Die Welt befindet sich noch immer im Schock, weil niemand glaubte, Putin würde tatsächlich die Ukraine überfallen. Von den drei Szenarien angesichts des seit Herbst letzten Jahres nicht abreißenden russischen Truppenaufmarschs an der ukrainischen Grenze war dies das unwahrscheinlichste: Am ehesten traute man Putin zu, die sogenannten Volksrepubliken Luhansk und Donezk offiziell zu besetzen.
Auch noch möglich, aber schon abenteuerlich erschien die Vorstellung, er werde den Küstenstreifen am Asowschen Meer als Versorgungskorridor zur Krim annektieren. Absurd schien das Super-GAU-Szenario einer kompletten Invasion. Viel zu hoch erschien das Risiko: Wie würde Putin seiner Bevölkerung einen Krieg gegen das „Brudervolk“ verkaufen, wie seine kriegsabgeneigte Bevölkerung auf unzählige Tote vorbereiten?
Der Fehler lag darin, nicht in Putins Propaganda-Kategorien zu denken, mit denen der Krieg zur „Spezialoperation“ und der Angriff zur „Befreiung“ wurde. Das noch größere Versäumnis lag darin, dass wir Russlandkenner*innen nicht mit Militärstrateg*innen sprachen, die hätten erläutern können, dass Putin nach dem Lehrbuch des Krieges im 21. Jahrhundert vorgehen würde: erst mit Raketen und schwerer Artillerie alles ausschalten, was die dann nachrückenden Soldaten gefährden könnte. In einem solchen chirurgischen Eingriff – den Feind wehrlos bomben, reingehen, die Regierung austauschen und wieder rausgehen – sah Putin offenbar eine reelle, wenn auch riskante, inzwischen vielleicht gescheiterte Chance, das wahrzumachen, was er bereits im Juli 2021 in einem historischen Essay zu Papier gebracht hatte: die Ukraine Russland wieder einzuverleiben.
Geschichtsrevision per Krieg
Es hat sich nun gerächt, dass damals niemand glaubte, Putin könnte seinen Worten von dem „sowjetischen Kunstprodukt“ der Ukraine Taten folgen lassen und diese tatsächlich zerschlagen. Aber in der Rede zur Anerkennung der beiden „Volksrepubliken“ in der Ostukraine wiederholte er genau das. Seit seinem 13seitigen Geschichtsaufsatz hätte also klar sein müssen, dass die „Sicherheitsinteressen“ Russlands nur vorgeschoben waren, als Putin verlangte, die Ukraine dürfe niemals NATO-Mitglied werden.
Es war ein Kategorienfehler, wenn im Westen Politiker*innen von den „berechtigten Sicherheitsinteressen“ Russlands sprachen. Putin geht es nicht um eine potentielle Bedrohung durch die NATO, sondern um seine historische Mission, das Sowjetreich wieder herzustellen. Dass Russland der Aggressor und nicht der Getriebene ist, war zudem seit der Annexion der Krim und dem Anzetteln des Bürgerkriegs in der Ostukraine 2014 offensichtlich. Es gab zahlreiche andere Indikatoren, dass es Putin nicht um Sicherheit, sondern um eine Revision der Geschichte geht: die Wiedereinführung der sowjetischen Hymne 2000, die Bezeichnung des Zusammenbruchs der Sowjetunion als der „größten geopolitischen Katastrophe“ des 20. Jahrhunderts im Jahr 2005, die Drohung auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007, die NATO möge sich nicht am Erbe der Sowjetunion vergreifen, all die Gesetze, die jenen Strafe androhen, die die Geschichte anders interpretieren, als glorreich eben und mit den Inhalten und Wertungen Putins. Nicht zuletzt das Verbot der NGO Memorial im Dezember 2021, die nicht nur für Menschenrechte, sondern gerade auch für Geschichtsaufklärung und -erziehung eintritt, zeigte, dass Putin das Monopol auf die Geschichtsauslegung erhebt.
Zwei rote Linien
Putins Krieg ist also weder auf Wahnsinn, noch auf Realitätsverlust gegründet, sondern auf einer Doktrin, nach der keine (weitere) ehemalige Sowjetrepublik an „den Westen“ verloren gehen darf. Putin ist in dieser Hinsicht nicht wie der Zar, mit dem er öfter verglichen wird, sondern wie der sowjetische Herrscher Leonid Breschnew, der nach der Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 erklärte, die Souveränität eines „Bruderstaates“ ende da, wo die Interessen des Verteidigungsbündnisses des Warschauer Pakts tangiert würden. Der Westen taufte es die „Breschnew-Doktrin“.
Vom Aufstand in der DDR 1953 über die ungarische Erhebung 1956 bis zur Solidarność-Bewegung in Polen 1981 galten zwei rote Linien, die nicht überschritten werden duften: der Austritt aus dem Verteidigungsbündnis und der Machtanspruch der Kommunistischen Partei. Putins Doktrin hat zwei neue rote Linien hinzugefügt: die Aufnahme in die EU beziehungsweise die NATO und die erfolgreiche Demokratisierung. Beides könnte die eigene russische Bevölkerung dazu verleiten, es den Nachbarn gleich zu tun. Stattdessen soll sich die russische Bevölkerung an der neuen-alten Größe berauschen. Schon 1968 plädierte der Chef der ukrainischen KP Petro Schelest vehement dafür, dem Demokratieexperiment in der Tschechoslowakei ein schnelles Ende zu setzen, damit der Freiheitstaumel nicht auf die Ukraine überschwappte, die an die Slowakei grenzt.
Wiederauferstehung oder erneuter Untergang der UdSSR?
Zwar behauptete Putin am Tag des Überfalls auf die Ukraine, jede frühere Sowjetrepublik habe das Recht, ihren eigenen Weg zu gehen, nur für die Ukraine gelte das nicht. Aber wer mag dem noch glauben? In Belarus befinden sich schon russische Truppen; Putin könnte diese sofort zu Besatzungstruppen erklären. Der Diktator Lukaschenko ist sich vermutlich bewusst, dass seine eigene Bevölkerung ihn ohne Putin stürzen würde und er daher Putin ausgeliefert ist. Als eine von den drei slawischen Sowjetrepubliken wird Putin niemals zulassen, dass sich Belarus verselbständigt. Moldau, ein Territorium, das einst Stalin von Rumänien mit Hitlers Zustimmung raubte, ist zwar noch zwischen EU und Russland hin- und hergerissen. Aber in der abtrünnigen Provinz Transnistrien stehen schon russische Truppen und Putin würde einen EU-Beitritt niemals zulassen. Auch Georgien, das bereits 2006 in die NATO strebte, erklärte Putin 2008 den Krieg und unterhält seitdem Truppen in den abtrünnigen Provinzen Abchasien und Südossetien.
Damit führt die Ukraine nicht nur einen Kampf für ihre eigene Zukunft, sondern stellvertretend für die aller anderen ehemaligen Sowjetrepubliken, die noch nicht Mitglied der NATO sind. Fällt die Ukraine, triumphiert die Putin-Doktrin auch in den anderen Staaten. Siegt die Ukraine, würde die Sowjetunion 100 Jahre nach ihrer Gründung und 30 Jahre nach ihrem offiziellen Ende ein zweites Mal untergehen.
Eine erste, kürzere Fassung wurde am 6. März 2022 im Weser-Kurier Bremen veröffentlicht.