von Collin Klugbauer

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26. Juni 2023

„Wir interessieren uns nicht nur für die Verfolgten und Geschlagenen, wir interessieren uns auch für die, die leben, queer lieben, kämpfen und glücklich sind.“[1]

Historische Erzählungen und Kunstwerke von und über LSBTIQ*s[2] sind in deutschen Museen immer noch unterrepräsentiert. Sind sie doch vorhanden, ist die Darstellung oft einseitig. Wahrlich queere Zugänge zu Ausstellungen und musealen Sammlungen sind noch rarer gesät. Wo das Problem liegt und wie geglückte Versuche aussehen können, davon erzählt dieser Essay.

 

Lotte und die latente Homoerotik

Zwei Frauen, eine legt die Hand auf die Schulter der anderen, ihr Blick ist auf eine Leinwand gerichtet. Die andere, offensichtlich die Künstlerin, hält einen Pinsel und eine Mischpalette in den Händen, blickt geradewegs aus dem Bild heraus und fixiert die Betrachtenden. Die Szene wirkt vertraut, die beiden Frauen scheinen sich nah zu stehen. Auf dem Gemälde zu sehen sind Gertrud, genannt Traute, Rose (1903-1989) und die Künstlerin selbst, Lotte Laserstein (1898-1993). Das Motiv von „Ich und mein Modell“ von 1929/1930 wurde oft mit der Figur der Muse assoziiert – Traute als kontinuierlicher Quell von Inspiration für Lotte. Anders als üblich wird hier aber kein männlicher Maler von der femininen Schönheit seiner Muse inspiriert, sondern es sind zwei Frauen, zwischen denen sich eine schöpferische Kraft entfaltet. Die Nähe zwischen den beiden ist unbestreitbar, wie genau ihr Verhältnis zu fassen ist, ist aber schon heikler zu beschreiben.

Traute Rose nimmt einen wichtigen Platz im Werk Lasersteins ein: Sie saß ihr für viele Arbeiten Modell, so für fast alle Aktbilder, die Laserstein Ende der 1920er bis Anfang der 1930er Jahre schuf. Im opulenten Ausstellungskatalog „Lotte Laserstein 1898-1993. Meine einzige Wirklichkeit“, einer Retrospektive, die vom Verborgenen Museum 2003/2004 im Museum Ephraim-Palais gezeigt wurde, heißt es über zwei Gemälde, auf denen Rose zu sehen ist:

„Ein latent homoerotischer Subtext wie auch die Betonung des gemeinsamen Schaffens war bereits der Selbstdarstellung mit dem liegenden Akt eigen. […] In der Blickführung des Doppelbildnisses [Ich und mein Modell], die eine Dreiecksfigur ergibt, manifestiert sich die Eingebundenheit und die besondere Bedeutung, die Rose für das künstlerische Schaffen Lasersteins hatte.“[3]

Welche besondere Bedeutung Rose nicht nur für das künstlerische Schaffen Lasersteins hatte, darum wird gerungen und sich seltsam herum gewunden. Ein Beispiel dafür ist der Ausstellungstext zur beachtlichen Werkschau Lasersteins, die 2018/19 im Frankfurter Städel Museum und 2019 in der Berlinischen Galerie gezeigt wurde. Über das Gemälde „In meinem Atelier“ (1928), das ebenso Laserstein zeigt, wie sie einen liegenden Akt von Traute Rose anfertigt, heißt es dort:

„Bis heute hat die Vertrautheit der Szene immer wieder Fragen nach der Liebesbeziehung zwischen Malerin und Modell provoziert, die sich aber mangels Quellenmaterial nicht belegen lässt.“[4]

Waren Laserstein und Rose wirklich nur Freundinnen, Vertraute, wechselseitige Inspiration und Unterstützung? Oder waren sie Liebhaberinnen, romantische oder sexuelle Partnerinnen? Und spielt die Art ihres Verhältnisses denn eine Rolle?

