Der folgende Beitrag erschien in einer kürzeren Version erstmals in der FAZ vom 03.04.2023.
Die Wiedergeburt der Kriegerwitwe als Folge des russländischen Feldzuges in der Ukraine
Im Jahr 1978 erreichte der zuerst verbotene, danach doch erlaubte Film „Witwen“ das sowjetische Kinopublikum. Er erzählte von zwei alleinstehenden, älteren Frauen, die ihren Lebenssinn in der Pflege des Grabes von zwei unbekannten Gefallenen schöpften. Das Sujet wies auf einen demografischen Schmerzpunkt in der Nachkriegsgeschichte der UdSSR hin: Die 27 Millionen Toten des Zweiten Weltkrieges führten schließlich auch zu einem Ungleichgewicht zwischen den Geschlechtern. Laut der Volkszählung von 1959 kamen auf 1000 Frauen 641 Männer. Diese Disproportion konnte bis Anfang 2020 nicht ausgeglichen werden, als auf 1.000 Frauen nur 866 Männer kamen.
Als ehemaliger Kriegsteilnehmer wünschte sich Leonid Breschnew Frieden und Wohlstand für seine Mitbürger*innen. Es ist kein Zufall, dass die gegenwärtige Nostalgie nach ‚goldenem Zeitalter‘ ihre Wurzel in den 1970er Jahren hat. Man besaß eine kleine Wohnung und einen sicheren Job. Am Wochenende fuhr man zur Datscha und in den Sommerurlaub ans Schwarzen Meer. Darüber hinaus stützte sich der Sozialpakt der spätsozialistischen Ära in hohem Maße auf die Gewährung zahlreicher Privilegien und Beihilfen für Kriegsveteranen und deren Witwen. Als Breschnew den Film „Witwen“ sah, war er zu Tränen gerührt. Die Vorführung des Filmes wurde genehmigt und die Renten aller Kriegerwitwen um fünf Rubel erhöht.
Eine kleine, aber feine Sache: Der Staat präsentierte seine patriarchalische Fürsorge für die Ehefrauen von Soldaten, die ihr Leben auf dem Schlachtfeld für die Befreiung vom Nationalsozialismus gelassen hatten. In seiner Funktion als Erinnerungsdiktatur nutzte der sowjetische Staat die Gefallenen und die hinterbliebenen Witwen als wichtige Ressource der sozialen Integration und die Inszenierung der Partei- und Staatsführer als väterliche Autoritäten. Aus dem individuellem Kriegstrauma Millionen sowjetischer Bürger*innen wurde ein sakraler Heldenkult des „Großen Vaterländischen Krieges“, der bis heute die russländische Gesellschaft zusammenhält und für den Krieg gegen die Ukraine mobilisiert.[1]
Die Etablierung einer neuen Gesellschaft der Witwen ist schließlich auch eine der Folgen des russischen Angriffskrieges in der Ukraine. Nach Angaben des ukrainischen Verteidigungsministeriums näherten sich die Verluste des Aggressors Mitte August 2023 der Marke von 256.000. Das Conflict Intelligence Team schätzt, dass die russischen Verluste bis zu 270.000 Tote und Verwundete betragen könnten. Diese Zahlen werden unausweichlich steigen. Der öffentliche Raum, den der Tod von Tausenden Soldaten aufspannt, bleibt dabei nicht leer. Während Männer in der staatlich verordneten Rolle des Selbstmord-Soldaten in den sicheren Tod geschickt werden, gewinnt auch die soziale Figur der jungen Kriegerwitwe deutliche Konturen.[2] Die Machthaber beabsichtigen, sie als reproduktive, politische und moralische Ressource für die nationale Einigkeit bezüglich Putins militärischer Pläne zu nutzen. Ein alter Slogan Lenins aus dem Bürgerkrieg der frühen 1920er Jahre, der später auch von Stalin während des Zweiten Weltkrieges verwendet wurde, wird nun reaktiviert und soll das gesamte Land in einem einzigen Kampflager konsolidieren: "Alles für die Front, alles für den Sieg!" Und in der Tat braucht es keine offizielle Erklärung der totalen Mobilisierung aller Ressourcen. Sie ist bereits in vollem Gange, und den Frauen an der Heimatfront wird dabei eine Schlüsselrolle zugewiesen.
