von Tanja Penter

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11. März 2022

Mich erreichen in diesen Tagen dramatische Nachrichten aus der Ukraine. Eine verzweifelte Kollegin, Mutter eines kleinen Sohnes, schreibt aus Charkiv:

"Ich bin wie betäubt vor Angst: Die Schlacht um Charkiv ist in vollem Gange, die Stadt wird von vier Seiten eingenommen, überall gibt es Explosionen, sowohl am Stadtrand als auch im Zentrum, ich glaube nicht, dass ich heute ein guter Geschichtenerzähler sein werde (Aber wenn wir überleben und ich nach Deutschland komme, sehe ich es als meine Aufgabe an, von all den Erlebnissen zu erzählen, die man nicht versteht, wenn man sie nicht erlebt hat. Das Warten auf den Tod ist beängstigender als der Tod selbst, und wir warten nun schon den zweiten Tag darauf, es ist unerträglich!!!)"

Als Historikerin, die seit vielen Jahren über die Geschichte des deutschen Vernichtungskriegs in der Ukraine forscht, bin ich erschüttert mitzuerleben, wie Putins menschenverachtender Krieg mit seiner ganzen Brutalität in den Alltag der Menschen in der Ukraine eingebrochen ist.
Jetzt ist die Rede von einer Zeitenwende. Wie schon 2014 bei der Annexion der Krim und der Entzündung eines Stellvertreterkriegs im Donbass. Trotzdem sind die damaligen Ereignisse in der europäischen Öffentlichkeit schnell wieder in Vergessenheit geraten, genauso wie der Krieg in Georgien 2008. Im Rückblick wächst die Einsicht, dass wir in Deutschland und Europa durch jahrelange Fehleinschätzungen und zögerliches Handeln eine Mitschuld daran tragen, dass Putin die „rote Linie“ immer weiter nach vorne geschoben hat.

Für uns Historiker*innen ist es besonders verstörend zu sehen, wie Geschichtsmythen gepaart mit einer aggressiven russischen Propaganda- und Desinformationskampagne zur Legitimation von Putins Angriffskrieg herangezogen werden. Grundmuster hierfür wurden 2014 bereits etabliert. Dabei besitzt die Propagandasprache Putins im Diskurs nach innen wie nach außen eine zentrale Bedeutung, denn es geht in seinem Krieg auch um die sprachliche Deutungshoheit.

Seit 2014 hat sich der Westen die Sprachformeln Putins oftmals diktieren lassen. So vermisste man zeitweilig eine klare Sprache, die die Verantwortung Russlands zunächst für die Annexion der Krim und dann für die Entfachung eines Stellvertreterkriegs im Donbass klar benannte. Bei den Gesprächen für das Minsker Abkommen wurde der russischen Position, man sei im Donbass keine Kriegspartei, kaum widersprochen. So konnten die Lügen Putins auch in den deutschen Medien ein gewisses Echo erzielen.

 

"Angriffskrieg" und "Invasion" versus "militärische Sonderoperation"

Das russische Parlament hat am 4. März 2022 ein Gesetz verabschiedet, das bis zu 15 Jahren Haft und hohe Geldbußen für die Veröffentlichung von "Falschnachrichten" über die russischen Streitkräfte vorsieht. Eine bestürzte Wissenschaftlerin aus St. Petersburg schreibt ihrer Freundin in Deutschland:

"15 Jahre! Mit anderen Worten: Sie können nicht die Wahrheit sagen – nicht in der Presse, nicht in Schulen und Universitäten. Es wurden methodische Anleitungen verteilt, wie man Fragen über die "Sonderoperation" in der Ukraine beantworten kann. Russland wurde durch die jahrelangen Bemühungen von Putin und seinem Team in ein "Lügenimperium" verwandelt."

Begriffe wie "Angriff", "Invasion" und "Kriegserklärung" zu verwenden, ist verboten.

