von Martin Schulze Wessel

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24. August 2022

Diesem Beitrag liegt die diesjährige Droysen-Lecture des Instituts für Geschichtswissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin zugrunde. Der Text erschien erstmals am 25. Juli 2022 in der F.A.Z., in der Rubrik: Die Gegenwart (Politik), S. 6.

Mit freundlicher Genehmigung © Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt. Zur Verfügung gestellt vom Frankfurter Allgemeine Archiv.


 

Nach dem 11. September 2001 veröffentlichte der damalige Außenminister Joschka Fischer (Grüne) ein Buch mit dem Titel "Die Rückkehr der Geschichte". Mit größerem Recht könnte man heute, nach dem 24. Februar, von einer Rückkehr der Geschichte sprechen. Gebiets- und Machtansprüche werden von Wladimir Putin historisch begründet, wie es in Europa lange unvorstellbar schien. Für Deutschland hat dieser Umbruch eine besondere Bedeutung: Mit dem russischen Angriff auf die Ukraine hat Deutschland gewissermaßen eine Wette verloren, die nur begründbar war, wenn man Geschichte ausblendete.

Die politische Ratio der deutsch-russischen Beziehungen bestand jahrzehntelang darin, sich sehenden Auges und ohne Not von Russland abhängig zu machen. Dahinter stand die Erwartung, dass daraus eine gegenseitige Abhängigkeit entstünde: Devisen gegen Gas. Würde Russland die enormen Vorteile der Wirtschaftsverflechtung für ein militärisches Abenteuer preisgeben? Würde es jemals die immensen Investitionen in Gasleitungen einfach abschreiben? Den politischen Entscheidungsträgern in Berlin erschien dies so unwahrscheinlich, dass sie die Wette erhöhten und die Verteidigungsfähigkeit Deutschlands über viele Jahre hinweg schwächten.

Die hochriskante und am Ende gescheiterte Politik basierte auf der Annahme, es mit einem Akteur zu tun zu haben, der den Regeln von "rational choice" folgte. Nicht erkannt wurde, dass Putin sich an historischen Vorstellungen russischer und sowjetischer Dominanz orientierte, die wiederherzustellen größte politische und wirtschaftliche Opfer rechtfertigte. Der russische Schriftsteller Wiktor Jerofejew hat von einer "zweiten Wirklichkeit" gesprochen, in der Putin lebt, eine Wirklichkeit, die sich mit den herkömmlichen Vorstellungen rationalen Verhaltens nicht erfassen lässt, weil sie in der historischen Tiefe verortet ist. Diese "zweite Wirklichkeit" ging in das Kalkül der deutschen Wette nicht ein, denn sie passte nicht zu den ökonomisch geprägten Vorstellungen Berlins.

Der 24. Februar wirft ein grelles Licht auf das Defizit an historischer und kulturwissenschaftlicher Informiertheit der deutschen Politik. In der Geschichtswissenschaft, im historisch informierten Journalismus und Think Tanks wie der Liberalen Moderne wurden die Risiken der deutschen Russlandabhängigkeit durchaus erkannt. Die "Rückkehr der Geschichte" könnte nun die Stunde der Historiker und Historikerinnen sein. Tatsächlich waren insbesondere die Osteuropa-Spezialisten in den ersten Wochen nach dem Beginn der Invasion medial sehr präsent. Doch obwohl die historische und kulturelle Bedeutungsschicht der russischen Politik nun auf der Hand liegt, gelten sie nicht als Experten wie etwa die Virologen in der Pandemie.

Der Krieg treibt die öffentliche Debatte voran, die nach historischer Einordnung sucht, etwa des Charakters des russischen Regimes und des Kriegs. In welchem Verhältnis steht Russland zur zivilisierten Welt? Die Konzepte, mit denen über Russlands Krieg gesprochen wird, entscheiden über Inklusion oder Exklusion Russlands. Sie betreffen aber auch das eigene, auf Deutschland bezogene Geschichtsverständnis.