Praktiken der Mobilisierung für den Krieg
Im heutigen Russland sind Frauen integraler Bestandteil von Putins Kriegsmaschine. Die russische Propaganda nutzt sie, um patriotische Impulse zu setzen und die Verbundenheit zwischen Heimatfront und Kriegsfront zu inszenieren. Frauen sind bei der Verbesserung der militärischen Logistik im Einsatz. Im Rahmen der Kampagne "Wir lassen die Unseren nicht im Stich" berichten Frauengruppen in „VKontakte“ (populärstes soziales Netzwerk in Russland) über zahlreiche Aktionen, bei denen Kleidung, Stiefel, Medikamente und Munition gesammelt werden. Tonnen von Lebensmitteln, Tee und Süßigkeiten werden an die Front geschickt. Bei der Wahl zur "Miss Junge Armee", die in Tuwa (der Heimatstadt von Verteidigungsminister Sergej Schoigu) im Rahmen eines patriotischen Schönheitswettbewerbs stattfand, zeigten Mädchen im Alter von 14 bis 17 Jahren ihre Geschicklichkeit beim Zusammenbau von Kalaschnikow-Gewehren und defilierten in Militäruniform. Im Rahmen der Kampagne "Wärme unserer Herzen" in Krasnogorsk stellten Frauen Feldkerzen für die Front her. Und während Frauen in einer vom Krieg gezeichneten Wirtschaft zunehmend Männerberufe übernehmen, üben sie gleichzeitig traditionell weibliche Aufgaben der emotionalen Betreuung aus und gründen Rehabilitationsgruppen für zurückgekehrte Versehrte. Außerdem beobachten sie die Effizienz der Soldaten im Krieg. Ende Februar 2023 beispielsweise beklagte Anastasia Kaschewarowa, Moderatorin eines Telegramkanals mit über 235 000 Abonnenten, den Mangel an sichtbaren militärischen Erfolgen: "Kein politischer Wille, keine Charakterstärke, kein Mut. Enttäuscht von euch, Männer".[3] Diese militanten Aktivistinnen rufen zu einer Mobilisierung von unten auf – vor allem unter dem "tiefen Volk" in den Provinzen. Für sie sind die politischen und wirtschaftlichen Eliten eine korrupte, abgehobene Oberschicht, der es nur darum geht, das eigene Vermögen zu retten und die Last der westlichen Sanktionen zu umgehen.
Eine populäre Anführerin der militaristischen "Bürgerinitiativen" ist die Ehefrau des russischen Armeegenerals Andrej Kolotowkin. Seit Beginn der großflächigen Invasion ist Ekaterina Kolotowkina zum Medienstar geworden: In ihren sozialen Medien-Kanälen zeigt sie, wie sie persönlich Hilfsgüter an die Frontlinie transportiert, dreht Reportagen vom Schlachtfeld und ruft in Talkshows das Millionenpublikum zum Kampf gegen den Feind auf. Als Blondine im Nerzmantel und mit Orenburger Federschal verkörpert sie das Bild des "Mutterlandes", das aus Irakli Toidses sowjetischem Plakat "Das Mutterland ruft" (1941) bekannt und sehr populär ist. Auf einer Kundgebung in Samara anlässlich des Massentodes russländischer Mobilisierter in Makijiwka (die Schätzungen reichen von 200 bis 400) bat Ekaterina Kolotowkina ihren Mann, die toten Kämpfer zu rächen und "das russische Land, die Frauen und Kinder" zu schützen. In der Ökonomie des Krieges ist die Emotion der Vergeltung das ‚neue Erdöl‘: Je mehr Todesopfer der Krieg verursacht, desto mehr werden Menschen in die Spirale der Gewalt hineingezogen. Davon profitiert die Regierung, während die Bevölkerung wie üblich die Rechnung zahlt.
Kolotowkina war auch die Initiatorin des Fotoprojekts "Ehefrauen von Helden". Die Idee startete in Samara und hat das ganze Land schnell erobert. Ehefrauen und Witwen werden in Uniformen mit den militärischen Auszeichnungen ihrer (gefallenen) Ehemänner ins Bild gesetzt. Eines dieser Fotoalben wurde Putin persönlich vom Gouverneur der Region Samara bei einem Treffen im Kreml im Oktober 2022 überreicht. Im ganzen Land findet man solche Bilder auf den zentralen Plätzen der Städte ausgestellt. Sie machen das Gesicht der Kriegerwitwe als neue soziale und politische Kraft sichtbar. Sie rücken ihre Stimme ins Zentrum des öffentlichen Raums. Die Fotos, ergänzt mit persönlichen Briefen und Kinderzeichnungen, werden an die Front geschickt, um die Moral der Soldaten zu stärken. Man betrachtet diese Bilder als "Familienerbstücke" für zukünftige Generationen. Bei der Etablierung des Kultes um die „militärische Sonderoperation“ romantisieren Frauen Kriegsverbrecher zu Helden und schreiben ihnen "echte Männlichkeit" zu. Die Frage, wie gewöhnliche Männer in Butscha, Irpin, Borodjanka, Gostomel, Cherson und anderen ukrainischen Orten zu Tätern wurden, hat in diesen Bildern keinen Platz. In der russischen Version werden die unbequemen Fragen nach Schuld und Gleichgültigkeit gegenüber den ukrainischen Leidtragenden mit einer dicken Schicht Make-up, Medaillen und üppigen Blumensträußen überdeckt.