Stattdessen wird der Krieg als „militärische Sonderoperation" bezeichnet. Auch von zivilen Opfern darf nicht gesprochen werden. Es gilt das Bild einer kontrollierten Operation zur Befreiung einer vermeintlich unterdrückten ukrainischen Bevölkerung durchzusetzen. Einer „Operation“ die weder eigene Verluste kostet, noch zu Opfern in der Zivilbevölkerung führt. Unwillkürlich fühlt man sich an den sowjetischen Afghanistankrieg (1979-1989) erinnert, der den Sowjetbürger*innenn damals als „sozialistische Bruderhilfe“ verkauft wurde.[1] Dass in Afghanistan über 15.000 sowjetischen Soldaten gefallen waren, wurde lange Zeit vertuscht. Jetzt werden die Todesumstände der in der Ukraine gefallenen russischen Soldaten erneut vor ihren Familien verheimlicht. Ukrainische Quellen berichten vom Einsatz mobiler Krematorien in der russischen Armee. Solche Parallelen zum Afghanistankrieg könnten bei der russischen Bevölkerung und im russischen Militär aber irgendwann Zweifel an den Desinformationskampagnen der russischen Staatsmedien wachsen lassen.

 

"Neonazis", "Faschisten" und "geistige Erben Stepan Banderas"

Als 2013 die Proteste auf dem Kiever Majdan gegen die autoritäre Herrschaft Janukovyčs und dessen außenpolitische Volte Richtung Moskau zunahmen, führten die russischen Medien einen geradezu demagogischen Informationskrieg, in dem der Faschismus-Vorwurf gegen die Ukraine zum zentralen Motiv wurde. Der Majdan und die neue Kiever Regierung wurden als „Faschisten“, „Neonazis“, „Russenhasser“ und „Antisemiten“ sowie als „geistige Erben Stepan Banderas“, des Führers der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN), bezeichnet.[2] Die Aufladung des Konflikts mit Geschichtsbildern aus dem Zweiten Weltkrieg bezog sich explizit auf die OUN und ihre zeitweilige Zusammenarbeit mit den National­sozialisten. Sie führte dazu, dass die Bedeutung der rechtsextremen Partei Swoboda oder des „Rechten Sektor“ in der Ukraine maßlos übertrieben und als repräsentativ für den Majdan und dann sogar für den gesamten ukrainischen Staat dargestellt wurden.[3]

Heute versucht Putin die bewährten Codewörter, die der russischen Bevölkerung über acht Jahre „eingehämmert“ worden sind, erneut einzusetzen, um seinen brutalen Angriffskrieg zu legitimieren: Er spricht nicht nur der Ukraine das Existenzrecht ab, sondern diffamiert die ukrainische Regierung unter Präsident Selenskyj als „Neonazis“. In seiner Kriegserklärung sagt er über die ukrainische Regierung:

"Sie werden…werden morden, so wie seinerzeit auch die nationalistischen ukrainischen Banden und ihre Strafkommandos, Hitlers Handlanger im Großen Vaterländischen Krieg, unschuldige Menschen ermordet haben. Und sie erheben ganz offen Anspruch auf eine ganze Reihe weiterer russländischer Gebiete."

Putin spricht davon, dass in der ukrainischen Gesellschaft nach dem Euromaidan angeblich „extremer Nationalismus aufkam, der rasch die Gestalt von aggressivem Russenhass und Neonazismus annahm“

Was ist von solchen Vorwürfen zu halten? Selenskyj, der 2019 demokratisch zum 6. Präsidenten der Ukraine gewählt wurde, besitzt jüdische Wurzeln und zählt selbst zur Gruppe der russischsprachigen Ukrainer*innen. In den Parlamentswahlen 2019 blieben rechtsradikale Parteien, wie Rechter Sektor, Freiheit (Swoboda) und Nationaler Korpus unterhalb der Fünf-Prozent-Hürde.

