Was will Putin? wurde in den letzten Wochen gerätselt. Eher sollte gefragt werden, was will der Westen tun, um die Pläne des russischen Präsidenten zu verhindern. Dessen Pläne sind umfassend und unmissverständlich deutlich in den beiden im Dezember veröffentlichten Schreiben an die NATO und an die Regierung der USA formuliert worden, darin verlangt Putin:
1. Keinen NATO-Beitritt weiterer ehemaliger Sowjetrepubliken.
2. Den Abzug amerikanischer Atomwaffen aus Europa; Rückbau der militärischen Infrastruktur des westlichen Bündnisses auf den Zustand von 1997.[1]
Die hektischen diplomatischen Bemühungen seit Dezember 2021 konnten kaum Ergebnisse bringen, weil die absolute Setzung des russischen Standpunktes keinen Raum für Verhandlungen bot. Insofern sieht im Nachhinein alles, was passiert ist, nach einem minutiös geplanten Szenario aus, das punktgenau mit der Rückkehr der russischen Olympioniken und der anschließenden Rede Putins an die Nation am 21. Februar 2022 seinen ersten Abschluss fand.[2]
Als bizarr bezeichneten einige Presseberichte den einstündigen Auftritt Putins, andere brachten Verwunderung darüber zum Ausdruck, dass die Ansprache äußerst lange dauerte und wie eine Geschichtsstunde klang. Ausufernd und unterbrochen durch Seufzer erläuterte Putin seine Ansichten zur Genese der ukrainischen Staatlichkeit sowie die bekannte Position zur NATO-Osterweiterung. Die eigentliche Rechtfertigung für seine Anerkennung der Volksrepubliken Luhansk und Donezk fiel im Verhältnis dazu erstaunlich kurz aus. Wozu also die ausführlichen Geschichtsbetrachtungen? Welchen Zweck verfolgten sie und welche Inhalte sollten hervorgehoben werden? Wie fügt sich diese Rede in die russische Geschichtspolitik der Ära Putin ein?
Putin ging es offensichtlich nicht nur darum, die bevorstehende Militäraktion in der Ostukraine als Selbstverteidigung zu legitimieren. Das tat er zwei Tage später, am 24. Februar 2022, in einer weiteren Rede an die Nation.[3] Er wollte zuvor die Gelegenheit nutzen, den russischen und den ukrainischen Bürgerinnen und Bürgern seine eigene historische Wahrheit zu vermitteln. Danach sind Russland, die Ukraine sowie Belarus historisch, kulturell, sprachlich und religiös untrennbar miteinander verbunden. Der ukrainische Staat müsse als ein Zufallsprodukt der bolschewistischen Nationalitätenpolitik betrachtet werden und sei zudem ein Ergebnis des Zusammenbruchs der Sowjetunion. Für diesen macht Putin die Kommunistische Partei verantwortlich, die am Ende der 1980er Jahre ihre Macht verspielt habe. Er vermittelte deutlich, dass er nicht von der Wiederherstellung der Sowjetunion träume. Seine Vision ist vielmehr die Rückkehr zu einem imaginären, vorrevolutionären Zustand, einem russischen Imperium, in dem die ostslawischen, christlich-orthodoxen Völker harmonisch miteinander lebten. Diese Idee ist nicht neu. Immer wieder wurde darauf verwiesen, dass Putin sich an konservativen, slawophilen Denkern, wie dem Philosophen Iwan Iljin oder dem Schriftsteller Alexander Solženicyn, orientiere.[4] Diese phantasierten von einer eurasischen Zivilisation, welche das wahre Christentum bewahre und die Menschheit vor dem moralischen Verfall der westlichen Welt rette. Das daraus abgeleitete Konzept der „Russischen Welt“ (Russkij Mir), diente der Regierung Putins schon zur Legitimierung der Invasion in Georgien 2008 und der Annexion der Krim 2014.[5] Innenpolitisch sollen „traditionelle russisch geistig-moralische Werte“, wie es zuletzt in einem Gesetzesentwurf hieß, „gefestigt und verteidigt“ werden.[6] Besondere Betonung finden etwa der Wert der traditionellen Familie, die Vaterlandsliebe sowie persönliche Qualitäten wie Tapferkeit, Ehrgefühl und Aufrichtigkeit. Mit der gesellschaftlichen Realität in Russland, die von sozialem Niedergang, rechtlicher Willkür und dem skrupellosen Handeln einer korrupten Elite geprägt ist, lässt sich das nicht in Einklang bringen. Vor diesem Hintergrund muss Geschichte Defizite kompensieren. Sie dient als Legitimitätsressource einer autokratischen Staatsführung, die faktisch nicht abwählbar ist, aber trotzdem der Zustimmung bedarf.
