von Michael Bies

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20. Dezember 2024

In der Literatur der Moderne werden Vorstellungen von einem Zeitenwechsel oder einer Zeitenwende besonders in der Auseinandersetzung mit Revolutionen artikuliert.

 

Zeitenwenden bei Balzac

Beispielhaft nachvollziehen lässt sich das an Honoré de Balzacs Comédie humaine, dem umfangreichsten Romanwerk des 19. Jahrhunderts. Vor allem in frühen Romanen wie Eugénie Grandet und Père Goriot, die 1834/35 erstmals erschienen, stilisiert Balzac die Französische Revolution zu einem Schlüsselereignis, das die Formation der französischen Gesellschaft wie auch das Leben einzelner Menschen entscheidend verändert hat. Das zeigt schon das Schicksal des ehemaligen Böttchermeisters Grandet, der durch den Kauf von Kirchengütern zu großem Reichtum gelangt und dabei eine Liebe zum Geld entwickelt, die stärker als alle Familienbande ist. In ähnlicher Weise veranschaulicht Balzac an dem Arbeiter Jean-Joachim Goriot die Möglichkeiten, die sich mit dem Jahr 1789 eröffneten: Im Zuge der Revolution übernimmt Goriot die Nudelfabrik seines Meisters und legt so den Grundstein zu jenem phantastischen Vermögen, das seine Töchter dann ebenso hemmungslos wie gründlich verschwenden.

Solch eine Fokussierung auf Revolutionen als den Gang der Gesellschaft wie auch der Individuen prägenden Ereignissen kennzeichnet die gesamte Comédie humaine, die Balzac ziemlich genau in der Zeit zwischen den Revolutionsjahren 1830 und 1848 verfasst hat. Allerdings thematisiert er in späteren Romanen nicht mehr so sehr die Französische Revolution als vielmehr die Julirevolution, in der die Pariser Bevölkerung in den Tagen vom 27. bis 29. Juli 1830 – den sogenannten trois glorieuses – den Bourbonenkönig Karl X. stürzte. Beobachten lässt sich das etwa in den Romanen Cousine Bette und Cousin Pons aus den Jahren 1846/47. Obwohl Balzac die Julirevolution hier selbst nicht darstellt, verweist er wiederholt auf das Jahr 1830, um zu betonen, wie stark die Verhältnisse unter dem ‚Bürgerkönig‘ Louis Philippe sich von denen früherer Zeiten unterscheiden – wie rücksichtslos die Gesellschaft, wie hinterhältig die Menschen, wie maßgeblich das Geld und wie teuflisch die Liebe seitdem geworden seien. „Besonders seit 1830 kommt in Paris niemand ans Ziel, ohne mit allen Mitteln und größter Energie eine erschreckende Menge von Mitbewerbern zur Seite zu stoßen“, heißt es in Cousin Pons.[1] Noch deutlicher markiert Balzac den gesellschaftlichen Umbruch, der sich seit der Julirevolution vollzogen habe, in Cousine Bette. Darin richtet der von der Napoleon-Ära geprägte Baron Hulot sich und seine Familie zugrunde, weil er „die seit 1830 gänzlich veränderten Lebensanschauungen“, vor allem „die modernen Liebeskünste“, nicht mehr versteht: „Heute war die Frau nicht mehr das arme schwache Geschöpf, das willige Opferlamm ihres sinnlichen Geliebten, nicht mehr die fürsorgliche Schwester, die alle Wunden verbindet, nicht mehr der still ergebene Engel. Die neue Liebe träufelt Himmelsworte auf Teufelswerk.“[2] Dass der einst galante Baron diesem „Teufelswerk“ der modernen Liebe nichts entgegenzusetzen vermochte, ist sein Ruin.

Natürlich sind solche Diagnosen, wie sich die Zeiten ‚seit 1789‘, ‚seit 1830‘ oder seit einem anderen Zeitpunkt verändert haben, mit Skepsis zu betrachten – Misstrauen mag schon der Umstand erwecken, dass Balzac die Folgen von ‚1789‘ und ‚1830‘ jeweils relativ ähnlich charakterisiert: In der Comédie humaine zerstören beide Revolutionen die tradierten sozialen Bindungen noch ein wenig weiter, um die Menschen noch ein wenig einsamer, selbstsüchtiger und materialistischer werden zu lassen. Jedoch muss man gar nicht fragen, ob das nun ‚stimmt‘, was Balzac schreibt. Es genügt festzuhalten, dass er die Revolutionen von 1789 und 1830 jeweils als Zeitenwenden markiert und zur Charakterisierung von gesellschaftlichen Transformationsprozessen wie auch von individuellen Glückswechseln nutzt.