Nach einem Jahr der Aggression ist es zur Norm geworden, für Putin und für das Vaterland zu sterben. Der Krieg ist zur Normalität geworden. Das tägliche Leben, die Wirtschaft und die Medien wurden für den permanenten Krieg umgebaut. Wie Natalia Komarowa, Gouverneurin des Autonomen Kreises der Chanten und Mansen, erklärte: "Krieg ist Liebe. Der Krieg ist ein Freund. Der Krieg ist die Zukunft, die im Frieden eingelegt wird". Auch viele Ehefrauen bringen den sinnlosen Tod ihrer Ehemänner mit der heiligen Bedeutung von Mut und Aufopferung für das Vaterland in Zusammenhang. Ende November 2022 inszenierte Putin ein Treffen mit den "Müttern der Soldaten". Dabei erklärte der Präsident freimütig, dass niemand dem Tod entkommen könne und dass es besser sei, als Held in die Geschichte einzugehen, als Alkoholiker und Verlierer. Das verrät uns übrigens, wie Putin gemeine Russen wahrnimmt. Die Frauen nickten und lächelten und beteuerten ihre Loyalität gegenüber dem "nationalen Führer"
„Die Soldatenwitwen Russlands“: Träger*innen des Sozialpakts mit dem Putin-Regime
Die Telegram-Gruppe "Soldatenwitwen Russlands" meldete sich am 2. Januar 2023 lautstark mit einem Appell an Putin, eine "groß angelegte Mobilisierung" auszurufen und den Männern die Flucht aus dem Land zu verbieten.[4] Das Selbstverständnis dieser Gruppe ist von einem bemerkenswerten Eklektizismus der Kreml-Ideologie geprägt: Imperialismus, Religiosität und Patriarchat. Indem sie bewusst eine Spaltung der Gesellschaft in "richtige" und "falsche" Frauen provozieren, präsentieren sie sich als diejenigen, "die ihre Männer nicht hinter ihren Röcken versteckt haben" und "die bereit sind, alles für den großen Sieg zu tun". Sie preisen alle Entscheidungen im Kreml. Angesichts des Krieges erheben die Witwen den Anspruch, die moralische Stimme des Landes zu sein, indem sie Verräter entlarven, Dienstverweigerer anprangern und sich über das Ausbleiben militärischer Erfolge beklagen. Bei den jüngsten Protesten in Georgien gegen das Gesetz über ausländische Agenten profilierte sich die Witwen-Gruppe als Agenten der "russischen Welt": Sie forderten die Georgier auf, in den brüderlichen Staatenbund nach dem Vorbild der UdSSR zurückzukehren und an der Seite der russischen Armee gegen die Ukrainer zu kämpfen. Diese dank staatlicher Subventionen wohlhabenden Witwen verstehen sich als Katalysatoren für die ökonomische Entwicklung der verschiedenen Regionen des Landes. Wirtschaftsexperten stellen fest, dass die Zahlung von "Sarggeldern" an Witwen und andere Hinterbliebenen die Armutsquote in der Bevölkerung verringert hat.
Wenn die Männer an der Front sterben, rücken die Witwen ins Zentrum des neu verhandelten sozialen Paktes. Sie zeigen die Bereitschaft, als neue Trägerinnen der Herrschaft der Gewalt zu dienen. Diese permanent wachsende Frauengruppe setzt die sowjetische Tradition fort, den Diskurs über das persönliche Trauma und die Trauer des Verlustes zu blockieren. Nur kämpfen sie jetzt für höhere Renten, Beihilfen und individuelle Unterstützung durch den Staat als Belohnung für ihre Loyalität gegenüber dem Staatsoberhaupt. Der Gesetzentwurf zur Unterstützung von Witwen der derzeit in der Staatsduma verhandelt wird, enthält Vorschläge zur Zahlung von Zuschüssen für Wohnungen, Subventionen für den Kauf von Immobilien, kostenlose Mahlzeiten für Kinder in Schulen und Gutscheine für Behandlung in Sanatorien. Die Erlangung des Witwenstatus wird mittlerweile als eine Art ‚Lottogewinn‘ dargestellt. So erhielt die alleinerziehende Witwe eines ‚Kriegshelden‘ nach dem Tod ihres Ehemannes eine neue, möblierte Wohnung vom Gouverneur der Moskauer Region. Um die väterliche Fürsorge für Hinterbliebene zu inszenieren, wurden in mehreren Telegram-Kanälen Videos von Witwen in Donezk verbreitet, die eine besondere Prämie für den Tod ihrer Ehemänner erhielten: einen Pelzmantel, seit dem Spätsozialismus ein sichtbares Zeichen für den Status einer Frau, der anzeigt, dass sie einen erfolgreichen männlichen Beschützer hat. Die Dankbarkeit für die staatlichen Geschenke funktioniert als zusätzliches "Grundnahrungsmittel" für das Putin-Regime. Durch die Schaffung einer neuen privilegierten Gruppe der Witwen bekämpft der russische Staat nicht die soziale Ungleichheit, sondern verstärkt sie bewusst als Unterpfand für die Stabilisierung seines personalisierten Machtsystems.