Ist Russland faschistisch? Und Putin ein Wiedergänger von Hitler? Solche Einordnungen stellen die Vorstellungen von der Singularität der Verbrechen NS-Deutschlands und damit die Zeitgeschichtsschreibung in Deutschland in Frage. Den Hitler-Putin-Vergleich zog zuerst der Historiker Heinrich August Winkler in der "Zeit", ihm folgten viele Publizisten. Seit Längerem wird in der Fachdiskussion und in der Öffentlichkeit auch der Faschismusbegriff auf Russland bezogen. Das Problem liegt dabei im Doppelcharakter dieses Begriffs: Faschismus ist eine eingeführte wissenschaftliche Kategorie und zugleich ein Schlagwort, mit dem Abscheu demonstriert werden soll. Für den Freiburger Zeithistoriker Ulrich Herbert hat Russland mit dem Faschismus nicht mehr gemeinsam als andere zeitgenössische Diktaturen. In der "taz" formulierte er eine Position, die als repräsentativ für die deutsche Zeitgeschichte gelten kann. Putins Russland habe "mit Faschismus nichts zu tun".

Wenn man die politische Kultur Russlands genauer analysiert, was nur mit entsprechenden Sprachkenntnissen möglich ist, erscheint diese Feststellung nicht zwingend. Die französische Historikerin und Politikwissenschaftlerin Marlène Laruelle, eine der besten Kennerinnen der ideologischen Landschaft Russlands, hat ihr im Jahr 2021 ein ganzes Buch der Frage gewidmet: "Is Russia fascist?" Schon ein Jahr vor der Invasion erkannte sie in der militärischen Subkultur und im Mythos einer "Nation in Waffen" ein Merkmal, das Russland mit den faschistischen Regimen und Bewegungen des 20. Jahrhunderts verbindet.

Darüber hinaus sind weitere Merkmale zu nennen, etwa Putins enge Verbindung mit der russischen orthodoxen Kirche, die seinen Krieg rechtfertigt und ideelle Grundlage seiner Herrschaft liefert, was Russland in die Nähe von klerikal-faschistischen Regimen rückt. Kennzeichnend für diese Allianz von Kreml und Altar ist die Dämonisierung von LGBT-Bewegungen, wobei der äußere Feind, der verkommene Westen oder "Gaj-ropa", mit den inneren Feinden, den Schwulen, Leben und Transsexuellen innerhalb Russlands, assoziiert werden.

Seit den 2000er-Jahren stellen die russischen Staatsmedien den Westen allgemein als Ort der Dekadenz und des Sittenverfalls einem scheinbar unverfälschten Russland gegenüber, zugleich werden LGTB-Personen im eigenen Land stigmatisiert. Strukturell ist die Homophobie mit ihrer Konstruktion eines inneren und äußeren Feinds den Diskursmustern des Antisemitismus ähnlich, der allerdings in der offiziellen russischen Propaganda keine Rolle spielt. Es fehlen auch andere Kriterien des Faschismus wie die permanente Mobilisierung der Massen und die Fähigkeit, ein utopisches Ideal der Erneuerung zu propagieren.

Die Debatte über den Charakter des russischen Regimes zeigt jedenfalls, dass das Phänomen des Faschismus in die Gegenwart gerückt ist. Ernst Nolte hatte 1963 in seinem Werk über den "Faschismus in seiner Epoche" eine vergleichende Analyse der Bewegungen Hitlers, Mussolinis und der Action française vorgelegt. Sie gab schon im Titel zu erkennen, dass der Faschismus ein Phänomen einer eigenen Epoche, das heißt einer vergangenen, abgeschlossenen Zeit, sei. Dies erscheint heute nicht mehr sicher.

