von Elisabeth Kimmerle

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17. Juni 2022

Der Dokumentarfilmessay Aşk, Mark ve Ölüm (‚Liebe, D-Mark und Tod‘) von Cem Kaya erzählt westdeutsche Zeitgeschichte und Migrationsgeschichte durch das Prisma der türkischen Musikszene. Inspiriert von dem gleichnamigen Gedicht des Schriftstellers Aras Ören, das 1982 von der Band Ideal auf Türkisch eingesungen wurde, gliedert der Titel den Film in drei Kapitel: Liebe, D-Mark und Tod. Die Episoden beleuchten verschiedene Phasen türkischer und kurdischer Musikproduktion in der Einwanderungsgesellschaft von den 60er-Jahren bis zur Jahrtausendwende: Liebe erzählt von der Sehnsucht der sogenannten Gurbet Türküleri (‚Lieder aus der Fremde‘) in den 60er- und 70er-Jahren; D-Mark von der kommerziellen Unterhaltungsmusik der Gazino-Kultur in den 80er-Jahren; Tod vom türkischen Hip-Hop, der in der von Rassismus und Pogromen geprägten Nachwendezeit in Deutschland entstand.

Zugleich spiegeln sich in den drei Episoden die Phasen der Migration aus der Türkei wider. Das Kapitel Liebe widmet sich der Arbeitsmigration, die mit dem Anwerbeabkommen zwischen der Türkei und der Bundesrepublik beginnt und mit dem Anwerbestopp 1973 endet. Die Arbeitsmigrant*innen brachten ihre Musik aus der Türkei mit nach Deutschland, die sich hier, weitestgehend unbemerkt von der Dominanzgesellschaft, zu einem eigenständigen Genre weiterentwickelte. Gurbet, die Erfahrung des Lebens in der Fremde, brachte zahlreiche Lieder über Heimweh, die Sehnsucht nach den Zurückgelassenen und die Lebensbedingungen in Deutschland hervor. Die als ‚Köln Bülbülü‘ (‚Nachtigall von Köln‘) bekannte Sängerin Yüksel Özkasap, die in den 60er-Jahren als Arbeiterin nach Deutschland kam und dort von der Plattenfirma Türküola entdeckt wurde, verlieh den Gefühlen der Arbeitsmigrant*innen eine Stimme und gewann mehrere Goldene Schallplatten.

Filmstill: Sängerin Yüksel Özkasap aus Aşk, Mark ve Ölüm  (‚Liebe, D-Mark und Tod‘) von Cem Kaya © filmfaust / Film Five

Die Gurbet Türküleri kritisierten aber auch die schweren Arbeitsbedingungen und die Diskriminierung der Arbeitsmigrant*innen in deutschen Fabriken. „Guten Morgen Mayistero, ich arbeite nicht für geringen Lohn”, sang etwa der Kölner Volkssänger Aşık Metin Türköz halb auf Deutsch, halb auf Türkisch. Türköz kam 1962 als Schlosser nach Köln, um bei Ford zu arbeiten, wo er nach fünf Jahren kündigte und neben Yüksel Özkasap zum meistverkauften Star des Kölner Kassettenlabels Türküola wurde. In den 60er- und 70er-Jahren veröffentlichte Türköz 13 Kassetten und 72 teilweise zweisprachige Singles, die sich millionenfach verkauften. Seine Protestlieder greifen die Ausgrenzungserfahrungen der Arbeitsmigrant*innen ironisch auf. So heißt es in seinem Stück über einen Streit zwischen dem Vorarbeiter und dem Arbeiter auf Deutsch: „Du sollst malochen wie ein Schwein. Wenn dir das nicht passt, dann mach, dass du nach Hause kommst, hol‘ dir die Papiere“. Der Arbeiter antwortet spöttisch auf Türkisch: „Ach ja? Das wollen wir ja mal sehen. Ich bin für das Abenteuer gekommen, Geld bedeutet mir nichts. Du ungehobelter Deutscher, nicht einmal deine Frau hört dir zu.”

Filmstill: Kölner Volkssänger Aşık Metin Türköz aus Aşk, Mark ve Ölüm (‚Liebe, D-Mark und Tod‘) von Cem Kaya © filmfaust / Film Five

Aşk, Mark ve Ölüm lebt von dem dichten Material, das der Regisseur Cem Kaya mit seinem Team in den Archiven der öffentlich-rechtlichen Sender und in Privatarchiven gefunden hat. Der Film ist gespickt mit unglaublichen Szenen aus den Archiven und den Interviews, die er mit den Musiker*innen und Kenner*innen der Musikszene geführt hat. Kaya verwebt alte Live-Aufnahmen von Konzerten und aktuelle Interview-Passagen mit Archivaufnahmen westdeutscher Zeitgeschichte. Er überblendet den herablassenden Blick auf „die Gastarbeiter, so emsig, so fleißig, so gut” aus einem Fernsehauftritt Rudi Carrells mit Aufnahmen des Pierburg-Streiks, bei dem migrantische Arbeiterinnen 1973 erfolgreich die Abschaffung der Leichtlohngruppe und die gleiche Bezahlung von Frauen und Männern durchsetzen. Entgegen dem lange dominierenden Narrativ der duldsamen, unpolitischen ‘Gastarbeiter’ widersetzten sich Migrant*innen, das zeigt der Film, durchaus der Ausgrenzung und Ausbeutung. Neben wilden Streiks und Demonstrationen war auch die Protestmusik der 60er- und 70er-Jahre ein Ventil der politischen Meinungsäußerung. Der berühmte Anadolu-Rock-Sänger Cem Karaca sang in seinen Exiljahren in Deutschland explizit auf Deutsch, damit auch das deutsche Publikum die gesellschaftskritischen Texte versteht. Dass er ähnlich wie die Türküola-Stars in der öffentlichen Wahrnehmung kaum Gehör fand, zeugt vom Desinteresse und der Ignoranz der Dominanzgesellschaft gegenüber migrantischer Kultur in diesen Jahren.