In Teilen der russischen Öffentlichkeit scheinen die Propagandalügen dennoch zu verfangen, denn seit 2014 wurden negative Berichte über angebliche ukrainische „Faschisten“ und ukrainische Drogenkartelle systematisch in den Staatsmedien verbreitet. Zugleich stoßen Bilder von Ukrainer*innen als Nazi-Kollaborateure in der älteren russischen Generation auf frühere Stereotype, die in Stalins Propaganda der Nachkriegszeit, insbesondere während der bis in die 1950er Jahre dauernden Kämpfe gegen den ukrainische Partisanenuntergrund in der Westukraine, Verbreitung fanden. Die Instrumentalisierung dieser Bilder ist auch möglich, weil es in Russland bisher an empirischen Forschungen zum Phänomen der, alle Nationalitäten umfassenden, Kollaboration mit den Nationalsozialisten mangelt, beziehungsweise die vorliegenden Arbeiten keine breitere russische Öffentlichkeit erreichen.[4]

In der Ukraine konnte 2015 die Öffnung der Geheimdienstarchive für die historische Forschung immerhin erste Impulse für die Erforschung von Kollaboration, Holocaust und zivilen Opfern setzen.

Bilder von den Ukrainer*innen als Antisemiten und Nazi-Kollaborateure stoßen aber auch in der deutschen Öffentlichkeit auf einen gewissen Resonanzboden. Dazu haben neben den Erfahrungen aus dem Zweiten Weltkrieg weitere Ereignisse aus der Vor- und Nachkriegszeit, die ein breites Medienecho fanden, beigetragen: Im Jahr 1926 hatte das Pariser Attentat des ukrainischen Juden Scholem Schwarzbard auf Symon Petljura, den ehemaligen Präsidenten der Ukrainischen Volksrepublik (1919-1920) und der nachfolgende Prozess vor einem Pariser Gericht weltweit Aufmerksamkeit erfahren. In dem Prozess wurden die tausendfachen Morde an ukrainischen Juden und Jüdinnen in den Pogromen des Bürgerkriegs thematisiert. Schwarzbard wurde von dem Gericht am Ende freigesprochen. Zugleich blieb vielen, die den Prozess verfolgten, von Petljura das Bild eines Pogromtäters par excellence in Erinnerung.[5]

Weltweites Aufsehen erregte auch die Ermordung des nach Kriegsende nach München emigrierten ukrainischen Nationalisten und zeitweiligen Nazi-Kollaborateurs Stepan Bandera im Oktober 1959. Die deutsche Öffentlichkeit erfuhr im Mordprozess 1962 von der Verwicklung Banderas und seiner Organisation ukrainischer Nationalist*innen in die Verbrechen der Nazis in der Ukraine.[6] Diese Ereignisse schufen bestimmte Wahrnehmungsmuster von ukrainischen Nationalist*innen, derer sich die russische Propaganda gegenwärtig bedient, um die politischen Akteur:innen des aktuellen ukrainischen Staates auch in Westeuropa zu delegitimieren.

 

Die politische Instrumentalisierung des Genozid-Begriffs

Putin rechtfertigt sein militärisches Eingreifen mit der Propaganda-Lüge eines angeblichen „Genozids“ der ukrainischen Regierung an der russischsprachigen Bevölkerung im Donbass. In seiner Rede spricht er von einem "Genozid, der an vier Millionen Menschen verübt wird, nur weil sie sich mit dem vom Westen unterstützten Staatsstreich in der Ukraine im Jahr 2014 nicht abfinden wollten, weil sie gegen den zur staatlichen Bewegung erhobenen aggressiven Steinzeit-Nationalismus und Neonazismus eingetreten sind. Weil sie für ihre elementaren Rechte kämpfen – für das Recht auf ihr Land, das Recht, in ihrer Sprache zu sprechen, das Recht auf Erhaltung ihrer Kultur und ihrer Traditionen."

Im Donbass wurde das Narrativ eines vermeintlichen geplanten Genozids der ukrainischen Armee an der Zivilbevölkerung bereits 2014 von separatistischen Kräften politisch instrumentalisiert.[7]
Selbst Menschen aus dem Donbass, die inzwischen sehr viel Groll gegen den ukrainischen Staat hegen, weil sie sich von ihm zurückgelassen fühlen, erkennen die Absurdität eines solchen Vorwurfs an. Wie sollte der ukrainische Staat einen Genozid auf einem Territorium verüben, das gar nicht von ihm, sondern von den durch Russland gestützten Separatisten kontrolliert wird?