Eine weitere Verunsicherung der Geschichtswissenschaft ist mit dem Begriff des Vernichtungskriegs verbunden. Nachdem die rasche Einnahme der ukrainischen Hauptstadt Kiew gescheitert war, hat die russische Kriegsführung einen extrem grausamen Charakter angenommen. Butscha ist dafür zum Symbol geworden. Die Zerstörung ganzer Städte und Dörfer durch russische Artillerie prägt seitdem das Kriegsgeschehen. Trotzdem weist Herbert den Begriff des Vernichtungskriegs zurück und will den Begriff dem Krieg von Nazideutschland in der Sowjetunion vorbehalten. "Das Ziel war es, alle jüdischen Teile der Bevölkerung und größere Teile der slawischen Bevölkerung zu ermorden und das Land zu zerstören. Das ist in unfassbar hohem Maße gelungen, Millionen Menschen sind getötet worden. Das meint der Begriff Vernichtungskrieg."

Wendet man den Begriff des Vernichtungskriegs auf die russische Invasion in die Ukraine an, stellt man jedoch keineswegs die Einzigartigkeit des Holocausts in Frage, auch nicht die größere Dimension der Zerstörung von Städten und Dörfern in Osteuropa durch die deutsche Wehrmacht. Doch wie soll man einen Krieg bezeichnen, der zivile Objekte, darunter auch Krankenhäuser und Kindergärten, nicht als Kollateralschäden auslöscht, sondern gezielt angreift? Die Stadt Mariupol existiert heute nicht mehr. Russlands Krieg ist über die "normale" militärische Gewaltdynamik hinaus auf Vernichtung angelegt, er ist ein Vernichtungskrieg. Es gibt im Deutschen dafür kein besseres Wort.

Damit verwandt ist die Frage, ob es sich bei der russischen Kriegsführung um einen Genozid handelt. Wie der Faschismusbegriff ist auch der Begriff des Völkermords oder des Genozids als wissenschaftliches Konzept und als politisches Schlagwort doppeldeutig. Wie beim Begriff des Vernichtungskriegs schwingt der Vergleich zum Zweiten Weltkrieg unweigerlich mit. Der Genozidbegriff wurde 1948 gerade mit der Absicht in das Völkerrecht eingeführt, um Verbrechen, die mit dem Holocaust nicht gleich sind, aber bestimmte Merkmale mit ihm teilen, verfolgen zu können. Ulrich Herbert wendet sich auch gegen die Anwendung des Genozidbegriffs auf die russische Kriegsführung. Denn Genozid, so Herbert, bedeute "die physische Vernichtung einer nationalen oder kulturellen Entität". Das ist nicht zutreffend. Die Völkerrechtskonvention der UN definiert Völkermord vielmehr als Handlungen, begangen in der Absicht, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören. Zu den Handlungen zählt nicht nur die Tötung von Angehörigen der Gruppe. Unter diese Kategorie fallen auch das Zufügen von schweren körperlichen oder seelischen Schäden bei Angehörigen der Gruppe und die zwangsweise Überführung von Kindern in eine andere Gruppe.

Russlands Kriegsführung gegen die Ukraine zeichnet sich durch die Merkmale eines intendierten Völkermords aus, wie eine rechtswissenschaftliche Studie des Wallenberg Centre for Human Rights aufzeigt: Russland begeht gezielte Kriegsverbrechen gegen ukrainische Zivilisten, zerstört lebenserhaltende Infrastrukturen wie Krankenhäuser und Energie- und Wasserversorgung, negiert und dämonisiert die Ukraine als Nation und hat eine Million Ukrainerinnen und Ukrainer, darunter etwa 200 000 Kinder, aus den besetzten Gebieten nach Russland deportiert.

Wie ein Drehbuch zum Völkermord liest sich ein Text, der wenige Tage nach der Aufdeckung der russischen Verbrechen in Butscha auf der Seite der staatlichen russischen Nachrichtenagentur RIA Nowosti erschienen ist. Der Text bezeichnet den "Großteil der ukrainischen Bevölkerungsmasse" als Komplizen des Nazismus und fordert eine umfassende "Entnazifizierung" durch "Umerziehung, die durch ideologische Repressionen des nazistischen Gedankenguts und durch strenge Zensur nicht nur in der politischen Sphäre, sondern notwendigerweise auch in Kultur und Erziehung erreicht wird". Der Kreml will den Ukrainern ein ähnliches Schicksal bereiten wie China den Uiguren.