Spannend an der Auseinandersetzung über ein mögliches homosexuelles oder homoromantisches Verhältnis zwischen Laserstein und Rose, aber auch über die sexuelle Orientierung Lasersteins im Allgemeinen, ist die Vehemenz, mit der darauf hingewiesen wird, dass dafür keine stichfesten Beweise zu erbringen seien. Im gleichen Katalog fasst zwar Kristin Schroeder das Verhältnis etwas ambivalenter, jedoch weist sie den Versuch, die Beziehung der beiden auch erotisch oder sexuell zu deuten, scharf zurück: „[E]twas derartiges zu behaupten, würde die facettenreiche Darstellung der Nähe zwischen zwei Freundinnen, […] auf grobe Weise unterminieren.“ Unter Rekurs auf die Literaturwissenschaftlerin Sharon Marcus spricht sie sich gegen die „Anwendung der lesbischen Theorie“ als „Masterdiskurs“ aus, der „unsere Fähigkeit, Komplexität weiblicher Freundschaft zu erkennen,“ limitiere. Stattdessen implizierten die Darstellungen von Lasersteins weiblichen Akten „eine Lust an Freundschaften zwischen Frauen und bieten eine Alternative zur herkömmlichen Ausschließlichkeit eines entweder – oder, zu Freundin oder Geliebte.“[5]

 

Im Museumscloset

So sehr hier zu begrüßen ist, dass soziale Verhältnisse als bedeutungsvoll, intim und signifikant anerkannt werden, egal ob sie sexueller, romantischer oder platonischer Natur sind oder sich vielleicht gar nicht entlang dieser Grenzziehungen festmachen lassen, so sehr wundert doch auch hier die Herbeizitierung eines lesbischen Masternarratives, das alle Nuancen weiblicher Beziehungen zu nivellieren droht. Denn wenn man sich umblickt in den Annalen der (Kunst-)Geschichte, scheint es eigentlich gar keine Lesben gegeben zu haben.

Viel häufiger als die Eingemeindung von heterosexuellen Frauenfreundschaften in ein lesbisches Narrativ ist doch gerade das umgekehrte Phänomen zu beobachten: Ambivalenzen und queere Zwischentöne in Künstler*innen-Biografien und deren Sujets werden zugunsten einer heteronormativen Lesart aufgelöst und zum Verstummen gebracht, Queerness[6] wird „übersehen“ oder aktiv ausradiert. Es ist ein Leichtes, im Museum unfreiwillig ungeoutet zu bleiben, haben Museen ihre Protagonist*innen doch zuhauf in den „Closet“ verbannt: Queere Biografien bleiben auch heute oft unerwähnt und leisten damit der impliziten Annahme Vorschub, die Künstler*innen hätten heterosexuell und cis-geschlechtlich gelebt. Dass das nicht einfach ein systemischer Nebeneffekt ist, sondern eine gewisse Verdrängungsleistung voraussetzt, offenbart beispielsweise ein Blick in die dauerhafte Sammlungspräsentation der Berlinischen Galerie, die ja durchaus eine beachtliche Anzahl von Werken queerer Künstler*innen umfasst. Neben Lotte Laserstein finden sich dort Arbeiten von Herbert Tobias, Jeanne Mammen, Werner Held, Rainer Fetting, Hannah Höch und in früheren Hängungen auch Gertrude Sandmann. Doch wer durch die Ausstellung wandert, bekommt von deren Queerness so gut wie nichts mit. Keines der ausgestellten Werke hat ein LSBTIQ*-Sujet (obwohl es solche in der Sammlung gibt), kein biografischer Text verrät genug, um auch diesem Aspekt der Identität der Künstler*innen Rechnung zu tragen.[7]

Wenn queere Aspekte der Biografien verschwiegen werden, passiert es, dass sie – wenn Besucher*innen die Lebenswege und Werke dieser Künstler*innen nicht bereits kennen – als heterosexuell und cis-geschlechtlich eingeordnet werden. Bei den oben genannten Künstler*innen lassen sich Hinweise noch leicht recherchieren. In Anbetracht von Verfolgung und Diskriminierung, denen homosexuelle, trans* und inter* geschlechtliche Menschen ausgesetzt waren, ist es nicht verwunderlich, dass sich oft keine offensichtlichen und für den cis-heteronormativen Blick zugänglichen Hinweise auf queere Lebensentwürfe finden. Homosexuelle oder homoromantische Beziehungen, Liebschaften und Verhältnisse waren bis weit in die Mitte des 20. Jahrhunderts kaum offen lebbar und konnten sich nur verschlüsselt ausdrücken – männliche Homosexualität war bis 1994 nach §175 in Deutschland strafbar, erst 1969 wurde der Paragraf liberalisiert, lesbisches Begehren und Sexualität sowie trans* Identitäten wurden durch gesellschaftliche Normen und Werte und nicht zuletzt patriarchale ökonomische Strukturen abgewertet und in ein Schattendasein gedrängt. Out sein war gefährlich. Dass queere Lebensentwürfe nicht öffentlich gelebt und gezeigt werden konnten, hatte zur Folge, dass in künstlerischen Arbeiten und biografischen Zeugnissen allenfalls vorsichtige Andeutungen zu finden sind.