Die Geschichtsstunde des russischen Präsidenten hatte somit zwei Funktionen: innenpolitisch bediente sie das Bedürfnis nach nationaler Größe und einem starken, weisen Führer, außenpolitisch lieferte sie krude Argumente für die Verschleierung der Expansionsgelüste Putins und seiner brutalen und menschenverachtenden Machtpolitik.
Die real existierende und aggressive Geschichtspolitik Putins
Die bei dieser Gelegenheit formulierten Thesen waren jedoch nicht neu und eine aggressive Geschichtspolitik betreibt der Kreml schon seit zwei Jahrzehnten. Im Mittelpunkt steht die Auseinandersetzung mit den baltischen Staaten, Polen und der Ukraine um die Deutung von Ereignissen des Zweiten Weltkriegs. Die meisten Konflikte betreffen den Hitler-Stalin-Pakt, zu dessen Folgen die sowjetische Besatzung der Westukraine, des Baltikums und östlicher Gebiete Polens gehörten.[7] Schon 2009 wurde eine staatliche Kommission eingesetzt, die „Geschichtsfälschung zum Nachteil der Interessen Russlands“ aufspüren und verhindern sollte.[8] Seitdem wurde der Spielraum für Historiker*innen, die sich kritisch mit dem Stalinismus sowie mit Fragen des Kriegsbeginns, der Kollaboration und Kriegsverbrechen der Roten Armee beschäftigen, immer enger. Zunächst sahen sich die Kolleg*innen mit Schwierigkeiten bei der Publikation strittiger historischer Themen oder mit Medienkampagnen gegen sie konfrontiert. Mittlerweile sind Geschichtsgesetze verabschiedet worden, die es ermöglichen, Historiker*innen für ihre Aussagen und Veröffentlichungen strafrechtlich zu belangen. Verboten sind Äußerungen, die den heldenhaften Sieg im „Großen Vaterländischen Krieg“ verleumden oder den Nationalsozialismus mit dem Stalinismus gleichsetzen. Es sind einige Fälle bekannt, in denen diese Gesetze Anwendung gefunden haben, vor allem aber werden sie als „dubinka“ (Schlagstock) wahrgenommen, der jederzeit von staatlichen Stellen gezückt werden kann. Insofern befördern die Gesetze vor allem Selbstzensur und begrenzen den öffentlichen Geschichtsdiskurs.[9]
In der Praxis schränken andere staatliche Maßnahmen die Arbeit kritisch denkender Forscher*innen vielleicht sogar noch mehr ein als die genannten Geschichtsgesetze. Das zeigt vor allem der Umgang mit der Menschenrechtsorganisation „Memorial“, die für die Aufklärung der Verbrechen des Stalinismus seit ihrer Gründung in den Jahren der Perestroika eine Schlüsselrolle spielt. Zu keinem Zeitpunkt ist die Arbeit „Memorials“ staatlich unterstützt worden, immer waren sie mit Schwierigkeiten und Verleumdungskampagnen konfrontiert. Da „Memorial“ u.a. während der beiden Tschetschenienkriege (1994-1996; 1999-2000) die durch russische Truppen verübten Menschenrechtsverletzungen anprangerte und sich für die Opfer einsetzte, wurden die Aktivist*innen des Verrats bezichtigt. Durch ständige Anklagen und Gerichtsverfahren konnten sie kaum mehr ihrer Arbeit nachgehen. Diese staatliche Taktik, oppositionelle Gruppen durch juristische Verfahren zu drangsalieren, nahm mit dem Gesetz über die „ausländischen Agenten“ noch zu. Es wurde 2012 verabschiedet und hatte zum Ziel, alle Organisationen, die finanzielle Unterstützung vom Ausland erhielten, zu diskreditieren und ihnen die Arbeitsgrundlage zu entziehen. Im Jahr 2020 wurde dieses Gesetz weiter verschärft, indem es auf Einzelpersonen ausgeweitet wurde. Auf nochmals andere, perfide Weise wurden einzelne Historiker*innen, die sich um die Aufklärung stalinistischer Verbrechen verdient gemacht haben, mundtot gemacht. Auf der Grundlage fabrizierter Anklagen und falscher Zeugenaussagen erhielten sie Haftstrafen für Vergehen, die sie nicht begangen hatten. Der bekannteste Fall ist der des karelischen Forschers Jurij Dmitriev, der wegen sexueller Handlungen an Minderjährigen zu 15 Jahren Lagerhaft verurteilt worden ist.[10]
