Das erste, was man in Georgien am 24. Februar nach Russlands Angriff auf die Ukraine dachte, war: Fängt jetzt auch der Krieg gegen Georgien wieder an? Sind wir das nächste Land?
Auch in Georgien fanden mehrere Demonstrationen gegen den Krieg statt und die georgische Bevölkerung steht der Ukraine bei, aber die angespannte Situation ist auf andere Art zu spüren. Die Menschen solidarisieren sich nicht nur aus Mitleid mit der ukrainischen Bevölkerung, sondern vor dem Hintergrund ihrer eigenen Erfahrungen. Der Krieg im August des Jahres 2008 hat Spuren hinterlassen.
Vor ein paar Tagen rief mich eine Verwandte an. Wir telefonierten lange, in ihrer Stimme lag Angst. Sie ist selbst vor dreißig Jahren Opfer der russischen Aggression geworden und musste fliehen. Als Person mit Migrationshintergrund kennt sie die Gefühle, die sie seit ihrer Flucht nie verlassen haben. „Ich habe mit meinem Cousin telefoniert, er musste damals Georgien auch verlassen und ist nach Donezk gegangen. Nach dem Krieg 2014 musste er nochmal fliehen und ist nach Charkiw gezogen.Jetzt musste er zum dritten Mal sein Haus verlassen und ist jetzt in Kyjw. Ich habe Angst, dass ich nochmal mein Zuhause verlassen muss”, erzählte sie mir.
Warum Russland immer die Verantwortung trägt
In einer Pressekonferenz wandte sich Wolodymyr Selenskyj an die westlichen Staaten wegen ihrer mangelnden Bereitschaft, eine Flugverbotszone über der Ukraine einzurichten. Dabei erwähnte er den Fehler, der vor Jahren gemacht wurde und ohne den dieser Krieg hätte verhindert werden können. „Wenn wir nicht mehr sind, dann werden, Gott bewahre, Lettland, Litauen, Estland, Moldau und Georgien die nächsten sein. Glauben Sie mir" , so Selenskyj[1].
Im Jahr 2019 hatte der Selenskyj-Berater Oleksiy Arestovych in einem Interview den Krieg vorausgesagt und meinte, dass es zu 99,9 % sicher sei, dass es zu einem Krieg kommen würde: „2020 und 2022 sind die kritischsten Jahre.“, sagte Arestovych[2]. Er begründete dies mit dem Interesse Russlands, die Ukraine zu schwächen, um sie für einen NATO-Beitritt uninteressant zu machen.
Der Prozess der Destabilisierung der Ukraine, der schließlich in einen Angriffskrieg mündete, hat bereits 2007 bei der Münchner Sicherheitskonferenz begonnen, als sich der russische Präsident an die Delegierten wandte und den Versuch der Nato-Osterweiterung als „provozierenden Faktor“ für Russland bezeichnete. Damals fragte Putin, gegen wen sich diese Erweiterung richtete und machte deutlich: „Wir treten eindeutig für die Festigung des Regimes der Nichtweiterverbreitung ein”[3].
Im April 2008 fand der NATO-Gipfel in Bukarest statt – für Putin ein weiterer Grund , Georgien anzugreifen. Georgien und die Ukraine hatten gehofft, dem Aktionsplan für die NATO-Mitgliedschaft beizutreten, doch obwohl die NATO-Mitglieder die Beitrittsbestrebungen beider Länder begrüßten und sich einig darin waren, dass diese Länder Mitglieder der NATO werden sollten, beschlossen sie im Dezember 2008, ihren Antrag zunächst zu überprüfen. Unter den Ländern, die gegen den Beitritt stimmten, waren auch Deutschland und Frankreich.
Wer hat Interesse an diesem Krieg?
Die Folgen des fünftägigen Krieges, der das Gebiet Südossetien in Georgien zerstörte und in dessen Verlauf mehreren Zivilisten getötet wurden, reichen bis in die Gegenwart. Russland hält dieses Gebiet seit vierzehn Jahren besetzt und verschiebt die Grenzen immer wieder ins Landesinnere. Nur vierzig Kilometer entfernt von der Hauptstadt Tbilisi stehen russische Truppen und noch immer werden Menschen bei der Überquerung der sogenannten "Grenze" erschossen.
Bevor es zum Augustkrieg des Jahres 2008 kam, hatte die damalige georgische Regierung mehrere Gespräche und Treffen mit den westlichen Politiker*innen organisiert. In ihren Memoiren berichtet beispielsweise die ehemalige Außenministerin der USA, Condoleezza Rice, von einem Treffen mit dem damaligen Präsidenten Micheil Saakaschwili. Im Laufe dieses Gesprächs bat sie ihn, sich nicht von den Russen provozieren zu lassen: „Trotz der einseitigen georgischen Waffenruhe zu Beginn des Tages setzten die südossetischen Rebellen den Beschuss ethnisch georgischer Dörfer in und um die Hauptstadt Zchinwali fort. Daraufhin begann das georgische Militär mit einer schweren Militäroffensive gegen die Rebellen”[4], so beschreibt Rice den Kriegsbeginn in Erinnerungen.