„Desire leaves no archeological traces,“[8] schreibt R. B. Parkinson im Buch „A little Gay History. Desire and Diversity across the World“. Parkinson wirft einen queeren Blick auf die Dauerausstellung des British Museum und findet dann doch ziemlich viele Spuren von nicht-normativem Begehren. Ein solches queer reading setzt voraus, Wissen und Erfahrung über LSBTIQ* Lebenszusammenhänge zu haben, um queere Spuren als solche erkennen und Zusammenhänge richtig einordnen zu können. Dieses Wissen fehlt oft bereits zu einem früheren Zeitpunkt, wenn Objekte bei der Aufnahme in die Sammlung nicht oder kaum unter LSBTIQ* Kriterien verschlagwortet werden und demnach auch später nicht wieder als solche auffindbar sind. Aus Parkinsons‘ umfassenden Forschungsergebnissen ist der „Desire, love, identity – LGBTQ histories trail“ entstanden, den die Besucher*innen mit Texten auf der Website des Museums, in einer Broschüre oder in Form eines Audioguides ablaufen können.[9]

Parkinson fordert auch herkömmliche archäologische Einordnungen heraus – warum wird von historischen Objekten wie einer kleinen Steinskulptur, die 9000 v. C. in Palästina entstanden ist und zwei Figuren zeigt, erst einmal angenommen, dass es sich um eine Frau und einen Mann handelt, obwohl das Geschlecht der Figuren unmarkiert ist?[10] Manchmal ist der Blick durch das Erwartbare verstellt und muss verändert werden, um Spuren von als deviant gebrandmarkten Begehren und Identitäten in den Archiven und Sammlungen frei zu legen.

„Museen schaffen [...] nicht nur Bilder, die den gesellschaftlichen Normen und Werten entsprechen, sondern thematisieren auch Verborgenes. Denn sie repräsentieren nicht nur das, was zu sehen ist, sondern auch, was dem öffentlichen Diskurs und der Wahrnehmung entzogen werden soll und damit ausgeschlossen wird.“[11]

Um das Verborgene zu finden, ist ein bisschen Recherchelust und Mut, vielleicht getrieben von Frust, aber auch spezifisches queeres Wissen nötig, um hinter heteronormativ verpackten Erzählungen ein queeres Aufblitzen zu finden. Sonst bleiben neben den cis-Heterosexuellen immer nur zwei sehr gute Freundinnen, Freundespaare, Schwestern, ewige Junggesellen, alte Jungfern oder Alleinstehende übrig. Das sind Begriffe, die queere Museumsbesucher*innen zumeist aufhorchen lassen – wurden dahinter doch so oft queere Biografien begraben und unsichtbar gemacht und LSBTIQ*s im Museumsdisplay eingemeindet in die stillschweigend gesetzte Norm der cis-heterosexuellen Lebenswelt. Was für biografische Darstellungen von queeren Personen gilt, kann auch auf Räume, Szenen und Bewegungen übertragen werden.

Wirft man einen Blick auf die deutsche Museenlandschaft, scheint die Lust an der Recherche noch nicht so ganz erwacht zu sein – so dünn gesät sind LSBTIQ* Erzählungen in den permanenten Sammlungspräsentationen und Sonderausstellungen. Immerhin gibt es zunehmend mehr Sonderausstellungen, die LSBTIQ* Themen verhandeln: 2015 eröffnete mit „Homosexualität_en“[12] einem Kooperationsprojekt des Schwulen Museums (SMU) und des Deutschen Historischen Museum (DHM) eine der wegbereitenden Ausstellungen, mit deren Platzierung im DHM queere Themen als Teil von allgemein relevanter Geschichte anerkannt wurden. Weitere Ausstellungen, die auch an anderen Orten als Museen zu sehen waren, wie die 2017 im Landtag Wiesbaden eröffnete Wanderausstellung „Unverschämt. Lesbische Frauen und schwule Männer in Hessen von 1945 bis 1985“[13], die 2019 eröffnete und auch digital verfügbare „Love at First Fight! Queere Bewegungen in Deutschland seit Stonewall“[14] oder die 2022 im Alten Rathaus Göttingen gezeigte „In Bewegung kommen. 50 Jahre queere Geschichte(n) in Göttingen“[15] kamen hinzu. Jüngst eröffnete im Oktober 2022 im NS-Dokumentationszentrum München die Ausstellung „TO BE SEEN. Queer lifes 1900-1950“[16]. Es hat sich also durchaus etwas getan.

