von Daniel Weinmann

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26. Oktober 2022

Der Krieg in der Ukraine ist nicht der erste in den Sozialen Medien.[1] Doch kein anderer ging bisher so viral: 62 Milliarden[2] Aufrufe für den Hashtag #ukraine auf der Social Media Plattform TikTok allein deuten die Dimension der Reichweite an, die schon zu der Bezeichnung „TikTok Krieg“ führte.[3] Die verschiedenen Akteur:innen stehen sich nicht nur physisch-militärisch gegenüber, sondern ringen in einem steten Kampf um Likes in den Sozialen Netzwerken, um die Aufmerksamkeit eines weltweit wachsenden Publikums und die Hoheit der Narrative. Inzwischen ist die Rede von einem „LikeWar“[4], in dem es allerdings nicht um Likes, sondern über Leben und Tod geht. Dieser Bereich der Cognitive Warfare, bei der das Denken und Handeln von Individuen und Kollektiven das Schlachtfeld bildet, zieht sich durch alle Bereiche des Krieges in der Ukraine und darüber hinaus. Dabei zeigt sich der weltanschauliche Gegensatz zwischen Diktatur und Demokratie auch im Umgang mit und Einsatz von Sozialen Medien. In Russland haben sie inzwischen den Küchentisch in der sprichwörtlichen ‚Moskauer Küche‘ als oppositionellen Rückzugsort abgelöst, sie geraten aber immer mehr unter Druck. Antikriegsbewegungen in Russland wurden schnell unterdrückt, die anfänglichen Proteste auf den Straßen sind verebbt und werden nun auch im Netz verfolgt.[5]

Militärisch zunächst unterlegen, gewann die Ukraine auf dem kommunikativen Schlachtfeld hingegen schnell die Oberhand. Soziale Medien sind Teil einer in die ukrainische Kriegsführung integrierten Kommunikationsstrategie, die auch die Zivilbevölkerung einschließt. Videos gehen viral, die den Widerstandswillen verdeutlichen und motivierende Geschichten ukrainischer Alltagsheld:innen zeigen sollen. Sie evozieren ein Gemeinschaftsgefühl nicht zuletzt in Abgrenzung zum russischen Aggressor, mit Wirkung im In- und Ausland.[6] Auch, um den eigenen Verlusten etwas Positives und Ermutigendes entgegenzustellen. Durch das Teilen von Memes, bissigen und humoristisch zugespitzten Bildern, knüpft auch der offizielle Account der @Ukraine auf Twitter an internationale Codes und Trends an, erzeugt Aufmerksamkeit für Spenden und kann gleichzeitig Desinformationen aus Moskau parieren.[7] Private Initiativen wie bspw. die „Ukrainian Meme Forces“  oder „NAFO“ unterstützen die Ukraine, indem sie der russischen Kriegspropaganda mit Memes entgegentreten.[8] In einem Interview resümierte die für den Twitter-Account @Ukraine verantwortliche Person: „We may not have nukes, but we have memes. Call it a security memeorandum”.

 

Dis/Connecitve Society

Mehr als 75 % der Ukrainer:innen über alle Altersklassen hinweg nutzen Social Media, um sich über den Kriegsverlauf zu informieren.[9] Jede:r wird somit potentiell Promoter:in, Multiplikator:in, Informationsvorposten oder zu einem „ePartisan“. Über den Chatbot „eVorog“ (vorog, dt. Feind) haben bereits mehr als 353.000 Ukrainer:innen Bewegungen russischer Truppen an die Regierung mitgeteilt. Gezielt nutzt die ukrainische Regierung Soziale Medien, um schnell Informationen zu verbreiten, zu motivieren, oder Maßnahmen gegen den Aggressor zu koordinieren, auch in Verbindung mit Guerillas in den besetzen Gebieten.

Dagegen ist in Russland nach wie vor das Fernsehen die meistgenutzte Informationsquelle. Sanken zuletzt die Einschaltquoten der „großen Drei“ staatlichen Fernsehkanäle, stieg die Nutzungsrate des Messengers Telegram seit dem Angriff im Februar – allerdings auch saisonal durch Urlaubsreisen bedingt.[10] Laut einer aktuellen Levada-Umfrage vertrauen 51% der Russ:innen Nachrichten aus dem Fernsehen, gefolgt von 25% aus den sozialen Netzwerken, noch vor den staatlichen Nachrichtenagenturen (Ria, Tass) mit 20%.[11] Social Media bildet eine weitläufige Quelle für unabhängige Berichterstattung sowie einen Kommunikations- und Organisationsraum, der sich der Kontrolle des Kremls noch entziehen kann. Allerdings zieht der Kreml die schon länger angelegten Daumenschrauben mit der Kriegszensur stetig weiter an, um die verbliebenen demokratischen Elemente von Pluralismus, Partizipation oder Meinungsfreiheit auszumerzen.

