlsein der Casting-Teilnehmer auf der Couch offen geäußert wird und sich mir als Zuschauer direkt das Gefühl aufdrängte, dass eine Frau ihr Unwohlsein wahrscheinlich nicht so offen gegenüber einem männlichen Regisseur thematisiert hätte.
 

Auch gelingt es Beckermann in Mutzenbacher, die sprachliche Qualität des Textes herauszuarbeiten, so dass ich das Kino mit dem Gefühl verließ zu verstehen, warum die Entscheidung der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien 2017 zugunsten der Kunstfreiheit ausfiel. Der Film endet auch auf genau dieser Note: Der letzte Protagonist ist ein älterer Herr, der sich sorgt, dass seine Enkelkinder ihren Großvater derlei vulgäre Ausdrücke verwenden sehen könnten. Er gibt an, den Text überflogen und sich insbesondere an einer Episode der jungen Mutzenbacher mit einem Nachbarsjungen im Keller gestoßen zu haben. Beckermann lässt ihn dann eine Passage, in der Mutzenbachers Mutter während ihres außerehelichen Sex spricht, vortragen. Startet er noch zurückhaltend, so er beim Lesen doch mehr und mehr in dem vulgären Wienerisch des Textes auf und liest diesen doch mit einiger Lust, um dann am Ende in die Kamera – und damit wohl auch zu Ruth Beckermann – zu schauen und sich zu vergewissern, ob seine Leistung auch befriedigend war. Solche Mehrdeutigkeiten, welche die Verschränkungen von Text, Drehsituation und Vorstellungen von Sexualität andeuten, gibt es aber nur selten. Die sprachliche, literarische Qualität wird von Beckermann anhand der Auswahl der vorgetragenen Textauszüge aber immer wieder herausgearbeitet. Ähnliches gelang ihr auch schon in Die Geträumten, wenn auch der Briefwechsel zwischen Ingeborg Bachmann und Paul Celan von seinem Charakter her natürlich ein ganz anderer Ausgangstext war.
Schade nur, dass in Mutzenbacher diese Lust an der Sprache nicht ganz und gar in die Kunst des vertiefenden Gesprächs umgemünzt wurde. Dennoch bleibt es ein recht interessanter Film, der viele Zuschauer:innen näher mit einem Text in Kontakt bringen könnte, von dem viele schon gehört und den doch die wenigsten gelesen haben dürften.
 

Mutzenbacher, Regie: Ruth Beckermann, Österreich 2022, Laufzeit: 100 Min.
 

Anm. der Red.: Die österreichische Regisseurin Ruth Beckermann wurde mit Mutzenbacher für den besten Film der Nebensektion Encounters ausgezeichnet

 

 

[1] Karin Schäfer, Interview mit Ruth Beckermann, 13. Januar 2022.
[2] Clemens Ruthner, Melanie Strasser, Matthias Schmidt (Hrsg.), Josefine Mutzenbacher. Kritische Ausgabe nach dem Erstdruck mit Beiträgen von Oswald Wiener, Wien 2021.
[3] Vgl. o.A., Jahresrückblick 2017, in: BPjM Aktuell, Nr. 1 (2018), 16-18, 18.
[4] Vgl. o.A., Online porn websites promote 'sexually violent' videos, in: bbc.com, abgerufen am 15. Februar 2022.; Aurora Snow, ‘Fauxcest’: The Disturbing Rise of Incest-Themed Porn, in: thedailybeast.com, abgerufen am 15. Februar 2022.; Luke O’Neil, Incest Is the Fastest Growing Trend in Porn. Wait, What?, in: esquiere.com, abgerufen am 15. Februar 2022.
[5] Karin Schäfer, Interview mit Ruth Beckermann, 13. Januar 2022.
[6] Vgl. Manfred Klimek, Mutzenbacher. Mehr als irgendein Schmuddelbuch, in: Wiener Zeitung, 13. Januar 2022, abgerufen am 15. Februar 2022.