von René Schlott

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28. März 2024

Auf der Südseite des Berliner Bahnhofs Friedrichstraße steht ein Denkmal an dem die meisten Passanten achtlos vorübergehen. Es trägt den Titel „Züge in das Leben – Züge in den Tod“ und es zeigt auf der einen Seite stürmische Kinder mit Koffern in der Hand, auf der anderen Seite Mädchen und Jungen mit gesenktem Blick. Die Figurengruppe erinnert so einerseits an die 10.000 Kinder, die im Rahmen eines vom britischen Parlament beschlossenen Hilfsprogramms aus dem Deutschen Reich und Österreich 1938/39 nach Großbritannien mit „Zügen in das Leben“ fuhren, andererseits symbolisiert sie das Schicksal hunderttausender von den Nationalsozialisten deportierter Kinder, die mit „Zügen in den Tod“ fuhren. Das Denkmal wurde erst im Dezember 2008, siebzig Jahre nach den Ereignissen, eingeweiht. Fast genau solange hat es gedauert, bevor die Holocaustforschung die jüdischen Kinder überhaupt als eigenständige Opfergruppe wahrgenommen hat und sich Forschungsarbeiten mit ihnen beschäftigten.

Während die sogenannten Kindertransporte in den Monaten unmittelbar vor dem Beginn des Zweiten Weltkrieges nach Großbritannien in der deutschen Öffentlichkeit noch relativ bekannt sind, weiß kaum jemand von der zur gleichen Zeit abgelaufenen Rettung von mehreren hundert Kindern aus der Tschechoslowakei, die auf die Initiative eines einzelnen britischen Staatsbürgers zurückgeht. Seine Geschichte, die Geschichte von Nicholas Winton, erzählt der nun in die deutschen Kinos gekommene Film „One Life“. Der Film beginnt mit einer Szene im Herbst 1987, in der der Protagonist, oscarverdächtig gespielt von Anthony Hopkins, das Küchenradio wegen der vielen schlechten Nachrichten kurzerhand abschaltet. Die Börsen sind nach dem „Schwarzen Montag“ weltweit auf Talfahrt. Die britische Regierung plant die Abschiebung tamilischer Bürgerkriegsflüchtlinge in ihr Heimatland Sri Lanka. Der Innenminister kann gerade noch versichern, dabei mit aller gebotenen Humanität vorzugehen, bevor das Radio verstummt.

Dann erfolgt die Rückblende in ein halbes Jahrhundert zuvor. Der fast dreißigjährige Börsenmakler Nicholas Winton macht sich Ende 1938 aus London auf eigene Faust auf den Weg nach Prag, wo er einen Freund bei der humanitären Hilfe für Menschen unterstützen will, die auf der Flucht vor den Nationalsozialisten in der Hauptstadt der damals noch unabhängigen Tschechoslowakei gestrandet sind. Deutsche Truppen hatten zwei Monate zuvor als unmittelbares Ergebnis des mit Frankreich, Großbritannien und Italien ausgehandelten „Münchener Abkommens“ das Sudetenland besetzt und eine Fluchtwelle ausgelöst. Als Winton das Elend der Familien in den provisorisch errichteten Lagern sieht, beschließt er zu helfen. Er organisiert mit Hilfe eines Netzwerkes zahlreicher anderer Menschen vor Ort in Prag und in London insgesamt neun Zugtransporte mit Kindern in die britische Hauptstadt. Nach zahllosen erfolglosen Versuchen gewinnt er das Vertrauen eines Rabbiners in Prag (dargestellt von dem deutsch-bulgarischen Schauspieler Samuel Finzi) und der Familien, die ihre Kinder in eine ungewisse Zukunft geben. Bei der ungeheuer aufwendigen Organisation der Visa, der finanziellen Mittel und der Aufnahmefamilien wird Winton auch von seiner deutschstämmigen Mutter (mit einem schweren deutschen Akzent im Englischen gespielt von Helena Bonham Carter) unterstützt, die 1907 unter dem jüdischen Namen Wertheimer selbst nach Großbritannien eingewandert war.