 

„Hier ist’s richtig“ – Eldorado im Berlin Museum

Dass marginalisierte Gruppen wie Queers in deutschen Museen lange nicht als relevante Akteur*innen von kultureller und künstlerischer Produktion, aber auch Subjekte in der Geschichte wahrgenommen wurden, zeigt die Entstehung einer der ersten LSBTIQ* Ausstellungen in der BRD. Erst 1984 durfte mit der Sonderausstellung „Eldorado. Homosexuelle Männer und Frauen von 1850-1950“ queere Geschichte ins Berlin Museum einziehen. Entgegen dem Spruch „Hier ist`s richtig“, mit dem das titelgebende Berliner Tanzlokal Eldorado aus den 1920er Jahren auf seiner Außenfassade warb, war es für Queers lange nicht richtig im Berlin Museum. Mangelndes öffentliches Interesse am Thema gab es wohl nicht – die Ausstellung, die auf die Initiative einer Gruppe schwuler Männer und lesbischer Frauen zurück ging und von dieser Gruppe kuratiert wurde, war die bis dahin besucherstärkste in der Geschichte des Museums.

Dass die Initiativgruppe die Form einer Ausstellung und nicht nur einer Publikation gewählt hat, hängt vielleicht auch mit der Bedeutung von Museen als kulturellem Gedächtnis von Gesellschaften zusammen. Sie kanonisieren Wissen und dienen Gesellschaften dazu, sich selbst über ihre kulturellen Werte und Normen zu verständigen und zu versichern. Oft untermauern Museen das mit einem Gestus der Autorität, indem die subjektive Konstruktion dieser Vorstellung der Wirklichkeit als Objektivität verschleiert wird. Auch wenn dieser Gestus durchaus kritisch zu betrachten ist, kann er dafür sorgen, queere Themen sichtbar zu machen:

„Museums, because they are perceived as delivering an authoritative account of history, can play a unique role in promoting inclusion. To the heterosexual majority, they can say ‘here it is, the material evidence before your very eyes’. To gay men and lesbians, they can say ‘your lives count’."[17]

Bezeichnend an queeren Interventionen ist, dass sie sich oft nicht in die institutionellen Praktiken etablierter Museen einschreiben: Die Objekte verlassen mit den Sonderausstellungen wieder die Vitrinen, mit dem letzten Nagel an der Ausstellungswand zieht auch das queere Versprechen wieder aus dem Haus aus. Die Wände werden neu gestrichen, die permanenten Sammlungspräsentationen sind seltsam unangetastet von diesem neuen queeren Geist, der kurz wehen durfte. Es bleibt nicht viel.

Nachhaltig war Eldorado auf andere Art: Im Nachgang der Ausstellung wurde von einem Teil der Kurator*innen 1985 das Schwule Museum gegründet als Institution, die am Anfang vor allem schwule Geschichte, Kultur und Kunst sammelte, erforschte und ausstellte, mittlerweile seine Sammlungs- und Ausstellungspraxis auf lesbische, trans*, inter* und queere Themen erweitert hat. Das Schwule Museum schreibt Geschichte von unten und kämpft dafür, dass LSBTIQ*s einen Platz in den historischen Narrativen bekommen.

 

Diana auf dem Sonderpfad

Wenn sich queere Themen doch mal länger ins Museum einmieten dürfen, werden sie oft an den Rand gedrängt. So wurden im British Museum die Themen des „LGBTQ histories trail“ nicht einfach in die Objekttexte eingearbeitet, sondern sie sind ein optionales Zusatzangebot, das Besucher*innen auch erst einmal finden müssen. Auch die Textebene von „Der zweite Blick. Spielarten der Liebe“[18], eines ausstellungsbegleitenden Projektes des Bode Museums, das sich mit der dauerhaften Sammlungspräsentation beschäftigt, ist lediglich ein Add-On. Das Projekt will sich „mit der Vielfalt sexueller Identitäten, ihrer Wahrnehmung, Bewertung und künstlerischer Verarbeitung befassen“.[19] So erfahren Besucher*innen auf laminierten Karten, die neben den Objekten am Boden stehen, beispielsweise etwas über die Rezeption des Heiligen Sebastians als Patron homosexueller Männer, die antike Göttin Diana und ihr lesbisches Begehren oder die geschlechtliche Transformation der Heiligen Kümmernis.

Die Auseinandersetzung mit Geschlechterverhältnissen und Sexualitäten wird auf diese Weise als eine Zusatzleistung betrachtet, sobald es um nicht-normative Lesarten geht. Warum muss es eigentlich einen Sonderpfad für queere Erzählungen geben? Warum werden diese Themen nicht als interessant genug wahrgenommen, um es in die Haupttexte zu schaffen?