Faschismus, Vernichtungskrieg, Genozid - die Vokabeln, mit denen wir das Geschehen in der Ukraine beschreiben, rühren an das eigene historische Selbstverständnis Deutschlands. Wer sie in Bezug auf Russland verwendet, tut dies indes nicht in der Absicht, die deutschen Verbrechen im 20. Jahrhundert zu relativieren. Ist es nicht vielmehr so, dass aus der Tatsache, dass Russland in der Ukraine einen Vernichtungskrieg führt und genozidale Absichten dabei kaum zu verkennen sind, vor dem Hintergrund des Besatzungsterrors NS-Deutschlands eine besondere deutsche Verantwortung für die Ukraine entsteht?

Solche Fragen betreffen die Expertise der Osteuropäischen Geschichte, aber sie reichen darüber hinaus. Das Fach ist aber auch deshalb nur eingeschränkt debattenfähig, weil es selbst viel aufzuarbeiten hat. Die Sonderbeziehungen zwischen Russland und Deutschland hatten neben ihrer politischen Seite auch einen wissenschaftlichen Aspekt. Dies gilt bereits für die gemeinsame Erforschung Sibiriens durch russische und deutsche Wissenschaftler im 18. Jahrhundert und reicht bis in die intensive Kooperation, die deutsche Wissenschaftsorganisationen bis vor Kurzem mit russischen Partnern unterhielten.

Es gibt bislang kein Werk, das das Ende der exzeptionellen Beziehungen zwischen Berlin und Moskau angemessen in den Blick nimmt. Stefan Creuzberger etwa erkennt in seiner jüngst erschienenen Geschichte der deutsch-russischen Beziehungen im 20. Jahrhundert zwar die Fehler der Berliner Politik, das Gesamtkonzept des Buchs folgt jedoch der bewährten Formel der "Höhen und Tiefen" im deutsch-russischen Verhältnis. Dass sich die deutschen und russischen Interessen im 20. Jahrhundert immer wieder auf Kosten Ostmitteleuropas und speziell Polens trafen, fällt nicht ins Gewicht.

Unter den deutschen Russlandforschern ist auch keine Trauer über das katastrophale Ende der besonderen Beziehung zwischen Berlin und Moskau vernehmbar. Einen elegischen Ton wählte jedoch die deutsche Sektion der Deutsch-Russischen Geschichtskommission, als sie kurz nach Kriegsausbruch erklärte, dass die Gewaltausübung des 20. Jahrhunderts kein Mittel der Politik des 21. Jahrhunderts sein dürfe, dabei aber Russland als Angreifer nicht nannte. Die Resolution endet mit der lateinischen Sentenz: "Inter arma silent musae" (Im Krieg schweigen die Musen). Mit dieser Formel hatte der Kunsthistoriker Wilhelm von Bode im Ersten Weltkrieg die Schwierigkeiten des deutschen Kulturbetriebes bezeichnet. Zu den Musen zählt neben der Musik und der Dichtung auch die Geschichtsschreibung. Sollte sie heute angesichts der russischen Invasion tatsächlich schweigen?