Bevor die sozialen Netzwerke in Russland das Fernsehen zu überholen drohen, ersetzt oder funktioniert der Kreml die verschiedenen Plattformen zu einem weiteren Instrument seiner monologisierenden Propaganda um in eine Art digitale „Zombie-Kiste“.[12] Die dort als Angriff der NATO und des „Westens“ dargestellte Ausnahmesituation nutzt die russische Führung, um eine Kontrolllücke über das Internet und die sozialen Netzwerke in Russland weiter zu schließen.

Gleichzeitig läuft das auf die Etablierung einer „disconnective society“ heraus, wie der Digital-Kommunikationswissenschaftler Gregory Asmolov schreibt: Die in der russischen Gesellschaft weit verbreitete politische Apathie wird genutzt, um den jahrelang aufgebauten „totalitären Konsens“[13] (Gudkov) weiter zu festigen. Hohe Zustimmungswerte bei Umfragen und die Übernahme von ideologischen Phrasen sind demnach nicht spontan, sondern gewachsen und nun entsprechend verfestigt. Die politische Führung wirkt dabei wie ein schwarzes Loch, das die Gesellschaft immer stärker in sich hineinzuziehen versucht.[14] Dagegen nutzt die ukrainische Regierung Soziale Medien für eine gezielte Vernetzung und Austausch im In- und Ausland. Dem von Russland gestreuten Gerücht während der ersten Kriegstage im Februar, die ukrainische Regierung sei aus Kyiv geflohen, antwortete Selensky mit einem Selfie-Video. Umringt von Beratern und Mitgliedern seiner Regierung verkündete er: „Wir sind hier. Wir sind in Kyiv. Wir schützen die Ukraine“.

Aus Sorge vor einem neuen Gesetz in Russland, wonach bis zu 15 Jahre Haft für "Falschinformationen" drohen, löschten viele User:innen vorsorglich Posts oder gleich ihre Accounts. Auch Reposts, also das Teilen von Inhalten anderer, kann gefährlich sein. Anfang Juli wurde in Moskau die erste Haftstrafe wegen Kriegskritik gegen den Kommunalpolitiker Aleksej Gorinov verhängt. Für seine Äußerungen, die über soziale Netze verbreitet wurden, soll er sieben Jahre ins Gefängnis. Natalja Pivovarova, Dekanin an der Russischen Akademie für Theaterkunst, verlor nach 48 Jahren ihren Job, weil sie den Krieg als solchen benannte.

 

Swipen Sie woanders weiter, hier gibt es keinen Krieg

Kurz nach Beginn der russischen Invasion im Februar wurden ausländische und unabhängige Medien in Russland blockiert. Laut der NGO Roskomsvoboda sind wegen der Kriegszensur ca. 7.000 Internetseiten in Russland gesperrt. Ein russisches Gericht verbot im März die beliebten Netzwerke des Meta-Konzerns Facebook und Instagram wegen „extremistischer Aktivitäten“ bzw. illegaler Inhalte.[15] Meta hatte erlaubt, dort zu Gewalt gegen russische Soldaten aufzurufen, allerdings auf das Gebiet der Ukraine begrenzt. Der Zugang zu Twitter wurde bereits 2021 eingeschränkt.

Zum Missfallen von russischen (Strafverfolgungs-)Behörden sind gesperrte Inhalte über einen VPN-Service (Virtual Private Network) weiterhin erreichbar, auch wenn sich dies etwas umständlich gestaltet. Bei dessen Benutzung werden die Datenströme vor Überwachung geschützt und der virtuelle Standort lässt sich verändern.[16] Das Wissen in der Bevölkerung, wie ein VPN genutzt werden kann, ist allerdings begrenzt.[17] Die Ex-Agentin und Politikerin Maria Butina schlug sogar vor, sollten Kinder einen VPN benutzen, deren Eltern dafür ins Gefängnis zu schicken. Auf Plakaten in der Moskauer Metro wurden VPN-Services mit Taschendieben verglichen. Dabei nutzen selbst hochrangige russische Politker:innen VPN-Services, um auf blockierte Inhalte zuzugreifen.