So lobenswert der Versuch ist, gerade in Sammlungen wie der des Bode Museums einen zweiten Blick anzulegen, gelingt es Projekten wie diesen nicht immer, tatsächlich auch eine queere Perspektive einzunehmen. Leider verfallen auch die Texte von „Spielarten der Liebe” an vielen Stellen in stereotypen Erzählungen, reflektieren Gewaltverhältnisse nicht adäquat oder bleiben in der Logik des heterosexuell, cisgeschlechtlich imaginierten „Wir“, das auf die Anderen schaut, verhaftet. Etwa im neu übersetzten Glossar, das unkritisch aus dem Victoria & Albert Museum übernommen wurde, und in dem die Rede davon ist, dass „trans“ „[e]ine gelegentlich verwendete Abkürzung, die sich auf einen Menschen mit abweichender Geschlechtsidentität bezieht,“[20] sei. Damit wird Cis-Geschlechtlichkeit einmal mehr zur Norm erklärt und eine nicht-hierarchische Betrachtung geschlechtlicher Identitäten verunmöglicht. Oder wenn behauptet wird, dass sich der Begriff „Homosexuelle“ „sowohl auf Männer als auch auf Frauen [bezieht], [er] [...]aber vor allem für schwule Männer verwendet [wird]“[21] und sich damit eine männliche Norm auch im LSBTIQ* Vokabular einschleicht.

Dass es auch anders geht, zeigt ein weiteres Projekt des Bode Museums. Mutiger und entschieden queer ist „Let’s talk about Sex and Art“ – ein Workshop, der im Rahmen von „Lab.Bode“, einem fünfjährigen Outreach und Vermittlungsprogramm für Kinder und Jugendliche, entwickelt wurde. Hier wird gezeigt, dass in Vermittlungsprogrammen auch mit einer Sammlung, die wahrlich nicht der Inbegriff von Diversität ist, gearbeitet werden kann, ohne dass die durch die Objekte nahe gelegten Herrschaftsverhältnisse reproduziert werden.

„Wichtig war lab.Bode bei der Neusichtung der Sammlungsobjekte, die Reproduktion von Heteronormativität und binärer Geschlechterrepräsentation zu adressieren und in unserem Bildungsauftrag die Perspektive der sozialen Gerechtigkeit und Diversität umzusetzen“[22]

In einer Übung des kostenlos erhältlichen Methodenkoffers wird z.B. anhand einer Skulptur von Adam und Eva von 1650 gerade das Spezifische der heterosexuellen Begehrensform thematisiert. Die Jugendlichen werden aufgefordert, sich im Museum umzusehen, um bewusst wahrzunehmen, dass heterosexuelle Paarkonstellationen in den Werken der Sammlung dominieren. Dazu erklärt der Begleittext, dass „[h]eterosexuelles Verlangen […] eines von vielen möglichen Begehren [ist], schön und komplex, wie alle anderen Formen des Begehrens. Soweit, so gut. Es gibt da nur einen Haken, die Heteronormativität.“[23] Die Jugendlichen werden dazu aufgefordert, sich eine Welt vorzustellen, die anders eingerichtet ist:

„Spielt in verteilten Rollen in kleinen Gruppen eine Coming-out-Situation, in der sich die beiden dargestellten Figuren als heterosexuell bekennen. Genau, richtig verstanden: als heterosexuell.“[24]

Gerade Museen wie das Bode Museum werden von vielen Schulklassen besucht. Auch queere Jugendliche haben ein Anrecht, als Teil dieser Gesellschaft vorzukommen, nicht diskriminiert zu werden und sich repräsentiert und gesehen zu fühlen. Am Ende profitieren alle Jugendlichen von einer Vermittlungsarbeit, die diskriminierungssensibel und diversitätsorientiert arbeitet und sie als Individuen mit unterschiedlichen Identitäten und Bedürfnissen ernst nimmt. Damit wird auch ein demokratischer Bildungsauftrag ernst genommen.