Dass das Argument eines vermeintlichen Schutzes der russischsprachigen Bevölkerung vollständig vorgeschoben ist, wird zudem daran sichtbar, dass die von Putin entsandten russischen Truppen Städte wie Charkiv und Mariupol – beides Städte mit einer großen russischsprachigen Bevölkerung und historisch gewachsenen engen Verflechtungen nach Russland – gerade ohne Rücksicht auf zivile Opfer einkesseln und dem Erdboden gleich machen.

Die russische Propaganda weiß um die Signalwirkung des Genozid-Begriffs in einer westlichen, insbesondere aber der deutschen Öffentlichkeit. Putin versucht seinem Angriffskrieg mit Hilfe des Völkerrechts den Anschein der Legalität zu verleihen, wobei er sich am Präzedenzfall des Kosovo orientiert. Die Tatsache, dass der Diktator sich offenbar überhaupt dazu genötigt sieht, die vermeintliche Rechtsstaatlichkeit seines Handelns nach innen und außen zu kommunizieren, zeigt, dass diese noch eine gewisse Bedeutung zu haben scheinen für die Zustimmung der russischen Bevölkerung. Vor diesem Hintergrund lässt der zum jetzigen Zeitpunkt rein symbolpolitische Versuch der ukrainischen Regierung, die russischen Kriegsverbrechen vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag zur Anklage zu bringen und den gegen sie selbst erhobenen Vorwurf des Genozids als Lüge zu entlarven, auf eine entsprechende Resonanz hoffen.

Der Genozid-Begriff hat im 21. Jahrhundert sowohl in der Ukraine als auch in Russland eine starke Politisierung erfahren. Das Anliegen des unabhängigen ukrainischen Staates bestand vor allem in der Anerkennung der großen Hungerkatastrophe der Jahre 1932-1933 unter Stalin als Völkermord. Während der Präsidentschaft von Viktor Juščenko (2005-2010) wurde der sogenannte Holodomor im Jahr 2006 in der Ukraine per Parlamentsbeschluss zum Genozid am ukrainischen Volk erklärt. Die Ukraine versuchte diese Anerkennung seither auch international durchzusetzen.[8] So erreichte den Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages zum 85. Jahrestag des Holodomor[9] eine von über 56.000 Menschen unterschriebene Forderung, der Bundestag möge beschließen, dass der Holodomor, „ein Genozid an dem ukrainischen Volke, verursacht durch das sowjetische Regime unter der Führung von Stalin“, gewesen sei.

In Russland ist vor allem im Zuge des 80. Jahrestages des deutschen Angriffs auf die Sowjetunion im Jahr 2021 die internationale Anerkennung des nationalsozialistischen „Genozids am sowjetischen Volk“ sowohl durch die internationale Geschichtswissenschaft als auch durch die Gerichte eingefordert worden.

Damit wollte man das politische Kapital der hohen Opferzahl des deutschen Vernichtungskriegs geltend machen. Diese sollten wieder als allgemeine „sowjetische Opfer“ verstanden werden und nicht etwa in nationale Untergruppen (Russen, Ukrainer, Belarussen und andere) zerfallen. Zum 75. Jahrestag des Sieges über Hitler-Deutschland 2020 hatte die Russische Föderale Archivagentur (Rosarchiv) gemeinsam mit dem Föderalen Sicherheitsdienst, dem Außenministerium, dem Innenministerium sowie dem Verteidigungsministerium ein großes Internetportal online gestellt. Wie es auf der Internetseite heißt, zielt das Projekt darauf ab, den Völkermord an friedlichen Sowjetbürgern zu dokumentieren und der Opfer zu gedenken. Es enthält Dokumente zu allen besetzten Gebieten der ehemaligen Sowjetunion, also auch zu den ukrainischen, belarussischen, baltischen und anderen Sowjetrepubliken. Allerdings findet sich wenig spektakulär Neues, es handelt sich zumeist um bereits publizierte Dokumente. Die Archivbestände der russischen Geheimdienstarchive wurden – anders als in der Ukraine – noch nicht geöffnet. Insgesamt verfolgt das Internetportal wohl vor allem den Zweck, die sowjetischen Opfer zu Gunsten Russlands zu vergemeinschaften und nationalen Opfererzählungen, wie sie in der Ukraine und andernorts entstanden, entgegenzuwirken.