Hochzeiten mit Einberufungsbescheid und ohne weißes Kleid: Legalisierung von Witwen und Normalisierung der Mobilmachung
Nach der Verkündung der "Teilmobilmachung" am 21. September 2022 wurden die Standesämter mit einer Flut von Heiratsanträgen überschwemmt. Die Mobilisierung betraf eine Altersgruppe, die dem durchschnittlichen Heiratsalter in Russland entspricht: Personen zwischen 25 und 34 Jahren. Die Hochzeiten mit der Etablierung des Haushaltes, emotionaler Bindung an das Hinterland und der rechtlichen Regelung von Erbschaftsangelegenheiten für den Fall, dass der Mann im Krieg sterben sollte, dienen der „Normalisierung“ des Krieges. Dennoch fürchten die meisten jungen Frauen, ohne Familie, ohne Kinder und ohne Zukunft zurückgelassen zu werden. Laut einer Studie des unabhängigen Mediums "Cholod" waren im Oktober 2022 29 % der Frauen zwischen 18 und 34 Jahren mit der "militärischen Sonderoperation" einverstanden, das sind 15 % weniger als im März desselben Jahres. Ihre Befürchtungen sind berechtigt, die Anzahl der mobilisierten Männer ist hoch. Die schnellen Eheschließungen infolge der Einberufung hat „Mediazona“ zu der Schlussfolgerung veranlasst, dass allein im September und Oktober 2022 mehr als 500.000 Soldaten in Russland rekrutiert wurden. Im Mobilmachungserlass selbst wurde die Zahl der Wehrpflichtigen offiziell mit 300.000 angegeben. Das Gerücht über eine geheime Klausel, in der eine Zahl von einer Million neu einberufenen Soldaten genannt wird, kommt der Wahrheit wohl näher. Laut zahlreichen Zeugenberichten auf Telegramkanälen geht die latente, unsichtbare Mobilisierung unvermindert weiter, niemand hat sie aufgehoben.
Die regionalen Behörden erlauben es, aus Gründen der Wehrpflicht noch am Tag der Antragstellung zu heiraten. Die zukünftigen Witwen werden so legalisiert. Die Frauen beeilen sich, ihren sozialen Status zu sichern und ihre Beziehung zu formalisieren, und, wenn sie Glück haben, noch Kinder zu bekommen. Die Ehefrau wird zur Schlüsselfigur im Leben eines Soldaten. Sie hat das Recht, den Aufenthaltsort ihres Ehepartners zu erfahren oder ihn im Falle der Verwundung im Krankenhaus zu besuchen. Man versprach, dass der Staat auch die Kosten für die Reise, die Hotelunterbringung und die Verpflegung der Ehefrau übernehmen wird, wenn ihr Mann im Hospital behandelt werden muss. Im Falle des Todes befähigt der Rechtsstatus der Ehefrau zum Antritt des Erbes und zu Entschädigungszahlungen. Für die "Heldentat" des Sterbens im Krieg verspricht die Regierung einfachen Russ*innen Zahlungen in der astronomischen Höhe von mehr als 100.000 Euro. Zum ersten Mal in der Geschichte des Landes schätzt der Staat das Leben seiner eigenen Bürger so hoch ein, während er gleichzeitig die Bereitschaft verlangt, sich für Putins Ideen aufzuopfern.