 

Von der Fortpflanzung hin zu Sexualitäten – ein Neuanfang im DHMD

Ein Beispiel aus Dresden zeigt, wie man eine queere kuratorische Haltung anlegen kann und sich auch dauerhafte Sammlungspräsentationen kritisch befragen und verändern lassen. Das Deutsche Hygiene-Museum Dresden (DHMD), das auch von vielen Schulklassen besucht wird, hat einen Teil seiner 2004 eröffneten Dauerausstellung überarbeitet und 2020 den Themenraum „Sexualitäten. Die Liebe, das Ich und die Vielfalt des Begehrens“ eröffnet. Mit dem alten Themenraum „Sexualität. Liebe, Sex und Lebensstile im Zeitalter der Reproduktionsmedizin“ wurde auch eine Vermittlung von Sexualität abgelöst, die „biologische und technische Aspekte von Sexualität und Fortpflanzung“ in den Vordergrund stellte und in dem „Sexualität jenseits einer heterosexuellen Norm nur an sehr wenigen Stellen vor [kam]“.[25]

In der neuen Sammlungspräsentation ziehen sich queere Aspekte durch alle Themenbereiche: von der Vitrine zur „Pubertät“, bei der selbstverständlich zwei cis- und ein trans* Jugendlicher abgebildet sind, über die Kurzfilme zu „Ersten Malen“, bei denen zwölf Personen, davon manche schwul, lesbisch oder trans*, über die erste Selbstbefriedigung oder das erste Verliebt-Sein berichten. In der Vitrine zu „Identität – Wer bin ich?” werden Geschlecht, Erziehung, Aussehen, Gewohnheiten oder Glaube als Themen behandelt, die für die Auseinandersetzung mit Identität eine Rolle spielen können. Geschlechtliche Identität ist damit ein Marker unter vielen, die Botschaft lautet, dass sie wichtig sein kann, aber Menschen nicht darauf reduziert sind.

Auch zeigt die Ausstellung, dass man über Körper und Körperteile wie Penis, Klitoris und Brüste sprechen kann, ohne sie zugleich untrennbar mit einer geschlechtlichen Zuschreibung zu verbinden. Sie verhandelt Themen wie sexuelle Anziehung, Begehren, Verliebt-Sein, aber auch sexuell übertragbare Krankheiten wertschätzend, und auf geschlechtliche und sexuelle Stereotypen verzichtend. Sie versucht, Aspekte wie Anerkennung, Intimität und Lust in den Vordergrund zu stellen. Fortpflanzung und Familienbünde spielen zwar eine Rolle, werden aber nicht priorisiert. Unterschiedliche sexuelle Praktiken wie Vaginalsex, Analsex und Vorlieben wie BDSM werden wertschätzend, sex-positiv und auf Stereotype verzichtend erklärt. Mögliche Macht- und Herrschaftsverhältnisse in sexuellen Beziehungen (z.B. die Abwertung von Frauen und die Degradierung zu Sexobjekten) werden benannt, Konsens in allen Beziehungen als Leitprinzip etabliert.

Die sexuelle und geschlechtliche Vielfalt, die es in der Gesellschaft gibt, wird damit abgebildet – ohne Menschen anhand eines einzigen Merkmals zu verbesondern. Deshalb wurde in der Ausstellung auch der Ansatz gewählt, „keine Vitrine mit dem Titel ‚Homosexualität‘ oder ‚Queer‘ oder Trans*‘ zu zeigen. Stattdessen wird in jeder Ecke der Ausstellung gezeigt: Menschen sind vielfältig, Sexualitäten, Körper und Geschlechter sind vielfältig und waren es schon immer,“[26] wie Anina Falasca, eine der Kurator*innen, die Herangehensweise an den Themenbereich beschreibt. Die Ausstellung schafft es damit, Haltung zu zeigen und verschiedene Lebensentwürfe, Geschlechter und Sexualitäten zu normalisieren und vielfältige queere Lesarten zuzulassen.

Dafür muss eine queere kuratorische Haltung entwickelt werden, die Wissen um Sexualitäten, Geschlechter und Begehren historisch und lokal situiert und normierende Erzählungen aufbricht, wie sie auch von der Kulturwissenschaftler*in Jennifer Tyburczy eingefordert wird:

„Queer curatorship is a curatorial activity that can highlight and rearrange normative narratives about what it means to be a historically and geographically specific sexual subject. It can also materialize a spatial and discursive approach to display that utopically imagines new forms of sexual sociality and collectivity between bodies, things, and nations in public institutional display scenes, such as museums.“[27]

 

Queere Zukünfte

Veränderungen wie die schmerzlich langsame Veränderung am DHMD sind erfreulich, haben aber oft einen langen Vorlauf und sind noch viel zu selten. Auch geht das Queeren von Museen nicht in einer Ausstellungspräsentation von LSBTIQ*-Personen oder -Themen auf. Wie das Berliner Netzwerk Museen Queeren, in dem ich aktiv bin, schreibt, bedeutet „Queeren […] eine spezifische Praxis, die heteronormative und binäre Setzungen in Frage stellt. Dabei geht es nicht nur um eine bessere Repräsentation der Vielfalt von Geschlecht und Sexualität in den Sammlungen und Ausstellungen, sondern auch darum, durch wen und wie sie erreicht werden [sic]”[28].