Heidi Tagliavini, Leiterin der vom Europäischen Rat eingesetzten unabhängigen Untersuchungskommission zum Konflikt zwischen Russland und Georgien, machte in ihrem Bericht Georgien für den Kriegsausbruch verantwortlich. Obwohl Tagliavini Russland für eine unverhältnismäßige Reaktion gegen Georgien kritisierte und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Nachgang des Krieges, Russland mehrerer Menschenrechtsverletzungen gegen Georgien für schuldig befand, wird seitdem immer wieder diskutiert, ob nicht Georgien auch ein Interesse daran hatte, einen Krieg zu beginnen.
Auch Georgien wollte, ähnlich wie die Ukraine vor dem Krieg diplomatische Verhandlungen aufnehmen und sich unabhängig von russischer Energie machen. Russland indes antwortete mit einem Angriffskrieg, es geschah also das, was wir heute in der Ukraine beobachten.
Was als Provokation gilt, bestimmt Putin
Das Putin-Regime hat eigene Pläne, es spielt keine Rolle, ob man sich provozieren lässt oder auf seine Invasion antwortet – dies ist derzeit in der Ukraine zu beobachten. Als Russland im Februar die sogenannten "Volksrepubliken" Donezk und Luhansk anerkannte, reagierte Selenskyj zurückhaltend. Er kündigte an, dass die Ukraine einen friedlichen und diplomatischen Weg wählen und auf die Provokation nicht antworten, aber auch kein Territorium aufgeben würde. Dennoch griff Russland die Ukraine am 24. Februar an.
Seit über vier Monaten ist Krieg in der Ukraine. Es ist ein Krieg, der vielmehr als Völkermord bezeichnet werden sollte. Hier handelt es sich nicht um einen symmetrischen Kampf zwischen zwei Militärs. Nachdem die Fotos und Videos aus Butscha im Internet zu sehen waren, zeigten sich Politiker*innen schockiert. “Butscha-Massaker”, “Gräueltaten in Butscha” hieß es in den Medien. Doch waren diese Geschehnisse, die die brutale Seite des russischen Regimes zeigen, wirklich so unvorstellbar?
Die Geschichte nach der Auflösung der Sowjetunion deutet auf etwas anderes hin. Für die Antwort auf diese Frage braucht man nicht allzu weit in die Vergangenheit zu schauen. Die russische Aggression begann bereits in den 1990er-Jahren, als 1992-93 im Gebiet Abchasien ein Krieg ausbrach, der mit der Besetzung durch russische Truppen endete. Die Bilder von damals sind nahezu identisch mit Bildern aus Butscha: Leichen auf der Straße, gefolterte Körper und Berichte über Vergewaltigungen.
Russlands Kriegsverbrechen haben nicht erst im Februar 2022 begonnen, sie haben eine dreißigjährige Geschichte. Selbstverständlich war die politische Lage sowohl im Kaukasus als auch in den Westen damals eine andere, und man sollte das auch berücksichtigen. Aber die brutale Vorgehensweise der russischen Seite war schon vor dreißig Jahren zu beobachten.
Die Europäische Union hat vor Beginn des Krieges verschiedene Maßnahmen ergriffen und Sanktionen verhängt, viele westliche Staaten haben seit Beginn des Krieges weitere Sanktionen gegen Russland angekündigt, und mehrere internationale Unternehmen haben ihre Arbeit in Russland eingestellt. Die georgische Bevölkerung schaut derzeit hoffnungsvoll in Richtung EU. Für sie ist es lebenswichtig, Russland geschwächt zu wissen.
Den Georgier*innen ist klar, dass Russland diesen Krieg nicht gewinnen darf, schon allein damit Georgien nicht das nächste Land ist, das angegriffen wird.
[1] WELT Nachrichtensender, UKRAINE-KRIEG: "...bis hin zu Berliner Mauer, glauben Sie mir!" Die Warnung von Präsident Selenskyj, (Ab Min.15:00) 04.03.2022.
[2] Berliner Kurier, Ukraine-Orakel sagte Krieg vor drei Jahren genau voraus, 29.03.2022.
[3] AG Friedensforschung, Rede des russischen Präsidenten Wladimir Putin auf der 43. Münchner "Sicherheitskonferenz" in deutscher Übersetzung, 14.02.2007.
[4] Eurasianet.org, Rice: Saakashvili Let Russians Provoke Him Into Starting War, 15.11.2011.