Mit Blick auf den geplanten Krieg: Das Verbot von „Memorial"
Auf der Grundlage absurder Behauptungen ist Ende Dezember 2021 gerichtlich die Auflösung von „Memorial International“ sowie des „Menschenrechtszentrums Memorial“ angeordnet worden.[11] Dieses Vorgehen verdeutlicht erstens das Rollback in der Aufarbeitung des Stalinismus. Die glorreiche, vaterländische Geschichte soll offenbar nicht mehr von den Verbrechen Stalins und des Geheimdienstes NKWD – KGB überschattet werden. Dies auch vor dem Hintergrund, dass die Nachfolgeorganisation FSB die Politik Russlands heute bestimmt. Zweitens bezweckte die Schließung „Memorials“ die Einschüchterung von Oppositionellen und Menschenrechtsaktivist*innen und die Schwächung ihrer Netzwerke, vermutlich schon in der Voraussicht auf den Krieg gegen die Ukraine und die Proteste, die er im eigenen Land hervorrufen würde. Drittens zeigte die Art des Vorgehens Ende letzten Jahres, dass die russische Führung zu diesem Zeitpunkt schon beschlossen hatte, sich nicht mehr um ihre Reputation im Ausland zu sorgen. Im Gegenteil: es war ein Zeichen Richtung Westen, die in Europa geltenden Regeln zukünftig nicht mehr anzuerkennen. Insofern lässt sich das Verfahren gegen „Memorial“ als der erste Akt einer dramatischen Auseinandersetzung um „Spielregeln“ in der internationalen Politik deuten. Putin will, dass nach seinen brutalen Regeln gespielt wird. Sie beruhen auf Erpressung, dem Recht des Stärkeren, auf der Androhung und rücksichtslosen Anwendung von Gewalt. Er wird versuchen, die Eingangs genannten Ziele mit allen (!) ihm zur Verfügung stehenden Mitteln durchzusetzen. Insofern braucht es jetzt kein Rätseln mehr um die Frage Was will er? oder Glaubt er wirklich an seine historische Mission?, sondern den Willen, seinen Handlungsspielraum so schnell und so drastisch wie möglich einzuschränken.
[1] Vgl. Sabine Fischer, Moskaus Verhandlungsoffensive, 22.12.2021 (zuletzt: 25.02.2022), der Vertragsentwurf in englischer Übersetzung. (zuletzt: 25.02.2021).
[2] Deutsche Übersetzung im Blog der Zeitschrift „Osteuropa“ (zuletzt: 27.02.2022).
[3] Hier die vom Kreml veröffentlichte Rede Putins (zuletzt: 27.02.2022).
[4] Vgl. Timothy Snyder, Gott ist Russe, in: Eurozine, 26. Juni 2018 (zuletzt: 23.02.2022); Katharina Bluhm, Sozialer Konservatismus und autoritäre Staatsvision in Russland, in: Religion & Gesellschaft in Ost und West (RGOW), 49 (10), 13-15.
[5] Vgl. Ulrich Schmidt, Russkij Mir, in dekoder 20.05.2016 (zuletzt: 27.02.2022).
6] Der Gesetzesentwurf ist aufgrund des starken Protests von Kulturschaffenden am 14.02.2022 zurückgestellt worden (zuletzt: 27.02.2022).
[7] Susan Stewart, Geschichte als Instrument der Innen- und Außenpolitik am Beispiel Russlands. Wie die Gegenwart die Vergangenheit beeinflusst, SWP-Studie 2020/S 22, 11.11.2020 (zuletzt: 26.02.2022).
[8] Vgl. Corinna Kuhr-Korolev, Erinnerungspolitik in Russland. Die vaterländische Geschichte und der Kampf um historisches Hoheitsgebiet, in: Neue Politische Literatur, Jg. 54 (2009), Heft 3, S. 369-383.
[9] Vgl. Bericht der Fédération internationale des ligues des droits de l’Homme (fidh): Rossija.-Prestuplenija protiv istorii [Russland. Verbrechen gegen die Geschichte], Nr. 761, Juni 2021.
[10] Vgl. Memorial Deutschland: Der Fall Dmitriev – Eine Übersicht (zuletzt: 26.02.2022).
[11] Vgl. die Chronologie der Ereignisse und entsprechende Dokumente unter memo.ru und im Blog der Zeitschrift Osteuropa.