Das ist nicht so selbstverständlich, wie es zunächst scheinen mag. Denn was bei Balzac aus dem Abstand einiger Jahre und Jahrzehnte als klarer Zeitenwechsel verhandelt wird, stellt sich aus der Nähe oft als viel flüchtiger, unordentlicher und unübersichtlicher – und oft als überraschend gewöhnlich dar.

 

  • Börne und die „gewohnte Ordnung“

Der revolutionsbegeisterte Ludwig Börne etwa zeigt sich am 17. September 1830, nur einen Tag nach seiner Ankunft in Paris, geradezu enttäuscht darüber, wie wenige Spuren die Revolution hier hinterlassen hat: „Ich dachte, in Paris müsse es aussehen wie am Strande des Meeres nach einem Sturm, alles von Trümmern bedeckt sein, und das Volk müsse noch tosen und schäumen. Doch war die gewohnte Ordnung überall und von der Verheerung nichts mehr zu sehen. Auf einigen Strecken der Boulevards fehlen die Bäume, und in wenigen Straßen wird noch am Pflaster gearbeitet.“[3]

Börne verzichtet hier in gleich doppelter Hinsicht darauf, die Julirevolution als eine Zäsur zu markieren. Obwohl manche Boulevards kahl sind, weil die Bäume zur Errichtung von Barrikaden gefällt wurden, und das Straßenpflaster noch nicht vollständig wiederhergestellt worden ist, findet er nicht nur überall „die gewohnte Ordnung“ vor. Vielmehr lokalisiert er auch die Stadt selbst innerhalb einer solchen „gewohnten Ordnung“, wenn er sie in mehreren Passagen seiner Briefe aus Paris (1831–1834) durch den etablierten Topos der Großstadt als Meer beschreibt. „Schreiben, Schriftstellern, Gedanken bauen – wie wäre das möglich hier?“, so fragt er am 21. September 1830: „Der Boden wankt unter meinen Füßen, es schwindelt um mich her, mein Herz ist seekrank.“[4]

Für die unmittelbare Zeit nach der Revolution ist eine solche Darstellung nicht untypisch. In ihren Versuchen, ein Verständnis der Geschehnisse zu erlangen, kennzeichnen auch so verschiedene Autoren wie Friedrich von Raumer (Briefe aus Paris und Frankreich im Jahre 1830, 1831) und Heinrich Heine (Französische Zustände, 1832) die Julirevolution als ein Ereignis, das die Kontinuität von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zumindest nicht durchbricht.

 

  • Heine und die Auseinandersprengung der Zeit

In seiner ebenso brillanten wie kontroversen Denkschrift Ludwig Börne (1840) perspektiviert Heine die Julirevolution jedoch noch einmal anders. Deutlich wird das vor allem im zweiten Buch der Denkschrift, das aus Briefen besteht, die er im Sommer 1830 auf Helgoland verfasst haben will. Darin verknüpft Heine die Julirevolution mit einer Zäsur, indem er im Rückgriff auf die Unterscheidung zwischen dem alten und dem neuen Rom die Hoffnung auf ein neues Frankreich artikuliert: „Wie einst ein neues Rom, so beginnt jetzt ein neues Frankreich.“[5] Diese Hoffnung auf einen Neuanfang überlagert er durch eine Unterscheidung im Zeiterleben des briefeschreibenden Ichs. Denn während dieses sich zunächst in einer zyklischen Zeit gefangen sah, in der die Welt „im erfolglosesten Kreislauf“ verharrte, werfen die Nachrichten von der Revolution es aus diesem hinaus und eröffnen ihm den Blick in eine offene Zukunft: „Ich weiß jetzt wieder was ich will, was ich soll, was ich muß … Ich bin der Sohn der Revoluzion und greife wieder zu den gefeyten Waffen, worüber meine Mutter ihren Zaubersegen ausgesprochen …“[6] Hierzu tritt schließlich eine weitere Vorstellung von Zeitlichkeit, wenn Heine zum Abschluss des zweiten Buchs im Rückblick auf das Jahr 1830 schreibt, die „Juliusrevoluzion“ habe „unsere Zeit gleichsam in zwey Hälften auseinander[ge]sprengt[ ]“.[7] Was zuvor als nicht weiter einschneidendes Ereignis begriffen wurde, versucht Heine hier also gleich dreifach als Ablösung einer alten durch eine neue Zeit, als Einbruch einer linearen in eine zyklische Zeit und als Auseinandersprengung der Zeit zu erfassen.

