Laudatio für Dr. Andreas Kötzing zum Zeitgeschichte-Digital-Preis in der Kategorie „Wissenschaftskommunikation“ für den Beitrag „Falsches Feuer. Zum Umgang mit retuschierten und inszenierten Bildern vom Reichstagsbrand“, erschienen am 12. Mai 2023 auf „Visual History. Online-Nachschlagewerk für die historische Bildforschung“.
Lieber Andreas Kötzing,
wenige Tage nachdem unsere Jury-Entscheidung für den Preis gefallen war, ging ein Aufschrei durch Japans Öffentlichkeit. Aufmerksame User hatten Anfang Oktober eine Unstimmigkeit auf einem Foto des Regierungskabinetts entdeckt, das erst in der Presse und dann auf der offiziellen Regierungs-Website erschienen war. Während in der Presse-Darstellung deutlich zu erkennen war, dass unter dem schwarzen Frack von Ministerpräsident Shigeru Ishiba und von Verteidigungsminister Gen Nakatani weiße Hemdspitzem und Gürtelschnallen hervorlugten und einige Kabinettsmitglieder stark knittrige Hosen trugen, waren auf dem offiziellen Kabinettsfoto plötzlich überflüssige Hemden, Gürtel und etliche Knitterfalten verschwunden und auch das Haupthaar des einen oder anderen Ministers war nun voller als gewöhnlich.
Die Kunde vom „unordentlichen Kabinett“ und deren Bildbearbeitung ging viral und löste eine spottgetragene Foto-Affäre aus, die es bis in die internationale Presse schaffte – auch FAZ, Stern, TAZ, Focus und Tagesschau berichteten. Von Bild-Retusche und Manipulation war die Rede. Doch Regierungssprecher Yoshimasa Hayashi blieb unberührt und erklärte, Retuschen seien üblich, denn offizielle Regierungsfotos würden schließlich für immer als „Andenken“ bewahrt. Seine Message lautete: Gerade, weil es ein Bild für die Nachwelt sei, müsse es nicht zwangsläufig authentisch sein, sondern so geartet, wie man später gesehen werden möchte. Eine Haltung, die Forschende zu visueller Performanz zumindest irritieren dürfte.
Auch, wenn in Japan der Kleidungs-Knigge einen hohen symbolischen Stellenwert besitzt, erscheint diese Anekdote angesichts unserer globalen Bilderwelt eher harmlos und alles andere als geschichtsmächtig. Doch sie berührt einen sensiblen Bereich. Der Kampf gegen Fake-Bilder und visuelle Fehlinformation gehört zu den größten Herausforderungen demokratischer Gesellschaften und ihrer Medien – das rasche Entdecken und Aufdecken von manipulierten Fotografien und unechten Foto-Motiven zu den wichtigen Aufgaben. Und das betrifft auch uns Historikerinnen und Historiker, die sich mit bewegten und unbewegten Bildern befassen.
In Japan ging’s auffällig schnell, bis die besagte Bild-Unechtheit öffentlich wurde. Das kann man dagegen von dem Foto, mit dem sich Andreas Kötzing auseinandergesetzt hat, nicht sagen. Über mehr als sechs Jahrzehnte blieb dies nahezu unbemerkt. Dabei ist es nicht irgendein Foto, sondern eines der ikonischen Fotos über die Zeit der NS-Diktatur. Es zeigt den brennenden Reichstag 1933 mit lodernden Flammen und Menschen auf der Straße davor, die dem Geschehen zuschauen. Es ist ein Foto, das die meisten von uns schon einmal in Zeitungen, Zeitschriften oder im Fernsehen gesehen hat, wenn’s um den Reichstagsbrand und seine Folgen geht. Es ist ein Foto, das sich unser visuelles Gedächtnis als quasi dokumentarische Quelle eingegraben hat – und dennoch kein Original ist, ein „Falsches Feuer“, wie Andreas Kötzing titelt.