Die geschlossenen Ehen werden sowohl an Dienstorten als auch während der Kurzurlaube fortgesetzt. Die Soldaten wollen nicht, dass ihr Geld einfach verschwindet und im Falle ihres Todes in der Staatskasse verbleibt, sondern dass es wenigstens jemandem aus der eigenen Familie zugutekommt. Für die Männer ist die Eheschließung eine Möglichkeit, das Gefühl der Verbundenheit mit ihrem Zuhause zu bewahren. Auch um die Moral zu stärken, werden die kollektiven Eheschließungen von den Behörden befürwortet. "Wir verheiraten sie in 'Rudeln' von mehreren Personen", teilte ein Offizier des Rekrutierungsbüros dem Medienportal „Krym.Realii“ mit. Nach der Zeremonie eilen die Paare zu Anwälten, um ein Testament, eine Vollmacht und eine Schenkungsurkunde aufzusetzen. Indem sie ihre Männer an die Front schicken, erhalten die Frauen die Vollmacht für ihre Familien, verwalten das Familienvermögen und erziehen die Kinder.
Augenzeug*innen der schnellen Eheschließungen nach dem Einberufungsbescheid beschreiben keine üblichen Feierlichkeiten. "Eine Hochzeit ohne weiße Kleider. In den Augen aller ist Traurigkeit zu sehen. Es gibt keine warme Erinnerung. Man unterschreibt die Urkunde und der Lieblingsmensch wird dir weggenommen“, erzählte Ekaterina Litschman in der Dozhd‘-Sendung von Anna Mongait "Es sind keine Spielzeugsoldaten, die leiden, sondern echte Menschen, die ihr Leben riskieren", so ihre Gesprächspartnerin weiter. Die Frauen sind sich darüber im Klaren, dass ihre Männer mit seelischen und physischen Wunden zurückkehren werden. Viktoria Kochkasova, eine Feminsitin aus Woronesch, ging am Vorabend des Internationalen Frauentags mit einem Plakat auf die Straße, das einen Mann im Rollstuhl mit einem Blumenstrauß und einem Fernseher anstelle seines Kopfes zeigte.[5]
Die Ehefrau als Beschützerin und als Vermittlerin in der Kommunikation mit dem Kreml
Unter Kriegsbedingungen kommt den Frauen die Rolle der Vermittlerin in der Kommunikation zwischen den Ehepartnern an der Front und dem Oberbefehlshaber zu. Laut „Meduza“ haben die Ehefrauen mobilisierter Soldaten aus Tuwa, Irkutsk, Jaroslawl und vielen anderen Städten dem Präsidenten regelmäßig Videobeschwerden ihrer Ehemänner über die "kriminellen Befehle" ihrer Kommandeure eingereicht. Sie flehten Putin an, dafür zu sorgen, dass ihre Männer nicht „ohne notwendige Vorbereitung“ oder „mit gesundheitlichen Beschwerden“ in die Schlacht geschickt werden.
Offensichtlich berichten Soldaten ihren Partner*innen vom Krieg. Die Kriegserfahrung der neuen Rekruten kann man in der Definition eines Veteranen des sowjetischen Afghanistankrieges zusammenfassen: "Krieg heißt Blut, Dreck, Läuse, Scheiße, Demütigung und Gesetzlosigkeit". Außerdem weckt die direkte Konfrontation mit dem Krieg bei den Soldaten die Urangst vor dem Tod. Schließlich können sie nun bezeugen, dass sie nur als "Kanonenfutter" dienen. Mittlerweile sind mehrere Klagende tot.
Die Videobotschaften an den Präsidenten setzen die lange sowjetische Tradition des "rituellen Weinens" in Petitionen an die Partei- und Staatsführer fort: Es wird nicht die Legitimität der politischen Ordnung in Frage gestellt oder eine Antikriegshaltung artikuliert. Vielmehr fügen sich die Botschaften der Frauen in den patriarchalischen und militaristischen Machtdiskurs ein. Das Ergebnis ist ernüchternd: Es ist kein einziger Fall bekannt, in dem der Präsident auf solche Beschwerden mit Empathie reagiert hätte. "Der Krieg muss mit Leichen gefüttert werden. Sonst verhungert er", kommentierte der im Exil lebende Journalist Alexander Nevzorov solch eine Videobeschwerde.[6] Die Zahl der Toten steigt mit jedem Tag weiter.