 

Roskomnadzor is watching you

Grundlage für die Blockierungen im RuNet zur politischen Zensur sind eingekaufte, ausländische Technologien und neue bzw. erweiterte Gesetze. Oft gepaart mit „Anti-Terror“-Paketen weiteten mehrere Gesetzesinitiativen mit schwammigen Formulierungen die Befugnisse der Medienaufsichtsbehörde Roskomnadzor und von Sicherheitsbehörden wie dem FSB weiter aus. Denn anders als das Vorbild der „Great Firewall“ Chinas, dessen Internet von Beginn an auf zentrale staatliche Kontrolle aufgebaut war, musste das russische Internet und seine Infrastruktur zunächst umgebaut werden. War die Medienpolitik schon in den ersten Herrschaftsjahren von Vladimir Putin ein wesentlicher Bestandteil seiner Machtkonsolidierung, sah er das World Wide Web dabei noch nicht als Gefahr an. Das ursprünglich für seine Freiheit bekannte russische Internet, auch RuNet genannt, wurde sogar Teil von Präsident Medvedevs Modernisierungsstrategie. Als die Proteste im eigenen Land 2011/12 für „freie Wahlen“ in ähnlicher Weise wie die des Arabischen Frühlings über Social Media koordiniert wurden, erkannten Putin und der Kreml, welche Gefahr dies für seine Macht darstellte.[18]

Im Jahr 2014 sah Putin hinter dem Euromajdan in der Ukraine „fremde Mächte“, die einen Coup über das Internet planten – beides seiner Ansicht nach ein „Spezialprojekt der CIA“ und eine „Gefahr für Russland“. Unter dem Vorwand von Datenschutz und Verbrechensbekämpfung sollten entsprechende Gesetze und Maßnahmen ein „souveränes Internet“ garantieren. Das weltweit verzweigte russische Internet sofort abzukoppeln, hätte mindestens einen ökonomischen Schock und zu viele weitere Proteste im Land ausgelöst. Zwar sind Regulierungen für das Internet keine genuin russische Idee, doch im Gegensatz zu den weltweit vergleichsweise strengen Gesetzen und Richtlinien der EU, bei der Daten von Individuen geschützt und Metadaten erhoben werden, stehen bei den russischen Maßnahmen der Zugriff auf die Daten für russische Behörden im Vordergrund.[19]

 

"Souveränität" online

Im Jahr 2012 wurden erstmals durch Gesetzeserweiterungen und der Einführung von relevanten Termini die Grundlagen für Internetzensur in Russland geschaffen.[20] Mit dem „Lokalisierungsgesetz“ von 2014 sind auch ausländische Firmen dazu verpflichtet, Benutzer:innendaten auf Servern in Russland zu speichern. Inspektionen von Roskomnadzor sind seitdem unabhängig von Strafverfolgungsbehörden und der Justiz. Mit dem Jarovaja-Paket wurde 2016 unter anderem eine umfangreiche Vorratsdatenspeicherung eingeführt. Internet-Anbieter müssen demnach seit 2018 Benutzer:innendaten wie Gespräche und andere Mitteilungen für 6 Monate speichern und deren Metadaten für 3 Jahre. Sie müssen dem FSB Zugriff auf diese Daten gewähren sowie die gesamten Kosten dafür tragen. 2018 ordnete ein Moskauer Gericht die Blockierung des Messengerdienstes Telegram in Russland an, weil dieser sich weigerte, dem FSB die zur Einsicht nötigen Entschlüsselungscodes für Chats zu übergeben. Doch im Juni 2020 hob Roskomnadzor unerwartet die Blockade auf, denn von den technisch noch unausgereiften Blockierungen waren auch andere Anbieter, beispielsweise Banken, erheblich betroffen.[21]

Ende 2019 trat schließlich das „Gesetz über das souveräne Internet“ als Antwort auf eine „aggressive Natur“ der US-amerikanischen Politik in Kraft. Eingebettet in das Narrativ der belagerten „Festung Russland“ soll es laut Erklärung der Duma über die Umlenkung des Datenverkehrs die „Funktionsfähigkeit“ des russischen Internets erhalten, sollte keine Verbindung zu ausländischen Servern hergestellt werden können. Faktisch ist dabei eine „Reserve-Kopie“ des russischen Internets das Ziel. Ins Ausland übertragenen Daten sollen minimal gehalten werden und das RuNet auf „Gefahren von außen“ vorbereitet werden. Der Kreml hat erkannt, dass er den Informationsfluss nicht durch Maßnahmen im Internet selbst, sondern nur durch Kontrolle dessen Infrastruktur und der Hardware, also Server und Leitungen, regeln kann. Erreicht wird das erstens mit der Verantwortungsübertragung auf die Betreiberfirmen für die Stabilität des RuNet, um staatliche Strukturen zu entlasten. Hinzu kommen zweitens eine strikte und zentral ausgerichtete Überwachung durch Roskomnadzor sowie obligatorische Tests. Drittens soll ein alternatives nationales Domain Name System (DNS) geschaffen werden – quasi ein Telefonbuch des Internets, das jeder Website eine IP-Adresse zuteilt –, das die Verbindung zwingend über einen vom russischen Staat kontrollierten Knotenpunkt aufbaut. Das erlaubt etwa, eine Verbindung nach draußen zu blockieren. Und viertens werden russische Internet-Anbieter verpflichtet, Systeme zur so genannten Deep Package Inspection (DPI) zu installieren, die die umgeleiteten übertragenen Datenpakete samt Inhalt analysieren können.[22]