Wie andere Institutionen auch war die Geschichtskommission selbst Teil des deutsch-russischen Bilateralismus, der mit der russischen Invasion in die Ukraine diskreditiert worden ist. Ein weiteres Beispiel dafür ist ein Editionsprojekt des Deutschen Historischen Instituts (DHI) Moskau, das aus sogenannten Beuteakten, die von der Sowjetunion unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg nach Moskau transferiert worden waren, unter anderem die zweibändige wissenschaftliche Edition des Diensttagebuchs Heinrich Himmlers erstellt hatte. Für die Forschung war dies ein großer Gewinn, der auch in der Öffentlichkeit beachtet wurde. Doch der politische Preis, den das DHI für den Aktenzugang zahlte, war hoch: Für die Forschungs- und Digitalisierungsprojekte holte es sich Sergej Naryschkin ins Boot, der bei Projektbeginn Vorsitzender der Staatsduma war und seit 2016 Chef des Auslandsgeheimdienstes ist. Zugleich hat er das Amt des Präsidenten der Russischen Historischen Gesellschaft inne und ist in dieser Funktion seit vielen Jahren maßgeblich an der Umgestaltung der offiziellen Geschichtskultur Russlands beteiligt.

Dass Naryschkin zu Putins engstem Kreis gehörte, war der Kooperation zwischen dem DHI und dem russischen Militärarchiv nicht abträglich. Am Ende stand ein sehr erfolgreiches Projekt, aber auch eine bittere Pointe: Um ein Forschungsvorhaben zu verwirklichen, das den deutschen Vernichtungskrieg auch gegen die Ukraine dokumentierte, schloss man einen Pakt mit einem engen Vertrauten jenes Mannes, der den Krieg gegen die Ukraine verantwortete.

Die "Rückkehr der Geschichte" bedarf einer tiefgreifenden Reflexion über das, was Historiographie leisten soll. Dies muss bei den Grundlagen des Fachs ansetzen. Die Katastrophe des Krieges macht deutlich, dass Geschichtswissenschaft als historische Kulturwissenschaft tief verwurzelte Denkmuster und Mythologien analysieren muss. Ohne einen entsprechenden Begriffsapparat sind die historisch-kulturellen Grundlagen des Kriegs, wie zum Beispiel der Kult des Militärischen und die Homophobie in Russland, nicht erkennbar. Es ist aber auch eine Erneuerung der Politikgeschichte nötig. Dabei geht es nicht nur um die Re-Integration an den Universitäten vernachlässigter Felder wie der Diplomatie- und Militärgeschichte im Sinne einer modernen Geschichte internationaler Beziehungen. Nötig ist auch ein tieferes Verständnis von Zäsuren und Entscheidungen.

Vor dem 24. Februar hatten sich auch die Geisteswissenschaften in einer Welt eingerichtet, in der die Fähigkeit, das Gelingen oder Misslingen von Politik einzuschätzen, von der Illusion von alternativloser, sich bruchlos in die Zukunft fortschreibender Gegenwart überlagert war. Timothy Snyder hat einmal festgestellt, dass die deutsche Russlandbindung mit ihrer energiepolitischen Komponente der zweitgrößte geopolitische Fehler des Westens in der jüngeren Vergangenheit sei, übertroffen nur vom amerikanischen Irakkrieg. Diese These muss man nicht teilen. Das Problem ist, dass sie in Deutschland kaum verstanden wird, da historische Urteilskraft wenig entwickelt ist und an den Universitäten kaum gefördert wird.

Im Hinblick auf die Geschichte Osteuropas sollte die Rekolonisierung dieser Region, die von Putin angestrebt wird, durch die Dekolonisierung unserer Sichtweisen auf das östliche Europa begegnet werden. Putin selbst leistet dem unwillentlich Vorschub, indem er durch Geschichtsgesetze systematisch die Forschungs- und Publikationsmöglichkeiten in Russland eingeschränkt hat. Unweigerlich wird sich die internationale historische Forschung zur Geschichte des Zarenreichs und der Sowjetunion von Moskau und Petersburg in die Hauptstädte der nichtrussischen Nachfolgestaaten der Sowjetunion verschieben.

Die Verlagerung wird auch Effekte auf die Forschung selbst haben. Zwar wird es weiterhin auch darum gehen, die Zentralperspektive des Zarenreichs beziehungsweise der Sowjetunion zu erfassen, die sich indirekt über die Archive der regionalen Metropolen erschließen lässt. Aber je mehr Historikerinnen und Historiker sich für ihre Forschungen an die ehemaligen Peripherien des Zarenreichs begeben, desto stärker wird eine dezentrale Sichtweise das Bild prägen, das wir von jenen Epochen haben.