Hinwendung zu konservativen Werten und Kontrolle der Reproduktionsfunktion der Frauen
Wenn der Aggressorstaat sich für einen langen Krieg rüstet, übernimmt er auch die Kontrolle über den Frauenkörper und ihrer Reproduktionsfunktion. Seit dem Beginn von Putins dritter Amtszeit im Jahr 2012, und insbesondere nach dem Beginn des Konflikts in der Ukraine 2014, ließ sich beobachten, wie der Staat zunehmend die Möglichkeiten zur Abtreibung einschränkte und die Förderung von Geburten zu verstärken suchte. In einem Land mit 1-2 Kinder pro Familie erklärte Putin im Dezember 2012 vor der Föderalen Versammlung, dass die Norm in Russland eine Familie mit drei Kindern sein solle. Diesem Kurs folgten im Einklang die Vertreter*innen der Staatsduma und der orthodoxen Kirche. Im Januar 2023 schlug Patriarch Kirill zum wiederholten Male ein Abtreibungsverbot vor, milderte dann aber seinen Ton, indem er empfahl, vor der Abtreibung die Zustimmung des Ehemanns zu holen. „Wir sterben aus!“, behauptete Abgeordnete des Parlaments Dmitrij Gussew voller Sorge. Als Mitglied der "Arbeitsgruppe für die Bewahrung und Stärkung traditioneller Werte" plädierte er dafür, pro Familie mindestens vier Kinder zur Welt zu bringen. Mit vier Kindern sollte der Meinung vom Priester Michail Wassiljew nach, die Trauer über den menschlichen Verlust im Krieg weniger schmerzhaft ausfallen. Er verglich die "Kriegsverweigerer", die vor der "Teilmobilmachung" aus dem Land fliehen, mit Frauen, die die Fruchtbarkeit des Heimatlandes verletzen.
Die Machthaber arbeiten bereits an der Problematik des Männermangels. Ende Dezember 2022 wurde Premierminister Michail Mischustin von der "Union russischer Juristen" aufgefordert, ein Tiefkühllager einzurichten, um von einberufenen Rekruten männliches "genetisches Material" (gemeint ist Sperma) zu sammeln, bevor sie an die Front geschickt werden. Gleichzeitig wurde ein Gesetz zur Schaffung einer einheitlichen "Nationalen Datenbank für genetische Informationen" verabschiedet, um "die nationale Sicherheit, den Schutz des Lebens und der Gesundheit der Bürger zu gewährleisten". Niemand weiß im Detail, was das heißt.
Das Recht auf Abtreibung stand von Anfang an im Zentrum der Frauenbewegung des frühen 20. Jahrhunderts und bleibt bis heute über Grenzen hinweg ein Streitpunkt. Es waren die Bolschewiki, die im Rahmen ihrer Politik der Emanzipation den Frauen das Wahlrecht (1917), das Recht auf Scheidung (1918) und das Recht auf Abtreibung (1920) gaben. Die Zuwendung zu konservativen Werten in Putins Russland erinnert an stalinistische Zeiten. Dem Rückgang der Geburtenraten am Anfang der 1930er Jahre beabsichtigte man durch den Entzug des individuellen Rechtes abzuhelfen, über die eigene Reproduktion zu bestimmen: Von 1936 bis 1955 galt in der gesamten Sowjetunion ein Abtreibungsverbot. Im Gegenteil: man lobte den reproduktiven Heroismus. Wie der "Vater der Völker" hat auch Putin im August 2022 die Medaille "Mutterheldin" eingeführt. Für Familien mit zehn oder mehr Kindern zahlt der Staat eine Prämie von 1 Million Rubel, mehr als 12.000 Euro.
Weniger bekannt ist, dass das stalinistische Abtreibungsverbot zu einem drastischen Anstieg der weiblichen Sterblichkeit aufgrund illegaler medizinischer Dienstleistungen außerhalb von Kliniken führte. Tränen, Schmerzen und Leiden wurden zum kollektiven Trauma. Sogar nach der Liberalisierungswelle der 1960-1970er Jahre, die den Schwangerschaftsabbruch legalisierte, berichteten Frauen über mangelnde Verhütungsmittel, die Dominanz des chirurgischen Eingriffes, die Ruppigkeit des medizinischen Personals und den verurteilenden Blick auf die Frau als „Sünderin“. Bis in die 1990er Jahre wurde häufig bei derartigen Eingriffen keine Narkose verabreicht. Abtreibungskliniken bekamen in der (post-)sowjetischen Gesellschaft den Ruf als „Schlachthäuser“.[7]
Seit den 1930er Jahren wird der weibliche Körper als Staatseigentum wahrgenommen, der der Zeugung von loyalen Bürger*innen und unterwürfigen Soldaten dient. Wer sich der patriarchalen Rechtfertigung des Krieges widersetzt, wird bestraft. Als Frauen in Tschetschenien und Dagestan im Herbst 2022 gegen die „Teilmobilmachung“ protestierten, ordnete lokale Autoritäten Ehemänner an, ihre eigenen Frauen zu schlagen, um sie zu "befrieden" und zu "erziehen". Im Fernsehen appellieren Propagandisten an Frauen, die von Männern dominierte Geschlechterhierarchie anzuerkennen: "Deine Aufgabe ist es, zu warten und nicht zu pampig zu werden"; oder: "Mische dich nicht ein, du verstehst nichts". Die patriarchalische Gesellschaft verlangt von Frauen, dass sie sich unterordnen und sich in den zulässigen Rollen der Mutter, der Arbeiterin und der militaristischen Aktivistin verwirklichen.