 

Ein digitales Schwarzes Loch

Von dieser Überwachung sind nun auch die Menschen in den okkupierten Gebieten der Ukraine betroffen. Die russische Kolonisation beginne mit dem Internet, schrieb die NGO Reporter ohne Grenzen. Was die russische Armee an digitaler Infrastruktur zerstört, versuchen Techniker:innen zu reparieren, meist unter Lebensgefahr. Um Lücken in der ukrainischen Internetabdeckung zu vermeiden und um kritische Infrastruktur zu versorgen, wird Elon Musks Starlink-System mit Satelliten und speziellen Modems eingesetzt. Mit weitergehender und zuletzt wieder verstärkter Zerstörung von ziviler Infrastruktur durch russische Angriffe in der gesamten Ukraine wächst allerdings deren Abhängigkeit von Starlink, und damit der Einfluss des wankelmütigen Milliardärs als eine Privatperson im Krieg. Die Internetverbindung der okkupierten Gebiete wie Mariupol  oder Kherson laufen mittlerweile vollständig über von Russland kontrollierte Anbieter und Leitungen. Für die ukrainische Bevölkerung hat das neben einer forcierten Russifizierung [Anmerkung der Red.: Artikel nicht mehr erreichbar] zur Folge, dass der Kontakt zu Freund:innen und Angehörigen nur eingeschränkt möglich ist und überwacht werden kann. Neben zahlreichen Fällen von Folter in russischen „Filtrationslagern“ berichten Betroffene auch davon, dass ihre Mobiltelefone nach kompromittierenden Daten durchsucht wurden. Die Ukrainer:innen sollen von Informationen abgeschnitten werden und in das russische Internet eingegliedert werden, das der Kreml kontrolliert.

Bisher ist in Russland die beliebteste Videoplattform YouTube, die sich immer mehr als TV-Alternative etabliert hat und bei Jüngeren besonders beliebt ist; sie ist noch nicht von Blockierungen betroffen.[23] Und das, obwohl die Videoplattform aus den USA ein zentrales Medium der Opposition in Russland ist: Alexej Navalny und sein Team erreichen 6,4 Millionen Abonnent:innen, die Band IC3PEAK erreichte mit ihrem selbst als „audiovisuellen Terrorismus“ bezeichneten Anti-Kriegssong „Dead but pretty“ 1,4 Millionen Nutzer:innen in drei Tagen. Sie kritisiert darin die fortschreitende „Zombifizierung“ und den Totenkult des Landes. Weltweite Reichweite erzielen auf der Videoplattform jedoch auch vom Kreml kontrollierte Medien wie der Kanal von RT, die YouTube auch als eine auf ein internationales Publikum ausgerichtete Propagandawaffe verwenden. Ein schon länger währender Streit und vom Kreml gegen YouTube gerichtete Zensur-Vorwürfe trieben Gerüchte über eine Blockierung der Plattform in Russland voran. Der russische Digitalminister Shadayev beschwichtigte im Mai 2022, die Regierung plane keine Blockierung YouTubes in Russland, das „Teil des globalen Netzes bleiben“, dabei aber lernen müsse, „Informationen zu filtern.“ Aus der Duma dröhnte es dann im folgenden August, alle Voraussetzungen für eine Blockierung seien erfüllt. Sie werde kommen, sobald ein „starker russischer Konkurrent“ erscheine und die Archive von YouTube übertragen seien. Grigorij Bakunov, ehemaliger Manager bei der russischen Suchmaschine Yandex, bestätigte diese Prognose und fügte hinzu, dass die US-amerikanische Videoplattform zu beliebt sei und eine sofortige Blockierung die russische Bevölkerung zu sehr verärgern würde. Das Wissen, wie die Blockierungen mit einem VPN umgangen werden, könnte ansonsten in der Bevölkerung zu stark anwachsen.[24]

 