Eine postkoloniale Perspektive auf Russland zu werfen bedeutet, konsequent das Wissen infrage zu stellen, das mithilfe des russischen Staats konstruiert und kanonisiert worden ist. Das hat eine besondere Relevanz, wenn es um territorialisierte Ansprüche kultureller Herrschaft und um die Begründung der politischen Ordnung selbst geht. Putins Anspruch, dass die Krim russisch sei, bricht nicht nur zulasten der Ukraine mit dem Völkerrecht, sondern verhöhnt auch die indigenen Krimtataren, wovon viel zu wenig die Rede ist. Man stelle sich vor, US-Amerikaner, Kanadier, Australier und andere westliche Länder sagten, ihre Länder seien "immer von Europäern bevölkert" worden.

Putins imperialer Restaurationsversuch gründet nicht nur auf einer diffusen Sowjetnostalgie, sondern auch auf einer Negierung der nationalen Geschichtsdeutungen in den nichtrussischen Nachfolgestaaten der Sowjetunion. Besonders konflikthaft ist dies im Verhältnis zur Ukraine, wenn es um den Holodomor geht, die große Hungersnot zu Beginn der 1930er-Jahre mit vier Millionen Toten in der Ukraine. Aus russischer Sicht handelt es sich um eine bedauerliche, aber nicht intendierte Folge der forcierten Industrialisierung unter Stalin, die nicht nur die Ukraine, sondern auch mehrere Sowjetrepubliken betraf und insofern als eine gemeinsame unionsweite Erfahrung betrachtet wird, welche die Völker der Sowjetunion nicht trennt, sondern auf tragische Weise zusammenführt.

Die Ukrainer dagegen sprechen von einem Genozid am eigenen Volk. Diese Sichtweise kann sich darauf stützen, dass Stalin während der Hungerkatastrophe eine gezielte Verschärfung der Getreide-Requirierungen anordnete, die ukrainischen Hungergebiete absperren ließ und gleichzeitig einen grausamen Kulturkampf gegen nationalbewusste ukrainische Intellektuelle führte. Nicht nur in Russland, auch in Deutschland wird die ukrainische Sichtweise meist nur als Ergebnis nationalistischer Kiewer Geschichtspolitik verstanden. Tatsächlich dient die Erinnerung an den Holodomor auch der Bewältigung eines Traumas, das die Ukrainerinnen und Ukrainer unter der totalitären und kolonialen Herrschaft Moskaus erlitten. Die postkoloniale Emanzipation der Ukraine vollzieht sich auch mit den Mitteln der nationalen Geschichtspolitik. Aus einer imperial-russischen, aber auch aus einer postnational westlichen Perspektive wird sie damit angreifbar.

Paradoxerweise gilt dies sogar für die Freiheitsgeschichte des Maidan. Der in Lemberg lehrende ukrainische Historiker Yaroslaw Hrytsak betont, dass der Maidan Teil einer weltweiten Reihe von Revolutionen und Protestbewegungen der 2010er-Jahre war. Vielfach werde der Maidan aber, so Hrytsak, auch im Westen vor allem mit dem Kult um den ukrainischen Nationalhelden aus der Zwischenkriegszeit, Stepan Bandera, in Verbindung gebracht und damit aus globalen Bezügen herausgenommen und als Nationalgeschichte singularisiert. So unabdingbar die historische Kritik nationaler Mythen ist, so problematisch ist sie im gegebenen Fall, wenn der Hinweis auf nationalistische Mythen die umfassendere politische Agenda des Maidans ausblendet. Es ging 2014 um die Schaffung einer demokratischen Nation auf der Grundlage ziviler Loyalitäten. Um deren Verteidigung geht es heute.