Denn es handelt sich um ein Bild aus einem Film. Und zwar nicht irgendeine Kinoproduktion, sondern aus dem DDR-Spielfilm „Der Teufelskreis“ von Regieneuling Carl Ballhaus aus dem Jahr 1955/56, gedreht in Potsdam-Babelsberg. Ein Film, dessen Aufführung wiederum in der damaligen Bundesrepublik verboten worden war. Was auf dem Bild zu sehen ist, war das brennende Holz-/Gipsmodell des Reichstags, entstanden im Trickatelier Ernst Kunstmann der DEFA-Studios. Bildtechnisch war es eine Kombination der Aufnahme des brennenden Modells, projiziert auf eine Rückpro-Leinwand mit filmkünstlerisch ausgeleuchtete Statisten davor. Also eine sogenannte Kombinationsaufnahme.
Wie nun aus einem fiktionalen Filmbild ein berühmtes historisches Dokumentarfoto mit vermeintlich hohem Authentizitätswert wurde – diese überraschende Karriere zeichnet Kötzing eindrucksvoll nach. Überraschend, weil natürlich glauben wir den Fakt des Retuschierens zu kennen, insbesondere vor dem unserem Wissenshintergrund über die Löschorgien auf kommunistischen Staatsfotos, wo geschasste Ex-Funktionäre aus dem Bildgedächtnis einfach wegradiert wurden. Wir glauben uns in halbwegs interpretatorischer Sicherheit – auch, weil die Kenntnis der KI-Möglichkeiten unsere Bildkritik und Skepsis geschärft haben. Aber eben doch nicht genug, wie uns Andreas Kötzing an diesem Beispiel überzeugend zeigt.
Der Film „Der Teufelskreis“ erzählt nach dem gleichnamigen Theaterstück von Hedda Zinner den damaligen Gerichtsprozess, bei dem die Reichstagsbrandstiftung der Kommunistischen Partei zugeschoben werden sollte. Im Mittelpunkt steht der kommunistische Exil-Bulgare Georgi Dimitroff, der in seiner Verteidigung die Faschisten anklagt und sie öffentlich der Brandstiftung überführt. Der Film wurde 1955 gedreht, just in dem Jahr, das als Jahr der fixierten West- und Ostbindung von Bundesrepublik und DDR in die Geschichtsbücher eingegangen ist. Auch wenn der Begriff der „Vergangenheitsbewältigung“ in jenem Jahr erstmals auf einer Tagung der Evangelischen Akademie West-Berlin zum Thema 20. Juli 1944 auftauchte, war von kritischer und juristischer NS-Aufarbeitung noch nicht viel zu spüren.
In dieses Vakuum wollte die DDR propagandistisch hineinwirken. Die Trickaufnahmen vom brennenden Reichstag aus dem Spielfilm wurden kurz darauf unkommentiert einmontiert in die propagandistische Dok-Film-Großproduktion „Du und mancher Kamerad“ (DDR 1956) von Andrew und Annelie Thorndike, die weltweit in vielen Ländern gezeigt wurde. Weitere Filme bedienten sich am Stoff, woraufhin die Metamorphose ihren Lauf nahm. Aus den inszenierten Sequenzen wurde erst ein vermeintlich authentisches Film-Dokument und dann ein einzelnes Bild, das schließlich irgendwann als angebliche Originalaufnahme in den großen Bildagenturen landete. Also nicht „Wie Geschichte zu Bildern wird“, wie Peter Geimers sein Buch betitelte, sondern wie Bilder zu Geschichte werden, wird thematisch verhandelt. Insgesamt eine hoch spannende Genese im Kontext von Visual History und Authentizitätsforschung, von Mediengeschichtsboom und medialem Erbe, womit sich das ZZF oder auch die Filmuniversität Potsdam auseinandersetzen.