Lange Zeit war diese russische Sicht auf die Kriegsopfer auch in Deutschland sehr verbreitet, wie 2014 sichtbar wurde: zum Beispiel im Brief führender Persönlichkeiten aus dem öffentlichen Leben, die an die historische Schuld Deutschlands gegenüber Russland mahnten.[10] Dass diese historische Schuld gegenüber der Ukraine mindestens genauso groß ist, wurde dabei ausgeblendet. An diesem blinden Fleck haben weder Bestseller wie Timothy Snyders Darstellung Bloodlands noch das letzte deutsche Entschädigungsprogramm für Zwangsarbeiter*innen etwas geändert, das einen Hinweis darauf bot, wie stark die Ukraine unter dem Krieg und der Besatzung zu leiden hatte.[11] Erschreckende Parallelen bei der Instrumentalisierung des Genozid-Begriffs gibt es auch in Belarus. Dort hatte Präsident Lukaschenka das Narrativ vom Genozid am belarussischen Volk 2021 ideologisch, politisch und juristisch gegen die Oppositionsbewegung eingesetzt.

 

"Entnazifizierung" - Putins Propaganda adressiert auch die deutsche Öffentlichkeit

Der Begriff der „Entnazifizierung“, den Putin in seinen Reden immer wieder benutzte, ist vor allem für die deutsche Gesellschaft zumeist positiv besetzt. Inhaltlich umcodiert, soll seine Verwendung eine Spaltung der deutschen Gesellschaft befördern. 2014 zeigte diese Propagandastrategie teilweise Wirkung, als prominente Stimmen von "Putinversteher*innen" in den Diskurs einflossen. 

Putin füllt diesen Begriff nun mit neuen Inhalten, und man kann vermuten, dass die von ihm offenbar bereits geplante "Entnazifizierung" der ukrainischen Eliten de facto eine breite Säuberungskampagne gegen Akteur*innen aus der ukrainischen Zivilgesellschaft beinhaltet. Die Rede von einer Entnazifizierung ukrainischer Eliten erinnert zugleich an die Rhetorik stalinistischer Schauprozesse und Säuberungskampagnen in den 1930er Jahren. In Russland war bereits 2014 ein Gesetz verabschiedet worden, das die „Rehabilitierung des Nazismus“ unter Strafen von bis zu drei Jahren Haft stellt. Darunter wurde die öffentliche Verbreitung von „Falschinformationen“ über die Aktivitäten der UdSSR während des Zweiten Weltkriegs und über Veteranen des Großen Vaterländischen Krieges gefasst.

Im ukrainischen Kontext nimmt der Begriff Bezug auf die sogenannten "Dekommunisierungsgesetze", die im April 2015 unter Präsident Porošenko verabschiedet wurden und die auf die vollständige Umgestaltung der staatlichen Gedenkpolitik abzielten. Demnach sollten alle Symbole des Kommunismus (und des Nationalsozialismus) verboten und Verstöße gegen die Gesetze mit Haftstrafen von bis zu fünf Jahren geahndet werden. Innerhalb von sechs Monaten mussten alle kommunistischen Denkmäler mit Ausnahme derjenigen für den Zweiten Weltkrieg entfernt werden. Die Umsetzung war rasant: Bis Ende 2016 wurden nach Angaben des ukrainischen Instituts für Nationales Gedenken 32 Städte, 955 Ortschaften, 25 Bezirke und 51.493 Straßen, Parks und andere Orte in der Ukraine umbenannt. Darüber hinaus wurden 2.389 Denkmäler und Gedenktafeln abgebaut, darunter 1.320 Lenin-Statuen. Damit wurde das visuelle Erbe des Kommunismus radikal beseitigt. Eine kritische Aufarbeitung der sowjetischen Vergangenheit, die sich mit den Ukrainer*innen als Opfer und Täter*innen auseinandersetzt, steht jedoch noch aus.[12] Putin griff dieses Thema in einer bedrohlichen Passage seiner Rede auf: "Eine Überwindung des Kommunismus wollt Ihr? Alles klar, vollkommen einverstanden. Aber dann bitte nicht auf halbem Weg stehen bleiben. Wir zeigen euch gerne, was eine echte Überwindung des Kommunismus für die Ukraine bedeutet."