Swipen Sie russisch

Damit die Menschen in Russland die Sperrungen westlicher Plattformen leichter akzeptieren, versucht der Kreml sie zur Nutzung russischer „Alternativen“ zu bewegen. In einer entsprechenden Liste empfiehlt das russische Digitalministerium, „aus Sicherheitsgründen“ auf den etablierten Plattformen teilweise zum Verwechseln ähnliche, „einheimische Alternativen“ umzusteigen. Diese Dienste sind entweder von staatlich kontrollierten Firmen wie Gazprom Media aufgekauft oder in der Hand von Kremlunterstüzer:innen. So war der aktuelle Generaldirektor von Gazprom Media, Alexander Scharow, zuvor acht Jahre lang Direktor von Roskomnadzor. Als Teil von Russlands Strategie eines „parallelen Imports“ wirbt bspw. die „mit Liebe in Russland gemachte“ Alternative „Rossgram“ mit „bekanntem Interface und vielen Möglichkeiten“, unter anderem zur Monetarisierung der Beiträge.[25] Allerdings fiel ein erstes Urteil von User:innen über „Rossgram“ nicht sehr positiv aus: Aus Trauer über die Blockierung von beliebten Netzwerken und darüber, welche „seltene Scheiße als Importersatz ausgegeben wird“[26], gründeten zwei Programmierer die wehmütige Alternative „Grustnogram“ (dt. etwa „Trauriggram“). Bilder werden automatisch in schwarz-weiß gepostet und statt Likes werden gebrochene Herzen vergeben. Unternehmer:innen, die zuvor ihr Geschäft über Instagram abgewickelt haben, müssen ihr Business wieder von Neuem aufbauen, auch um eventuell rechtliche Konsequenzen zu meiden. Der größte Teil der Influencer:innen bleibt aber entweder ruhig, oder erklärt seine Unterstützung für den kremltreuen „Raschismus“. Zur Einschüchterung wird die erste Ermittlung wegen des Gebrauchs von Instagram gerade gegen eine 18-jährige Fashionbloggerin durchgeführt.

Auch in Sachen YouTube wird als „russische Alternative“ RuTube immer mehr in Stellung gebracht. Mit einer groß angelegten Kampagne und ökonomischen Anreizen versucht Gazprom Media, zu der auch das seit Jahren erfolgreiche russische Facebook-Äuqivalent „VK“ gehört, Influencer:innen dazu zu bewegen, auf deren Plattformen zu wechseln. Trotz visueller Ähnlichkeiten unterscheidet sich RuTube erheblich von seinem amerikanischen Gegenpart: Das Angebot ist kleiner und auf staatlich gelenkte Nachrichten und Unterhaltung ausgelegt, Videos werden zunächst überprüft (was etwa den Upload von Navalnys Video zum Palast Putins unmöglich machen würde), es gibt keine Angaben über Klickzahlen, die Kommentarfunktion ist oft ausgeschalten und Likes gibt es auch keine. Damit ist RuTube für viele Influencer:innen zu unattraktiv und auf einseitige Kommunikation mit dem Publikum ausgelegt.[27] Dennoch haben sich linientreue YouTuber:innen darauf eingelassen, RuTuber:in zu werden: Mit seinen (noch) parallel betriebenen Kanälen ist Max Komikadze ein Beispiel, wie es sich der Kreml wohl nur wünschen kann. Dort lädt er regelmäßig „Parodien“ hoch, in denen er den ukrainischen Präsidenten darstellen möchte und mal eine Kapitulationserklärung unterschreibt, mal mit Hitlerbart auftritt.

 

Der Krieg lässt sich nicht wegscrollen

Neben solchen plumpen Darstellungen gab es auch schon ein Deep-Fake Video von Selensky, das Kyiv prompt über seine Kanäle entlarvte. Angesichts eines langerwarteten Cyberwars, dessen Attacken erst nach und nach an die Oberfläche treten, und eines befürchteten „Wutwinters“ in der Welt und Europa, gilt es wachsam zu bleiben. Der Kreml wird die angespannte Lage nutzen, um regelmäßig und weltweit Fake News zu schalten und so Druck aufzubauen, um zu einem ‚Business as usual‘ zurückzukehren und vom Krieg in der Ukraine abzulenken. Eine der bisher größten Desinformationskampagnen hat bereits begonnen: Über Soziale Netze und Fake-Accounts werden gefälschte Regierungsdokumente und Falschnachrichten – teilweise sogar über geschaltete Werbung – zahlreicher Klon-Seiten von Bild, Spiegel oder der Süddeutschen Zeitung verbreitet.[28] Selbst wenn dann die Seiten vom Netz genommen werden, können weiter Screenshots oder die vermeintlichen Nachrichten aus den „Desinformationssteinbrüchen“[29] weiter kursieren. Faktencheck-Seiten, wie mimikama.at, correctiv.org oder EUvsDisinfo.eu kämpfen gegen solche Versuche an, russische Propaganda durch Troll-Armeen zu normalisieren.[30] Die Plattformbetreiber profitieren hingegen von Werbeeinnahmen und dem erhöhten Traffic. Ihre Rolle als „eigenmächtig agierende supranationale Institution jenseits politischer Kontrolle“ ist abseits ihres Mobilisierungspotentials nicht nur mit den Auswirkungen auf die Wahrnehmung des Kriegs in der Ukraine kritisch zu sehen, sondern zeigt hier sehr deutlich ihre Wirkungsmacht.[31]