Was Andreas Kötzing gemacht hat, ist Aufarbeitung und Aufklärung. Am Detail erfahren wir dabei auch, welche Zeitungen sich jüngst – zum 70. Jahrestag 2023 – wieder am DEFA-Fundus bedient haben, von PNN über Die Welt und SZ bis zur Tagesschau. Seine Einzelfallanalyse ist ein Plädoyer, es sich nicht in Seh- und Rechercheroutinen bequem zu machen und stets Obacht und Sorgsamkeit walten zu lassen. Wir wissen, dass Bilder Geschichtsvorstellungen und Geschichtsbewusstsein prägen. Roland Barthes notierte nicht zufällig in seinen „Bemerkungen zur Fotografie“, Geschichte sei hysterisch und nehme erst dann Gestalt an, wenn man sie betrachte. Und Gerhard Paul sprach nicht umsonst davon, dass Bilder aufgrund ihrer „generativen Kräfte“ zu geschichtserzeugenden Größen wachsen können, da sie Schmerz, Betroffenheit, Parteinahme bis hin zum Aktionismus auszulösen imstande sind.
Andreas Kötzing klärt aber auch auf, indem er seine Erkenntnisse nicht allein nur dem Online-Nachschlagewerk „Visual History“ übereignet hat, sondern indem er nach seinen Recherchen mit betroffenen Leitmedien in Kontakt getreten ist und in Gastbeiträgen die Bildherkunft beschrieben hat. Somit verblieb sein Wissen nicht nur im engen Fachkreis, sondern gelangte in die Medienöffentlichkeit.
Der Artikel gibt mehrere Anregungen, von denen ich nur eine anreißen möchte: Von Filmfotos ist es nicht weit zu Film-Standbildern, die ästhetisch als Schwellen-Bilder und ephemeres Genre im Dienste zwischen Filmwerbung und Dreh-Dokumentation gelten. 2016 gab’s in der Wiener Albertina eine große Ausstellung dazu; kurz darauf auch in Potsdam über die DEFA-Filmfotografin Waltraud Pathenheimer, die zwischen 1954 und 1990 am Set von 80 Kino- und Fernsehfilmen fotografiert hat. Ich denke, dass es nicht nur aus filmästhetischer Sicht, sondern auch unter geschichtswissenschaftlicher Perspektive lohnenswert wäre, solche Foto-Bestände gezielt zu untersuchen – allein wenn ich an die DEFA-Verbotsfilme denke. Der Filmfotograf beim „Teufelskreis“ war damals übrigens Manfred Klawikowski.
Kurzum: Wir sehen, Ihr Beitrag, lieber Herr Kötzing, bietet viele Berührungspunkte zu den Bild-, Film- und Mediengeschichten, wie sie am ZZF und anderswo verhandelt werden. Dabei darf ich erwähnen, dass Andreas Kötzing auch Mitglied des Vereins Moving History ist, der jährlich den Clio-Preis für den besten historischen Film vergibt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
Wenn ich in den letzten ZZF-Jahresbericht von 2023 schaue, scheinen sich die Bild-Bearbeitungsmaßnahmen im Rahmen gehalten zu haben. Das Gruppenfoto vom Betriebsausflug ins Industriemuseum Brandenburg ist keine Kombinationsaufnahme, der Hintergrund keine Rückpro-Leinwand, es gibt Wuschelhaare und zugekniffene Augen. Ich finde, das ist gut so, und so soll es auch sein. Gleichwohl verstehe ich auch, dass niemand unvorteilhaft verewigt werden will.
In diesem Sinne, lieber Herr Kötzing, sollten wir sehen, dass gleich unsere Hemden gut sitzen und die Hosen nicht allzu viele Falten schlagen, wenn ich Sie nach vorn bitten werde, um die Urkunde entgegenzunehmen, und ein Foto für den Jahresbericht aufgenommen wird.
Herzlichen Glückwunsch zum Preis!