Doch nicht jede fügt sich gehorsam in Putins Geschlechterordnung ein. Unter dem Slogan "Wenn du Krieg führst, sollst du auch selbst Kinder zur Welt bringen“ hat der Feministische Antikriegs-Widerstand (FAS) auf change.org eine Petition gegen das Abtreibungsverbot gestartet. Die Feministinnen wenden sich damit direkt gegen die Führung des Landes: "Das russländische Volk stirbt nicht wegen der Abtreibungen aus - es stirbt wegen euch!“ Mehr als 41.000 Menschen, die gegen das staatliche Monopol über den weiblichen Körper auftreten, haben die Petition unterzeichnet.
Bereits vor der großflächigen Invasion Russlands in der Ukraine versuchten manche Bürger*innen Russlands, ihre Kinder im Ausland zur Welt zu bringen, um ihnen (und sich auch) eine andere Staatsbürgerschaft zu ermöglichen. Die Wohlhabendsten unter ihnen hatten die USA im Auge. Laut einem Bericht von „BBC Russia“ wurde Argentinien neulich zu einem Zielland für solche Geburten. Regierungsvertreter*innen sprechen von Flugzeugen voller schwangerer Frauen, die mit Touristenvisa einreisen, um zu gebären. Der argentinische Reisepass ermöglicht visumfreies Reisen in 170 Länder, darunter die EU, das Vereinigte Königreich, Japan und Neuseeland. Allein im Jahr 2022 reisten rund 10.500 schwangere Russinnen in das Land ein. Sie sind nicht zufrieden mit dem geschlossenen Gefängnis der "russischen Welt". Sie sehnen sich nach Freiheit, Mobilität und einem normalen Alltagsleben, unabhängig von den Launen des Despoten im Kreml.
Frauenprotest, Feminismus und Widerstand gegen den Krieg
Es gibt mehrere Beispiele des Widerstands gegen den Krieg und Putin. Täglich beobachtet man Aktionen von Mut und Zivilcourage in einer gleichgeschalteten Gesellschaft, die unter dem Druck von Militärzensur und Repressionen leidet. Diese Menschen und Gruppen verdienen Respekt und Unterstützung. Sie verkörpern die Hoffnung für eine Nachkriegszukunft des Landes. In den ersten Tagen der "militärischen Sonderoperation" erhielt die 77-jährige Künstlerin Elena Osipova den Beinamen "Gewissen von St. Petersburg". Seither hat sie nicht aufgehört, mit ihren Antikriegsplakaten auf die Straße zu gehen. In einem Interview des Medienportals „Bumaga“ erklärte sie, dass sie kein moralisches Recht zu schweigen habe und warnte uns: "Im Schweigen geschehen die schlimmsten und schrecklichsten Dinge“.
In der Tat schweigen die Frauen nicht. Sie sind zur wichtigsten Stimme der Antikriegsbewegung in Putins Russland geworden. Sie halten einsame Mahnwachen, initiieren Petitionen, veranstalten Aktionen zur Unterstützung von Ukrainer*innen, malen Graffiti und geben pazifistische Zeitungen heraus. Ein eindrucksvolles Beispiel für die Solidarität von Frauen ist der Feministische Antikriegs-Widerstand (FAW). Bereits am zweiten Tag nach dem Beginn der großflächigen Invasion in der Ukraine veröffentlichte der FAW ein Manifest und erklärte sich zu einer neuen politischen Kraft: "Wir sind die Opposition gegen Krieg, Patriarchat, Autoritarismus und Militarismus. Wir sind die Zukunft und wir werden siegen". Die Feministinnen betonen die Notwendigkeit einer inneren Dekolonialisierung, des Respektes für die Sprache, Kultur und Geschichte von Anderen, und distanzieren sich kritisch von der imperialen Politik des Kremls. Gleichzeitig wenden sie sich gegen die Geschlechterhierarchie der patriarchalischen Ordnung, die zu Gewalt gegen Frauen und letztlich zu Krieg führt. Das Entstehen dieser und anderer Antikriegsgruppen wurde nicht zuletzt durch die sexuelle Revolution der 1990er Jahre und den Anstieg des wirtschaftlichen Wohlstands in den Metropolen in den 2000er Jahren ermöglicht. Diese Gruppen vertreten gemeinsame Werte der Gleichberechtigung, des Feminismus und der Toleranz gegenüber nationaler, religiöser und geschlechtsspezifischer Vielfalt, und bestehen aus liberal orientierten Individuen, die sich gegen die Einmischung des Staates in das Privatleben wenden und die Unterordnung ihres eigenen Körpers unter die reproduktive Biopolitik eines militaristischen Staates nicht akzeptieren.