Zwar stört viele junge Russ:innen (besonders im Alter zwischen 18 und 24) die Kriegszensur. Oft jedoch, weil sie ihren Alltag und Kommunikation einschränkt und nicht mit Blick auf die Ukraine.[32] Die mit den Freiheiten des Internets großgewordene Generation steht dem Krieg noch am ehesten skeptisch gegenüber.[33] Die Mobilisierung in Russland wird die Skepsis vergrößern können. Die Internet-affine Generation hat das Potential und die (technische) Möglichkeit, als Ausgangspunkt einer digitalen Civil Society zu dienen; die ideologischen Assoziationen mit einer „Generation Z“ zurückzuweisen und wieder einen Alterskohortenbegriff daraus zu machen. Dafür gilt es, die Verantwortlichkeiten des russischen Staates, der Kriegsunterstützer:innen sowie ihre eigenen deutlich zu machen und entsprechende Konsequenzen zu ziehen. Dieses „russische Modell“ zur Internetzensur könnte auch in anderen Ländern mit autoritären Regierungen als Vorbild dienen.

Es gilt, den Fokus auf der Ukraine zu halten. Durch eine aufmerksamkeitsökonomisch bedingte “Social Media War Fatigue” droht Russlands genozidaler Vernichtungskrieg gegen die Ukraine, konjunkturell in Vergessenheit zu geraten oder von den inflationär gebrauchten nuklearen Drohungen verdrängt zu werden. Das spielt Putin in die Hände, der mit seinen Plänen nicht an den Grenzen der Ukraine halt macht oder auf ein ähnliches Szenario wie 2014 setzt, nachdem sich die politischen Beziehungen schnell wieder normalisierten. Innergesellschaftliche Probleme – in Deutschland etwa die Inflation und steigende Kosten, in Russland die eingeschränkten Reisemöglichkeiten und die Mobilisierung – sollen diese Tendenzen verstärken. Gegenüber hybriden Angriffen auf kritische Infrastruktur oder Attacken im Cyberraum gilt es, Resilienz aufzubauen, sie aber nicht überschätzen. Verstrickungen zu russischen Geheimdiensten müssen genau beleuchtet werden, wie etwa im Fall des Ex-BSI-Chefs Arne Schöhnbohm. Resilienz braucht es auch gegen Desinformationskampagnen im Bereich der Cognitive Warfare. Es gilt, die Rolle des Aggressors nicht aufweichen zu lassen, ohne die verbleibende Zivilgesellschaft Russlands nicht zu vergessen, aber vor allem die Menschen in und aus der Ukraine zu unterstützten. Der russische Genozid gegen die Ukraine wird wohl der bisher am besten dokumentierte sein. Die Implikationen des Krieges sind zwar weltweit spürbar, aber die Ukrainer:innen haben nicht das Privileg, dem unmittelbaren Krieg dadurch zu entkommen, indem sie offline gehen oder weiterscrollen.

 