Wie in der Zeitgeschichte verlaufen ebenso im Dokumentaressay die Zäsuren nicht trennscharf, vielmehr gehen die Perioden ineinander über und bestehen gleichzeitig nebeneinander. 1973 bricht mit dem Anwerbestopp eine neue Phase der Migrationsgeschichte an. Anders als von der deutschen Regierung intendiert, verstärkt der Anwerbestopp die Migration aus der Türkei, da viele Arbeitsmigrant*innen ihre Familie nach Westdeutschland holen, bevor die Einreisebestimmungen verschärft werden. Deutschland wird „aus Versehen zum Einwanderungsland”, wie es im Film heißt. Damit steigt der Bedarf an türkischer Popkultur. Die Episode D-Mark thematisiert die Entstehung kommerzieller türkischer Unterhaltungsmusik im Westdeutschland der 80er-Jahre. Hochzeiten wurden zum sozialen und kulturellen Treffpunkt, die Hochzeitsmusiker diversifizierten ihr musikalisches Repertoire, weil die Migrant*innen aus allen Regionen der Türkei kamen. Mit bisher unveröffentlichten Aufnahmen von Hochzeiten aus Privatarchiven bietet dieses Kapitel einen seltenen Einblick in die migrantische Alltagskultur und Freizeit. Auch diese Seite migrantischen Lebens in Deutschland widerspricht dem Stereotyp des genügsamen Arbeitsmigranten in der Opferrolle. Hier geht es um Spaß und Vergnügen, Exzess und exzentrische Künstler*innen. Ein zentraler Ort der migrantischen Musikszene dieser Jahre ist der ‚Türkische Basar‘ im damals stillgelegten U-Bahnhof Bülowstraße. Dort verkaufen tagsüber Händler Kassetten und Importgüter aus der Türkei. Abends geben Stars schillernde Livekonzerte im Gazino.

Dann kippt das Bild. Die 80er-Jahre sind geprägt von restriktiver Migrationspolitik sowie wachsendem Rassismus und Ausgrenzung von Migrant*innen in der westdeutschen Gesellschaft. Es kommt vermehrt zu Angriffen auf Migrant*innen. In schnellen Schnitten reiht der Regisseur Cem Kaya Nachrichten über rassistische Anschläge von Duisburg bis Hoyerswerda aneinander. Nach der Wende eskaliert die Gewalt. Die Brandanschläge in Mölln, bei dem 1992 Bahide Arslan, Yeliz Arslan und Ayşe Yılmaz starben, und in Solingen, bei dem 1993 Hatice, Hülya und Saime Genç, Gürsün İnce und Gülüstan Öztürk starben, markieren eine Zäsur. Die dritte Episode ‚Tod’ rekonstruiert die Entstehung des migrantischen Hip-Hop als Reaktion auf Rassismus und Diskriminierung in Deutschland. Rap wird zum Vehikel für die Wut der migrantischen Jugendlichen und zum transnationalen Erfolg. Mitte der 90er-Jahre werden die Rapper der Gruppe Cartel mit ihrem Album in der Türkei zu Superstars, die Fußballstadien füllen.

Was die Episoden verbindet und wie ein roter Faden durchzieht, ist Rassismus und die Diskriminierung türkeistämmiger Migrant*innen in Deutschland. Diese Erfahrungen werden zum Motor für die künstlerische Verarbeitung, mit der sich migrantische Musiker*innen zu unterschiedlichen Zeiten mit unterschiedlichen Mitteln den Fremdzuschreibungen und der Ausgrenzung widersetzen.

Aşk, Mark ve Ölüm zeigt anhand seines reichen und mehrsprachigen Archivmaterials die Vielschichtigkeit migrantischer Erfahrungen und Popkultur, die von der Dominanzgesellschaft weitgehend ignoriert wurde. Der Dokuessay, der auf der Berlinale den Panorama Publikums-Preis gewann, verdeutlicht, dass die türkische und kurdische Musikszene in Deutschland politisch, heterogen und genuin transnational ist. Musikgenres kamen mit den Migrant*innen der ersten Generation nach Deutschland und wurden dort an die lokalen Gegebenheiten adaptiert. Durch kreatives Codeswitching und die Thematisierung migrantischer Lebensrealität entstanden in Deutschland eigenständige türkische und kurdische Musikstile, die es in dieser Form in der Türkei nicht gab. Zugleich gelangte die Musik in die Türkei, seien es Platten von Yüksel Özkasap, die Arbeitsmigrant*innen in den Sommerferien ihren Verwandten in den Dörfern schenkten oder türkisch-deutscher Rap, der die Entstehung des Hip-Hop in der Türkei beeinflusste.

Der Film macht betroffen, wütend – und begeistert. Mit seiner furiosen Geschichte der türkischen Popkultur in Deutschland erzählt Cem Kaya nicht nur die Migrationsgeschichte aus der Türkei über die Selbstrepräsentation der Künstler*innen und zeigt damit, dass migrantische Lebenswelten viel heterogener waren als die Rolle, die Migrant*innen in Deutschland zugestanden wurde. Er birgt damit auch ein kulturelles Erbe der Bundesrepublik, das bisher viel zu wenig Beachtung gefunden hat.

 

Aşk, Mark ve Ölüm

Deutschland 2022. Regie: Cem Kaya; Drehbuch: Cem Kaya und Mehmet Akif Büyükatalay. 96 Minuten

Ab dem 29. September im Kino