Die Geschichte Russlands bietet anschauliche Beispiele, auf die man sich in der aktuellen Situation stützen kann. Auf dem Höhepunkt des ersten Tschetschenienkriegs im Frühjahr 1995 organisierte das Komitee der Soldatenmütter, eine im Zuge der Perestroika gegründete zivilgesellschaftliche Frauenorganisation, eine Kampagne mit dem Namen "Marsch des Mitgefühls der Mütter". Ihre Idee war es, von Moskau nach Grosny zu marschieren, um die Antikriegsöffentlichkeit zu vereinen und so die Behörden zum Frieden zu zwingen. Der Marsch nahm einen transnationalen Charakter an: Neben Müttern aus Russland und Tschetschenien schlossen sich Buddhisten, Quäker und internationale Aktivisten an. "Wir marschierten zum tschetschenischen Volk, um ihm zu zeigen: Das einfache russische Volk ist gegen einen Krieg, der nur den Machthabern nützt. Wir sind zu den russischen Soldaten gegangen, um einen Waffenstillstand für die tschetschenischen Dörfer zu fordern. Gewaltloser Widerstand ist der einzige Weg aus dem Teufelskreis der Gewalt...", erinnerte sich später einer der Demonstranten. Aktueller denn je scheinen die Worte des Schriftstellers Viktor Jerofejew: "Es ist höchste Zeit, unseren Müttern ihre Rechte zurückzugeben (das Leben ihrer Söhne zu retten). Ihr seid es, die diese Rechte haben".[8] Es ist aber die höchste Zeit, dass alle russländischen Frauen das Recht auf ihren eigenen Körper, das Recht auf Antikriegsprotest, das Recht auf Empathie zu Leidtragenden, das Recht auf Leben und das Recht auf Zukunft in Anspruch nehmen.
[1] Nina Tumarkin, The Living and the Dead: The Rise and Fall of the Cult of World War II in Russia (New York: Basic Books of Harper Collins, 1994). Dass mehr als eine halbe Million Frauen am "Großen Vaterländischen Krieg" teilgenommen haben, bleibt bis heute ein unerwünschtes Thema in der öffentlichen Erinnerung Russlands. Siehe dazu: Anna Krylova, Soviet Women in Combat: A History of Violence on the Eastern Front (Cambridge: Cambridge University Press, 2010).
[2] Alexey Tikhomirov, Der Kult des Männlichen in Putins Russland, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15. Dezember 2022, Nr. 292, S. 14. -- https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/kult-desmaennlichen-in-p... (letzter Zugriff am 17.08.2023)
[3] Telegram-Kanal von Anastasia Kaschewarowa (mittlerweile mit 271.534 Abonnent*innen). Eintrag vom 27.02.2023. (letzter Zugriff am 17.08.2023)
[4] Telegram-Kanal „Soldatenwitwen Russlands“ (mittlerweile 2.680 Abonnent*innen). Eintrag vom 2. Januar 2023. (letzter Zugriff am 17.08.2023)
[5] Telegram-Kanal „Feministischer Antikriegswiederstand“ (mittlerweile 37.955 Abonnent*innen). Eintrag vom 8. März 2023. (letzter Zugriff am 17.08.2023)
[6] Telegram-Kanal von Alexandr Nevzorov (mittlerweile 1.087.283 Abonent*innen). Eintrag vom 24. Oktober 2022. (letzter Zugriff am 17.08.2023)
[7] Elena Zdravomyslova, Die Konstruktion der ‚arbeitenden Mutter‘ und die Krise der Männlichkeit: Zur Unterscheidung von Öffentlichkeit und Privatheit im Kontext der Geschlechterkonstruktion im spätsowjetischen Rußland, in: Feministische Studien, Vol. 17, no. 1, 1999, S. 23-34.
[8] Elena Zdravomyslova, Soldiers‘ Mothers Fighting the Military Patriarchy: Re-Invention of Responsible Activist Motherhood for Human Rights‘ Struggle, in: Ilse Lenz, Charlotte Ullrich, Barbara Fersch (eds.), Gender Order Unbound? Globalisation, Restructuring and Reciprocity (Opladen & Farmington Hills: Barbara Budrich Publishers, 2007), S. 207-226, hier S. 223.