 

Militärische Mittel des 20. Jahrhunderts treffen auf moderne Kommunikationsmethoden des 21. Jahrhunderts

Putins Politik ruft Erinnerungen an das Instrumentarium des Stalinismus wach: Geheimdienste und Militär, Unterdrückung und Repressionen gegen zivilgesellschaftliche Akteur*innen, Gleichschaltung der Medien, aggressive Propaganda- und Desinformationskampagnen. Zugleich trifft er dabei auf eine moderne, global vernetzte Welt, deren Medien und neue digitale Kommunikationsformen er jetzt zunehmend repressiver zu kontrollieren versucht.

Kein Wunder: Über die sozialen Medien erreichen uns in diesen Tagen Bilder von Menschen in den von der russischen Armee eingekreisten ukrainischen Städten. Ukrainer*innen berichten uns mit großer Entschlossenheit in deutscher oder englischer Sprache, wie der Krieg ihren Alltag zerstört hat. Wir organisieren Zoom-Konferenzen, bei denen unsere Kolleg*innen aus den umkämpften Städten in der Ukraine uns an ihrem unfassbaren Leid teilhaben lassen. Wir erhalten massenhaft Emails und WhatsApp-Nachrichten. All dies zeugt auch davon, dass die vielfältigen Verflechtungen der Ukrainer*innen mit Europa in den letzten Jahren zugenommen haben, nicht zuletzt seit der Einführung des visafreien Reiseverkehrs 2017. Die jüngere Generation nutzte die Möglichkeiten, in Europa zu studieren, einen internationalen Freiwilligendienst zu absolvieren oder sich in einer internationalen Klimabewegung zu engagieren. Das Erschütternde dieses Kriegs liegt auch in dem Aufeinanderprallen einer brutalen russischen Kriegsführung, die sich der Methoden des 20. Jahrhunderts bedient, und modernen Kommunikationsformen des 21. Jahrhunderts, die uns unmittelbar mit Bildern des menschlichen Leidens in der Ukraine überfluten.

Wir erleben, wie der heiße Krieg in der Ukraine von einem Informationskrieg begleitet wird. Der wird wohl auch in Deutschland seine Wirkung nicht ganz verfehlen. Dabei geht es nicht nur um Teile des postsowjetischen migrantischen Milieus, die seit Jahren die russischen Propagandasender konsumieren, sondern auch um Segmente der deutschen Mehrheitsgesellschaft, in denen etwa von russischen Trollfabriken und dem russischen Ausslandssender RT verbreitete Verschwörungstheorien zur Corona-Epidemie schon auf fruchtbaren Boden fielen. Aber auch deutsche Politiker*innen und Medien sind nicht von vornherein vor der Wirkungsmacht der Putinschen Kriegsrhetorik gefeit. Deshalb sind die Aufdeckung und Dekonstruktion der Lügen der russischen Staatsmedien für eine breitere deutsche Öffentlichkeit zentral.