 

Zeitenende, Zeitenwende

In einem Aufsatz zur Zeitfigur des Endes hat Karlheinz Stierle betont, dass ein Ende nie einfach gegeben, „sondern immer eine gedeutete Tatsache vor dem Horizont anderer Tatsachen“ sei.[8] Der Literaturwissenschaftler meint damit nicht, die Vorstellung, dass etwas ein Ende und – wie er mit Aristoteles sagt – somit auch einen Anfang und eine Mitte habe, sei beliebig. Mit Verweis auf Kant begreift Stierle das Ende vielmehr als „eine Anschauung oder genauer eine Anschauungsform als Bedingung der Möglichkeit von Anschauung“, durch die wir ansonsten formlosen Prozessen eine Form und damit einen Sinn geben können.[9]

Für das Nachdenken über Zeitenwenden ist diese Überlegung aufschlussreich. Denn aus dieser Perspektive wären Zeitenwenden nichts, das sich einfach vollzieht, sondern zuallererst eine Anschauungsform, durch die wir ansonsten diffuse und unbestimmte Geschehnisse ordnen und bestimmen. Interessant ist nun, dass die Anschauungsform der Zeitenwende eine komplexere Modellierung solcher diffusen und unbestimmten Geschehnisse erlaubt, als es bei der Figur des Endes der Fall ist: Eben weil sie Ereignisse nicht in eine Struktur von Anfang, Mitte und Ende bringt, kann sie erfassen, dass es ein Ende in einem strengen Sinne ohnehin selten gibt. Selbst beim Anbruch einer neuen Zeit, wie sie etwa mit dem Bürgerkönigtum Louis Philippes assoziiert werden mag, lebt immer eine alte Zeit weiter und führt ein gespensterhaftes, unzeitgemäßes, vielleicht auch ruinöses Nachleben. An der Figur des Baron Hulot hat Balzac das in Cousine Bette mit allen Konsequenzen gezeigt.

Das lässt sich auch auf ‚unsere‘ Gegenwart übertragen. Im Anschluss an den Anthropologen James Clifford hat Donna Haraway 2016 betont, dass wir neue Erzählformen und Theorien brauchen, wenn wir die Welt besser und anders als bisher begreifen wollen: „[W]e need stories (and theories) that are just big enough to gather up the complexities and keep the edges open and greedy for surprising new and old connections.“[10] Auf der Suche nach solchen Formen, die die Komplexität der Welt in hinreichender Komplexität abzubilden vermögen, könnte die Anschauungsform der Zeitenwende eine altmodische, aber trotzdem geeignetere Kandidatin als die momentan so allgegenwärtige Anschauungsform des Endes sein, um gesellschaftliche Diskurse zu strukturieren. Wichtig wäre nur, dass wir es uns mit der Zeitenwende nicht zu einfach machen, dass wir mit ihr also keine simple Umkehr des Zeitlaufs oder eine einfache Ablösung einer Zeit durch eine andere Zeit assoziieren. Eher ist ‚Zeitenwende‘ als Hinzutreten einer als neu aufgefassten Zeit zu einer Zeit zu begreifen, die nun als alt verstanden wird, aber deshalb noch längst nicht Geschichte ist – die die vermeintlich neue Zeit also immer wieder heimzusuchen und zu gefährden vermag.

 


[1] Honoré de Balzac: Cousin Pons oder Die beiden Musiker. Roman, übers. von Otto Flake, Zürich 2007, S. 35.
[2] Honoré de Balzac: Tante Lisbeth. Roman, übers. von Paul Zech, Zürich 2007, S. 146 f.
[3] Ludwig Börne: Briefe aus Paris, hrsg. von Alfred Estermann, Frankfurt a. M. 1986, S. 25.
[4] Ebd., S. 33.
[5] Heinrich Heine: Ludwig Börne. Eine Denkschrift, in: ders.: Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke, in Verbindung mit dem Heinrich-Heine-Institut hrsg. von Manfred Windfuhr, Hamburg 1973–1997, Bd. 11, S. 9–132, hier S. 49.
[6] Ebd., S. 47 und 50.
[7] Ebd., S. 56.
[8] Karlheinz Stierle: Die Wiederkehr des Endes. Zur Anthropologie der Anschauungsformen, in: ders., Rainer Warning (Hrsg.): Das Ende. Figuren einer Denkform, München 1996, S. 578–599, hier S. 578.
[9] Ebd., S. 596.
[10] Donna Haraway: Anthropocene, Capitalocene, Plantationocene, Chthulucene: Making Kin, in: Environmental Humanities 6 (2015), S. 159–165, hier S. 160.