[1] Die Proteste des Arabischen Frühlings vor zehn Jahren wurden über Facebook und Twitter koordiniert. Israel und die Hamas lieferten sich 2012 einen Tweet-Abtausch, der syrische Bürgerkrieg ist mit Videos dokumentiert und der „Islamische Staat“ verbreitete seine Propaganda sowie Angst und Schrecken. Die Proteste im Iran 2019 und aktuell, sowie in Belarus 2020 und in Kasachstan 2022 konnten ebenfalls über Social Media verfolgt werden, die Regierungen blockierten aber den Zugang. Vgl. The invasion of Ukraine is not the first social media war, but it is the most viral, The Economist (2022), zugegriffen am 10.8.2022.
[2] web archive: Hashtag ukraine on tiktok, Stand: 18.10.2022.
[3] Vgl. Chayka, Kyle: Watching the World’s “First TikTok War”, The New Yorker (2022), zugegriffen am 15.8.2022; Tiffany, Kaitlyn: The Myth of the ‘First TikTok War’, The Atlantic (2022), zugegriffen am 15.8.2022; Stokel-Walker, Chris: TikTok Was Designed for War, Wired UK (2022), zugegriffen am 15.8.2022.
[4] Singer, P.W. und Emerson T. Brooking: LikeWar. The Weaponization of Social Media, Boston; New York 2018; Singer, Peter W. und Emerson T. Brooking: „LikeWar“: Der Krieg, den man nicht sehen kann, Die Zeit, 16.12.2018, zugegriffen am 15.8.2022.
[5] Von den seit dem 24. Februar mehr als 16.000 Verhaftungen gegen den Krieg (nicht gegen die Moblisierung), gingen einige durch die Sozialen Netze: etwa die wiederholte Verhaftung der Blockadeüberlebenden und Friedensaktivistin Elena Osipova in St. Petersburg, oder wie eine Frau in Moskau verhaftet wird, die gerade im Begriff ist, sich vor laufender Kamera für den Krieg auszusprechen, gleich, wie eine andere in Nižnyj Novgorod wegen eines leeren Blatts als Protest gegen Krieg und Zensur.
[6] Dazu zählen Videos mit waghalsigen Minenräumungen, einer Anleitungen zum Panzer fahren, Führungen durch einen Bunker, tanzende, Folk-Song oder über die Bayraktar-Drohne singende ukrainische Soldaten oder Menschen, die sich russischen Panzern in den Weg stellen.
[7] Mit einem Post vom 7. Dezember, bei dem verschiedene Arten von Kopfschmerzen dargestellt und die Nachbarschaft zu Russland als Endstufe illustriert wird, konnten mehr als 55 Millionen Menschen erreicht werden.
[8] Ukraines Verteidigungsminister Oleksij Resnikow änderte kurzzeitig sogar sein Profilbild in ein für ihn erstelltes NAFO-Meme.
[9] Für Werte vgl. die Umfrage des Civil Network OPORA: Media Consumption of Ukrainians in a Full-Scale War. OPORA Survey, 01.06.2022, zugegriffen am 18.8.2022.
[10] Im Zeitraum Februar bis Juli 2022 sank die Quote für den „Ersten Kanal“ von 33,7 auf 25,5 %, für „Rossija 1“ von 30,9 auf 23% und „NTV“ von 21,1 auf 16,6 %. Die Nutzung von Telegram stieg von 19,1 auf 26,8 %. Vgl, zugegriffen am 24.10.2022].
[11] Восприятие новостной информации среди россиян, Левада-Центр, 16.08.2022, zugegriffen am 17.8.2022; Vgl. auch Meinungsbildung und Informationsquellen, in: Russland-Analysen 418 (2022), S. 11–12; Vgl. weiter diese Umfrage zu Informationsquellen in Moskau und Russland im Vergleich: Источники информации: Москва и Россия, Левада-Центр, 15.07.2022, zugegriffen am 18.8.2022.
[12] Wegen der Dauerpropaganda in Staatsmedien wird der Fernseher in oppositionellen Kreisen „Zombie-Kiste“ genannt.
[13] Gudkov, Lev: Phasen der Gewöhnung. Russlands Krieg im Meinungsbild, Osteuropa 72/4–5 (2022), S. 29–43, hier S. 29; Schmidt, Friedrich: Lew Gudkow: „Die Russen wollen nicht wahrhaben, was passiert“, FAZ.NET, 07.09.2022, zugegriffen am 8.9.2022.
[14] Vgl. dazu auch: A dark state. Vladimir Putin is in thrall to a distinctive brand of Russian fascism, The Economist (2022), zugegriffen am 20.8.2022.
[15] Der zum Meta-Konzern gehörende Messenger WhatsApp ist davon (noch) nicht betroffen. Das Bildungsministerium spricht derzeit nur eine „Empfehlung“ aus, neben anderen Messengern den Gebrauch von WhatsApp an Schulen zu verbieten; das Ministerium für Industrie und Handel parallel für Unternehmen. Stattdessen sollen russische Angebote genutzt werden.
