von Julius Redzinski

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12. März 2025

Es gab wohl nur wenige Filme im Programm der diesjährigen Berlinale, die eine passendere filmische Begleitung zum 23. Februar 2025 geboten hätten. Nach der erfüllten Bürgerpflicht im Wahllokal in einer Zeit, in der uns demokratische Gewissheiten, die seit 1949 als Grundkonsens galten, abhanden zukommen drohen, erinnerte der Dokumentarfilm Colosal der Filmemacherin Nayibe Tavares-Abel umso eindrücklicher daran, in welch glücklicher Lage wir uns hier eigentlich befinden, in Freiheit unseren Willen in demokratischen Wahlen kundzutun. Zugleich fragt der Film nach dem ganz persönlichen Verhältnis eines/einer jeden zur Geschichte und dem, was aus der Geschichte folgt. Damit bearbeitet die Regisseurin Problemstellungen, die weit über das Fallbeispiel im Film hinausreichen und an vielen Orten dieser Tage hochaktuell sind.

 

„Nur beobachten, nicht sprechen“

Nayibe Tavares-Abel beschäftigt sich in ihrem Debütfilm Colosal ausgehend von der eigenen Familiengeschichte mit der politischen Geschichte der Dominikanischen Republik von der Mitte des 20. Jahrhunderts bis heute, insbesondere um die hochumstrittene Wahl von 1990, bei der sich der Diktator Joaquín Balaguer mit Wahlbetrug im Amt hielt.

In der ersten Einstellung des Films sitzt die Filmemacherin in einem leicht wippenden Schaukelstuhl vor einer Wand, an der sie die Stammbäume der Familien Abel und Tavares in einer Collage ausbreitet. So wie der Schaukelstuhl wippt, schwingen die in der Folge ausgebreiteten Narrative hin und her, je nachdem wie die Interviewpartner:innen – Familienmitglieder, historische Akteur:innen und Beobachter:innen sowie einfache Bürger:innen, die Tavares-Abel auf der Straße befragt – persönlich zu den historischen Ereignissen stehen. Den dem Film zugrundeliegenden persönlichen Impuls führt Tavares-Abel auf zwei Ebenen ein: Zum einen erzählt sie davon, wie ihr in einem Schulbuch der Name ihres Großvaters väterlicherseits, Froilán Tavares, als in den Wahlbetrug 1990 verwickelter Vorsitzender der Wahlkommission begegnete und sie in der Folge wissen wollte, was sich wirklich zugetragen hat. Zum anderen war sie bei der annullierten Wahl in der Dominikanischen Republik im Jahr 2020 selbst als Wahlbeobachterin aktiv. Das Filmmaterial zeigt Tavares-Abel in dieser Rolle, als ihr, nachdem sie die Bewertung eines Stimmzettels kritisiert hat, klar gemacht wird, welche Funktion sie innehaben soll: „Nur beobachten, nicht sprechen.“

 

 

Gewebe aus „Halbwahrheiten und Schweigen“

Aber nicht nur väterlicherseits ist die Familie der Regisseurin in die Geschichte des Landes verstrickt. Der Großonkel mütterlicherseits, Amin Abel, wurde 1970 wegen seinem Aktivismus in der Studentenbewegung und seinem Kampf im Widerstand gegen das Regime von Joaquín Balaguer, der von 1966 bis 1978 und dann noch einmal von 1986 bis 1996 als Verbündeter des ehemaligen Diktators Trujillo regierte, getötet. Er war einer von Tausenden Opfern des Regimes und die Wunden sitzen immer noch tief. Der Großvater mütterlicherseits spricht Tavares-Abel gegenüber von der Angst um seine Angehörigen, die Mutter möchte erst kein Interview führen aus Sorge, sie könne im Gefängnis landen. Die Tochter solle bitte stattdessen eine Schauspielerin anstellen. Gegen Ende des Films spricht ihre Mutter dann doch während einer Autofahrt. Die lange Arbeit an dem Film hat das Gewebe aus „Halbwahrheiten und Schweigen“, das sich in der Familie ausgebildet hatte, am Ende dann doch in Bewegung versetzt.