 


 

[1] Tanja Penter; Esther Meier (Hg.): Sovietnam – Die UdSSR in Afghanistan 1979-1989, Ferdinand Schöningh Paderborn 2017.
[2] Rede des russländischen Präsidenten Vladimir Putin am 18.3.2014 im Kreml vor den Abgeordneten der Staatsduma, den Mitgliedern des Föderationsrats, den Leitern der Regionalverwaltungen und Vertretern der Zivilgesellschaft, in: Osteuropa, 5–6/2014, S. 87–99.
[3] Dass die Führer von Swoboda und Rechter Sektor bei den Präsidentschaftswahlen am 25. Mai 2014 jeweils weniger als ein Prozent der Stimmen erhielten oder bei den Parlamentswahlen am 26.10.2014 Swoboda an der Fünf-Prozent-Hürde scheiterte, änderte nichts an der Popularität dieses pauschalen Faschismus-Vorwurfs.
[4] Vgl. z.B. Johannes Due Enstad: Soviet Russians under Nazi occupation. Fragile Loyalties in World War II, Cambridge University Press 2018. Vgl zudem die Quellensammlung zum sowjetischen Prozess gegen Vlasov: A.N. Artizov (Hg.): General Vlasov: istorija predatel’stva (v trech knigach), Moskva 2015.
[5] David Engel (Hg.): The Assassination of Symon Petliura and the Trial of Scholem Schwarzbard 1926-1927: A Selection of Documents (Archive of Jewish History and Culture), Bd. 2, Göttingen 2016.
[6] Karl Anders: Mord auf Befehl. Der Fall Staschinskij. Eine Dokumentation aus den Akten, Tübingen 1963.
[7] Dmytro Tytarenko: „Der Feind ist wieder in unser Land einmarschiert […]“. Der Zweite Weltkrieg in der Geschichtspolitik auf dem Gebiet der „Donecker Volksrepublik“ (2014–2016), in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas, 68, 2020/3–4, S. 508-556.
[8] Mehreren Staaten, darunter Australien, Kanada, Polen und die baltischen Staaten, erkannten die Hungersnot offiziell als Völkermord an. Das europäische Parlament erkannte den Holodomor 2008 als Verbrechen gegen die Menschlichkeit, aber nicht als Völkermord an.  
[9] Der ukrainische Begriff Holodomor bedeutet Tötung durch Hunger.
[10] "Wieder Krieg in Europa? Nicht in unserem Namen". In: ZEIT online vom 5. Dezember 2014 (zuletzt: 11.3.2022)
[11] In der Ukraine erhielten über 465 000 Opfer ehemaliger Zwangsarbeiter eine Auszahlung, in Russland 227 000 und 119 000 in Belarus. Dazu Julia Landau: „Es ist unzulässig, dass die Worte der Entschuldigung nur an den Grabsteinen erklingen“. Zwangsarbeiterentschädigung in der Ukraine und der Republik Moldau; Tanja Penter: Die belarussische Stiftung „Verständigung und Aussöhnung“. Zwangsarbeiterentschädigung im Schatten der Lukašenka-Herrschaft; Tanja Penter: Zwischen Misstrauen, Marginalität und Missverständnissen. Zwangsarbeiterentschädigung in Russland, Litauen und Lettland in: Constantin Goschler (Hg.): Die Entschädigung von NS-Zwangsarbeit am Anfang des 21. Jahrhunderts, Bd. 4: Helden, Opfer, Ostarbeiter. Das Auszahlungsprogramm in der ehemaligen Sowjetunion. Göttingen 2012, hier S. 7–103 und 104–193, 194–280.
[12] Florian Peters, ‘Roter Mohn statt Rotem Stern. “Entkommunisierung” der Geschichtskultur in der Ukraine’, Osteuropa 66 (2016): 59–77; Gerhard Simon, ‘Good Bye Lenin! Die Ukraine verbietet kommunistische Symbole’, Osteuropa 66 (2016): 79–94; Tatiana Zhurzhenko, ‘Erinnerungskonflikte: Gedenkpolitik im postsowjetischen Charkiv’, Osteuropa 65 (2015): 153–171; Nikolay Koposov, Memory Laws, Memory Wars: The Politics of the Past in Europe and Russia (Cambridge: Cambridge University Press, 2018), 177–206.