[16] Eine häufige Allegorie für die Funktionsweise eines VPN ist die eines „Tunnels“, durch den die Daten geleitet werden. Anstelle einer direkten Verbindung von Nutzer:in zu Ressource, wie auf einer geraden Linie, wird die Verbindung über einen vorgeschalteten Punkt in der Mitte aufgebaut, der die Daten verschlüsselt und die ursprüngliche Herkunft verbirgt. Vgl. Reporter ohne Grenzen: Alles unter Kontrolle? Internetzensur und Überwachung in Russland, 2021, S. 44–45.
[17] Левада-Центр: Internet, social’nye seti i VPN, 08.04.2022, zugegriffen am 8.9.2022.
[18] Sherman, Justin: Reassessing RuNet. Russian internet isolation and implications for Russian cyber behavior, Atlantic Council, 12.07.2021, zugegriffen am 12.8.2022.
[19] Der EuGH stellte am 20.09.2022 fest, dass die Vorratsdatenspeicherung ohne konkreten Anlass in Deutschland gegen EU-Recht verstößt. Vgl. Schieb, Jörg: Vorratsdatenspeicherung in Deutschland: Europäischer Gerichtshof sagt Nein!, tagesschau.de, 20.09.2022, zugegriffen am 24.9.2022. Für einen Vergleich zwischen EU und Russland siehe Gurkov, Alexander: Personal Data Protection in Russia, in: Gritsenko, Daria, Mariëlle Wijermars und Mikhail Kopotev (Hrsg.): The Palgrave Handbook of Digital Russia Studies, Cham 2021, S. 95–113.
[20] Kravchenko, Maria: Russian Anti-Extremism Legislation and Internet Censorship, The Soviet and Post-Soviet Review 46/2 (2019), S. 158–186.
[21] Gurkov: Personal Data Protection in Russia, S. 105; Stadnik, Ilona: Control by infrastructure. Political ambitions meet technical implementations in RuNet, First Monday 26/5 (2021), (zugegriffen am 11.8.2022).
[22] Vgl. Stadnik: Control by infrastructure.
[23] Vgl. Litvinenko, Anna: YouTube as Alternative Television in Russia. Political Videos During the Presidential Election Campaign 2018, Social Media + Society 7/1 (2021), S. 1–9. Internetformate haben erstmals 2018 mehr Gewinne als TV-Formate gemacht, bei einem ungefähr halb so großem Publikum, vgl. dazu Kolomyčenko, Marija: 2010–2020: samoe dramatičeskoe desjatiletie Runeta. Kak russkij internet stal odnoj iz samych bystrych, udobnych — i nesvobodnych setej v mire, Meduza, 04.01.2020, zugegriffen am 11.8.2022.
[24] Die NGO Roskomsvoboda gibt auf der Seite https://openrunet.org/ Hilfestellungen.
[25] Staun, Harald: Wo sind in Russland die illoyalen Menschen?, FAZ.NET, 01.04.2022, zugegriffen am 13.8.2022; Roth, Andrew: ‘Embarrassing’. Russia scrambles to copy banned social media platforms, The Guardian, 30.03.2022, zugegriffen am 13.8.2022; Langschwager, Marit: Russland baut weiter an seinem Paralleluniversum. Was steckt hinter dem Instagram-Klon Rossgram?, Neue Zürcher Zeitung, 25.03.2022, zugegriffen am 13.8.2022.
[26] So die beiden Gründer über ihren Telegramkanal.
[27] Nach einem Cyberangriff am symbolischen 9. Mai war die Plattform für einige Tage nicht erreichbar.
[28] Echtermann, Alice und Uschi Jonas: Gefälschte Regierungsdokumente und Nachrichtenseiten. Russische Desinformationskampagne nimmt Deutschland ins Visier, 30.09.2022, zugegriffen am 18.10.2022; Klein, Oliver: Pro-russische Propaganda. Massenweise falsche News-Seiten enttarnt, zdf-heute, 29.08.2022, zugegriffen am 19.10.2022.
[29] Fuhr, Lukas: Der Desinformationssteinbruch produziert weiter, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14.09.2022, S. 3.
[30] Vgl. Aro, Jessikka: Putins Armee der Trolle. Der Informationskrieg des Kreml gegen die demokratische Welt, übers. von Katharina Diestelmeier, deutsche Erstausgabe Aufl., München 2022; Ottaviani, Marta Federica: Brigate Russe. La guerra occulta del Cremlino tra troll e hacker, Milano 2022.
[31] Leisegang, Daniel: WarTok. Der Krieg in den sozialen Medien, Blätter für deutsche und internationale Politik 4 (2022), S. 9–12, Zitat S. 12.
[32] Левада-Центр: Internet, social’nye seti i VPN; Schmidt: Lew Gudkow: „Die Russen wollen nicht wahrhaben, was passiert“.
[33] Levada-Centr: Konflikt s Ukrainoj. Sentjabr’ 2022 goda, 29.09.2022, zugegriffen am 19.10.2022; Zusammenfassend: Kolesnikov, Denis und Andrei Volkov: My Country, Right or Wrong. Russian Public Opinion on Ukraine, Carnegie Endowment for International Peace, 07.09.2022, zugegriffen am 13.9.2022.