Die Interviews verschränkt Tavares-Abel mit Archivmaterial – Fotos, Schriftstücke, historische Filmsequenzen aus der zeitgenössischen Berichterstattung –, welches sie einerseits recht konventionell zum Aufrufen des historischen Hintergrunds, vor dem sich ihre Suche nach der wahren Rolle ihres Großvaters 1990 ausbreitet, verwendet. Andererseits zeigt sie sich aber auch beim sehr persönlichen Prozess des Aneignens der Quellen. In der ersten Szene des Films schreibt sie sich selbst in das Material ein, als sie ein Foto ihrer selbst ausschneidet und in die genalogische Wandcollage einfügt, in der sich bereits historische Fotos und Dokumente befinden. Als es um den getöteten Amin Abel geht, gesteht sie, dass „es von ihr Tribut gefordert hat, ein Foto für den Stammbaum auszuwählen“. Daneben gibt es Szenen, in denen sie gemeinsam mit ihrem Bruder das Material sichtet und kommentiert. Das Flüchtige und Vergängliche des Materials verdeutlicht Tavares-Abel, wenn sie ein im Meer treibendes und versinkendes Familienfoto und ein ebenso schwimmendes Buch aus der Bibliothek ihres Großvaters zeigt. An dieser Stelle im Meer starb Mitte der 1990er-Jahre ihr Vater an einem Herzinfarkt, den sie deshalb nicht mehr mit ihren Fragen konfrontieren kann. Und dort wird auch die Vergänglichkeit des historischen Materials deutlich, das ihr noch einige Antworten geben kann. In Hinblick auf das Fotopapier hatte Tavares-Abel schon zuvor angemerkt, dass die Formen und Farben auf diesem ebenso verblassen wie die Erinnerung.

 

Filmische Meditation über das Erinnern und Vergessen

Aus dieser Konfiguration von Interviews, die nur eine sehr persönliche und beschränkte Perspektive bieten, und historischem Material, das letztendlich auch keine abschließenden Antworten liefert, ergibt sich, dass Colosal keine historische Rekonstruktion der Geschehnisse um Froilán Tavares und in dieser Hinsicht keine Klärung liefern kann. Der Film urteilt nicht, er rehabilitiert auch nicht. Er lässt die Ambiguität zu. Nicht nur die Geschehnisse von 1990 werden nicht letztgültig geklärt, es könnte auch kritisiert werden, dass der historische Hintergrund weitgehend im Dunkeln bleibt und der Film für Zuschauer:innen ohne Vorwissen deshalb schwerer verständlich wäre. Es ist aber auch nicht das Ziel des Films, den Wahlbetrug von 1990 aufzuklären oder die politische Geschichte der Dominikanischen Republik zu vermitteln. Er ist vielmehr eine Meditation über das Erinnern und Vergessen, über die Beziehung des/der Einzelnen zur Geschichte und der Frage, wie sich dies in einer (hoffnungslosen?) Gegenwart auswirkt. Und damit kann Colosal auch eine Gültigkeit weit über die Familiengeschichte der Abels und Tavares in der Dominikanischen Republik hinaus beanspruchen.

Besonders stark sind die Momente der Reflexion, die Spannungen in Tavares-Abel und in ihrer Familie offenlegen. Prägnant kristallisieren sich diese rund um die Demonstrationen gegen die annullierte Wahl 2020 heraus. Als Tavares-Abel bei einem Familientreffen ankündigt, sich der Demonstration anzuschließen, lacht ihr Großvater, will ihr aber auch die Hoffnung nicht nehmen. Die Großmutter fährt sie zum Sitz der Wahlkommission und schließt sich der Demonstration auch selbst an, ihr Mann weiß davon von nichts. Es ist ein besonders intimer Moment des Verständigens zweier Frauen über Generationen hinweg, dem man in diesem Moment beiwohnt. Es ist aber auch die Offenlegung der Verwerfungen, die sich durch die Familie ziehen und an denen es jederzeit zum Beben kommen könnte. Vor dem Gebäude, umgeben von Demonstrierenden, bilanziert Nayibe Tavares-Abel dann, dass sie und ihr Großvater sich wahrscheinlich auf den verschiedenen Seiten der Sperrgitters wiedergefunden hätten. Insgesamt reflektiert sie sich selbst und ihre Arbeit im Film immer wieder, was dazu beiträgt, ihn zu einem angenehmen Zuschauer:innenerlebnis werden zu lassen.

Die Interviews mit Bürger:innen, die sich den Protesten 2020 angeschlossen hatten, zeigen auf, wie gespalten die Erinnerung an den Diktator Balaguer zwischen Anerkennung der Grausamkeit seines Regimes und Verehrung als einem der Väter der Nation ausfällt. Ein resigniertes „Geschichte wiederholt sich“ ist zu vernehmen.

Dabei ist eine der größten Stärken dieses Films, dass er einen hoffnungsvollen Ton bewahrt. Der Bruder der Regisseurin engagierte sich für die Guardianes de la Democracia. Die Zuschauer:innen können gegen Ende des Films einer kleinen Versammlung beiwohnen, in der einer der Organisatoren den anwesenden Freiwilligen dankt und unterstreicht, dass ihr Engagement für die Demokratie einen Unterschied gemacht habe. Eine Botschaft, die mich gerade an dem Wahltag, an dem die AFD ihren größten Erfolg feiern konnte, im Kino sehr berührt hat. Wir haben es hier in der Hand, dass sich Geschichte nicht wiederholt, und wir haben dazu Voraussetzungen, die sich Menschen in vielen Teilen der Welt nur wünschen können.

 

Colosal, Regie: Nayibe Tavares-Abel

Dominikanische Republik 2025, Laufzeit: 76 Min.

Produktion: Costanera Cinema, Media Jibara.