Queeren kann auf vielen Ebenen stattfinden, wie auch Hannes Hacke in einem Interview mit dem Netzwerk auffächert: „Für die einen liegt der Schwerpunkt stärker darauf, eine größere Sichtbarkeit für bi, trans*, schwule, lesbische und inter* Geschichte, Identitäten und Kunst herzustellen. Andere setzen stärker auf eine Kritik an Kategorisierungen und den Mechanismen der ‘Inklusion‘ und eindeutiger Sichtbarkeit im Museum. Es gibt unterschiedliche Strategien [...].“[29]

Die Umsetzung dieser Maxime kann Unterschiedliches bedeuten und betrifft verschiedene Felder: Es kann heißen, dass Museen anfangen müssten, ihre Sammlung zu erweitern und gezielt LSBTIQ* Objekte zu akquirieren. Heteronormative Sammlungspraxen führen eben schlicht auch dazu, dass Objekte nicht als relevant für die Versinnbildlichung historisch wichtiger Ereignisse erachtet und damit bisher nicht gesammelt wurden. Es kann auch heißen, dass es sie vielleicht zwar in den Sammlungen gibt, sie aber nicht auffindbar sind, weil es keine Verschlagwortung gibt, die sie als queere Objekte erkennbar macht. Das heißt vielleicht auch, dass es keine Mitarbeiter*in in der Sammlung mit der notwendigen Expertise gibt, um queere Codes lesen zu können und Objekte zu entdecken und entsprechend zu labeln. Und es heißt, dass queeres Wissen – genauso wie rassismuskritisches Wissen – bisher nicht oder zu wenig als wertvoll und bereichernd für die Institution Museum anerkannt wird.

Museen queeren bedeutet, die Ausstellungs- und Sammlungspraxis und nicht zuletzt die Personalpolitik und die Grundfesten der Institution zu hinterfragen. Letztlich geht es darum, ein Versprechen einzulösen, nämlich Machtstrukturen abzubauen und die bereits vorhandene geschlechtliche und sexuelle Vielfalt der Gesellschaft auch auf allen Ebenen ins Museum einziehen zu lassen. Und das nicht nur als notwendiges Übel zu begreifen, sondern das utopische Potential zu sehen, das Queerness im Museum und queeres Kuratieren für alle haben kann.

 