 

Helena Bonham Carter als Mutter von Nicholas Winton. Lizenz: ©SquareOne Entertainment

 

Der Film ist als eine recht konventionelle Heldengeschichte erzählt und setzt mit seiner musikalischen Untermalung und in der Tradition von Erfolgsstreifen wie „Schindlers Liste“ ganz auf die Emotionalisierung des Publikums. Und er arbeitet natürlich mit dem Effekt der Dramatisierung, denn die Bedingungen in Prag verschlechterten sich in der Tat von Tag zu Tag. Die Stadt war auch schon vor ihrer Besetzung durch deutsche Truppen im Mitte März 1939 voll von Gestapo-Spitzeln und die Züge müssten auf ihrem Weg an die holländische Küste zur Überfahrt nach England auch das Gebiet des Deutschen Reiches passieren. Doch Winton setzte seine Rettungsaktion auch unter schwierigsten Bedingungen fort und überwindet alle administrativen und finanziellen Hindernisse. Wintons Engagement erinnert an Hannah Arendts Arbeit in der Kinder- und Jugend-Alijah während ihrer Pariser Exiljahre, die Thomas Meyer in seiner kürzlich erschienenen Biografie so anschaulich geschildert hat, und tatsächlich konnte Meyer in Archiven Briefe finden, die beide Initiativen seinerzeit ausgetauscht haben. Doch der deutsche Überfall auf Polen am 1. September 1939 und der Beginn des Zweiten Weltkrieges setzt den Kindertransporten aus Prag ein Ende. Ein Zug mit 250 Kindern der am Morgen des Tages die tschechische Hauptstadt verlassen soll, wird in letzter Minute von deutschen Soldaten aufgehalten.

Winton dokumentiert die Umstände der Rettungsaktion, die Portraitfotos der geretteten und zurückgelassenen Kinder sowie seine Helferinnen (wobei die tschechisch-jüdische Aktivistin Marie Schmolková im Film überhaupt nicht vorkommt) und Helfer in einem Album. Ansonsten schweigt er nach Kriegsende über sein Engagement. Erst Ende der 1980er Jahre wird Elizabeth Maxwell, die Ehefrau des tschechoslowakisch-britischen Verlegers Robert Maxwell auf Winton aufmerksam, nachdem dieser der Wiener Library, einem seit 1933 in London ansässigen Institut zur Holocaustforschung, das Album zur Übernahme angeboten hatte. Maxwell sorgt dafür, dass Winton in eine populäre britische Fernsehshow eingeladen wird, wo er erstmals mit einigen der geretteten Kinder, inzwischen Erwachsene, zusammentrifft. In der Folge melden sich immer mehr Überlebende der Rettungsaktion und deren Nachkommen. Winton wird ein berühmter Mann und erhält Ehren und Auszeichnungen. Mehrere Dokumentarfilme und Bücher verbreiten seine Geschichte. 2015 stirbt er im Alter von 106 Jahren. Der Film endet jedoch schon früher, mit einem Familientreffen von Wintons Familie mit der Familie eines damals geretteten Mädchens. Die „New York Times“ zählte in ihrem Nachruf auf Winton mehr als 6.000 lebende Nachkommen der einst 669 geretteten Kinder.

 

Johnny Flynn als junger Nicholas Winton. Lizenz: ©SquareOne Entertainment

 

Das Filmdrama „One Life“ feierte im September 2023 seine Weltpremiere beim Toronto International Film Festival und seine Europapremiere im Oktober 2023, nur wenige Tage nach dem Massaker der Hamas vom 7. Oktober 2023. Seit Anfang des Jahres läuft er in den britischen Kinos und stieß auf überwiegend positive Kritiken. Die Historikerin Katharina Urbach berichte im Januar 2024 jedoch auf „Spiegel Online“, dass der Film im aufgeheizten Debattenklima Großbritanniens zum Politikum geworden sei. Weil die Produktionsfirma „BBC Film“ infolge des Gaza-Kriegs einen Boykott des Films fürchtete, strich sie das Wort „jüdisch“ aus ihrer Filmwerbung, so dass es lediglich hieß Winton, habe „Kinder aus Mitteleuropa“ gerettet. Nach Protesten gab es eine erneute Korrektur, wonach die geretteten Kinder „predominantly Jewish“ gewesen seien.

Es bleibt zu hoffen, dass eine derartige Politisierung des Filmes in Deutschland oder gar Boykottaufrufe ausbleiben, zeugt die darin erzählte Geschichte von Nicholas Winton doch gerade davon, was ein einzelner Mensch als Mensch für andere Menschen leisten kann, ungeachtet von deren Religion, ethnischer Herkunft oder anderen Identitätsmerkmalen. Und so taugt der Film in dunklen Zeiten als Zeugnis einer universellen Humanität, die bewahrt werden muss und doch ständig bedroht ist: In der zurückliegenden Neujahrsnacht wurde das Denkmal für die Kindertransporte am Bahnhof Friedrichsstraße beschmiert. Es war nicht der erste Akt des Vandalismus gegen das Mahnmal.

 

 

One Life (Vereinigtes Königreich)

Original Sprache: Englisch

Regie: James Hawes

Erscheinungsjahr: 2023

Deutscher Kinostart: 28. März 2024