[1] Sandra/Panda Ortmann im Interview mit Andrea Günther und Hannes Hacke, „,… die Bedeutung von queeren muss immer wieder neu verhandelt werden‘ Strategien des Netzwerks Museen Queeren Berlin“, 2020.
[2] LSBTIQ* ist ein Akronym und steht für Lesben, Schwule, Bisexuelle, Trans*, Inter* und Queers. Das Sternchen markiert, dass die Aufzählung nicht abschließend ist.
[3] Anna-Carola Krausse, Lotte Laserstein. Meine einzige Wirklichkeit, Dresden 2003, S. 119.
[4] Valentina Bay, Alexander Eiling, Elena Schroll, Katalog, in: Alexander Eiling, Elena Schroll, Lotte Laserstein. Von Angesicht zu Angesicht, München - London - New York 2018, S. 82.
[5] Kristin Schroeder, Unsere Bilder. Freundschaft und weiblicher Akt, in: Alexander Eiling, Elena Schroll, Lotte Laserstein. Von Angesicht zu Angesicht, München - London - New York 2018, S. 155. In der Ausstellung „Lesbisches Sehen“, die ich zusammen mit Birgit Bosold 2018 im Schwulen Museum kuratiert habe, gab es auch ein Gemälde von Laserstein zu sehen – den weiblichen Rückenakt mit dem Titel „Madeleine“, den die Malerin 1956 im Exil in Schweden angefertigt hat. Wir entwarfen mit der Ausstellung „eine utopisch-melancholische Galerie, die lesbischen Begehrensformen, Erfahrungswelten, Identitätsentwürfen und Lebensweisen auf der Spur ist,“, die assoziativer funktionierte als entlang der geforderten Beweislast, mit wem Laserstein Sex hatte.
[6] Im Text wird „queer“ in zwei unterschiedlichen Bedeutungen verwendet. Einmal wird „queer“ synonym zu LSBTIQ* verwendet und bezeichnet als Sammelbegriff Lebensrealitäten, Identitäten, Praxen und Begehrensstrukturen, die in einer Gesellschaft, die an cis-geschlechtlichen Personen, an heterosexuellen Identitäten und Begehren ausgerichtet ist, abgewertet, marginalisiert und auch strukturell diskriminiert werden. Queer wurde als Schimpfwort verwendet, ist aber mittlerweile eine positive Selbstbezeichnung, die sich wieder angeeignet wurde. Queer und insbesondere queering meint in meinem Text aber auch eine spezifische Kritikform und eine kuratorische Haltung, die versucht Sexualitäten, Geschlechter und Begehrensformen historisch und lokal zu verorten und damit die Naturalisierung von cis-heteronormativen Räumen aufzubrechen und Narrative komplexer werden zu lassen.
[7] Dieser Leerstelle hat sich das Volontär*innen-Projekt „Out and About. Queere Sichtbarkeiten in der Sammlung der Berlinischen Galerie“ gewidmet und genau diese queeren Aspekte ans Licht geholt: In einem Online-Projekt, das auf einer Unterseite der Berlinischen Galerie gehostet wird, untersuchen sie insgesamt elf Arbeiten auf ihre „queeren Lesbarkeiten“ und erweitern dadurch das sozial Vorstellbare im heteronormativen Raum Museum.
[8] R. B. Parkinson, A little gay history, London 2013, S. 10.
[9] British Museum, Desire, love, identity. LGBTQ histories trail, 2019.
[10] R. B. Parkinson, A little gay history, London 2013, S. 34.
[11] Roswitha Muttenthaler, Regina Wonisch, Gesten des Zeigens. Zur Repräsentation von Gender und Race in Ausstellungen, Bielefeld 2006, S. 13.
[12] "Homosexualität_en", eine Ausstellung des DHM und des Schwulen Museums*, 26. Juni bis 1. Dezember 2015.
[13] Die Wanderausstellung wurde von Birgit Bosold und mir für das SMU kuratiert und basierte auf einem Forschungsbericht von Dr. Kirsten Plötz und Marcus Velke-Schmidt. Sie wurde 2017 im Landtag in Wiesbaden eröffnet und war an verschiedenen Orten in Hessen zu sehen. 
[14] International hieß das Projekt „Queer as German Folk“ und wurde von Birgit Bosold und mir für das SMU in Kooperation mit dem Goethe-Institut New York kuratiert. Die Wanderausstellung war weltweit an über 20 Orten zu sehen, in Deutschland bisher im SMU, im Abgeordnetenhaus Berlin und dem Thüringer Landtag.
[15] Ausstellung 2022: "In Bewegung kommen. 50 Jahre queere Geschichte(n) in Göttingen".
[16] "To be seen. Queer Lives 1900-1950" im NS-Dokumentationszentrum München.
[17] Angela Vanegas, Representing Lesbians and Gay Men in British Social History Museums, in: Amy K. Levin, Gender, Sexuality and Museums, London - New York 2010, S. 268f.
[18] Das Projekt wurde 2019 veröffentlicht und ist immer noch zu sehen, das Schwule Museum war Kooperationspartner*in.
[19] María López-Fanjul y Díez del Corral, Auf den zweiten Blick. Spielarten der Liebe, 2019.
[20] ebd., S. 37.
[21] ebd.
[22] Andrea Günther, Let’s talk about sex and art! Wie und warum wir im Museum über Gender und vielfältige sexuelle Lebensweisen sprechen sollten, in: Anna Pritz, Rafaela Siegenthaler, Marian Thuswald (Hg.), Bilder befragen. Begehren erkunden, Zeitschrift Kunst Medien Bildung, 2020.
[23] Pauline Recke, Taina Engineer, Andrea Günther, Nicola Lauré al-Samarai, Felicia Rolletschke, Let`s talk about Sex and Art! Methoden Kit, 2019, S. 87.
[24] ebd. S. 90.
[25] Anina Falasca, Sexualitäten ausstellen. Herausforderungen bei der Neukonzeption eines Themenraums im Deutschen Hygiene-Museum – ein kritischer Erfahrungsbericht, in: Maria Bühner (Hg.), Sexualitäten Sammeln. Ansprüche und Widersprüche im Museum, Wien - Köln 2021, S. 135.
[26] ebd., S. 154.
[27] Jennifer Tyburczy, Sex Museums. The Politics and Performance of Display, Chicago - London 2016, S. 3f.
[28] Vorstellung Netzwerk Museen Queeren, Abruf: 3.12.2022.
[29] Hannes Hacke im Interview mit Andrea Günther und Sandra/Panda Ortmann „,…die Bedeutung von queeren muss immer wieder neu verhandelt werden‘ Strategien des Netzwerks Museen Queeren Berlin“, 2020.